Charles Lugan, ein Vorzeige-WASP, fährt mit dem Taxi durch New York, bewundert die Sterne am Nachthimmel über der Skyline von Manhattan und wird sich plötzlich bewußt, dass er eine jüdische Seele hat. So aufregend diese Entdeckung für Charles auch sein mag, seine Ehefrau, Art-Direktorin einer Szene-Zeitschrift, ist schockiert und vermutet hinter dem Wandel ihres Mannes einen Nervenzusammenbruch. Das Ende einer 27 Jahre währenden Ehe scheint unausweichlich. Wer hat den besseren Rat, der Rabbi oder der Tiefenpsychologe? (Gilgul auf der Park Avenue) Guter Rat ist auch für Benjamin Dov teuer. Er liebt seine Frau Chava über alles, aber diese dehnt die orthodoxen Enthaltungsgebote für die sogenannte "unreine Zeit" auf Zeitspannen aus, die Benjamin unendlich anmuten. Der Vorschlag seines Rabbis zur Rettung der vormals glücklichen Ehe trifft ihn gänzlich unvorbereitet: Er soll einen kurzen Abstecher in die Stadt der Sünde unternehmen und ein Bordell aufsuchen - nur Zur Linderung une rträglichen Verlangens, so der Titel dieser fulminanten Erzählung. Mißverständnisse und gewaltsame Vereinfachungen sind der Nährboden aller Komik, und Nathan Englander bestellt ihn ebenso genußvoll wie sorgfältig. Mit einer unnachahmlichen Eleganz und mit jener Folgerichtigkeit, an der man große Kunst erkennt, treibt er seine Geschichten auf Pointen zu, die den Leser noch lange nach der Lektüre beschäftigen. Nicht minder beeindruckend ist die Stilsicherheit, mit der der 28jährige Schriftsteller die Legende von den Narren von Chelm, dem jüdischen Schilda, zu neuem Leben erweckt. Oder die Kühnheit, mit der er historische Tragödien aufgreift, etwa die Hinrichtung jüdischer Schriftsteller durch Stalin: Der 27. Mann, das jüngste und letzte der Opfer, ist ein Dilettant, der aufgrund eines Irrtums der Bürokratie verhaftet und erst im Gefängnis zu einem Schriftsteller wird, der eine große Geschichte zu erzählen hat. Komik und Grauen, Alltag und Geschichte sind in neun Erzählun gen von großer Originalität verdichtet. Nathan Englander findet einen unverwechselbaren Stil, indem er mit genauer Beobachtung und schlagendem Witz im Besonderen das Allgemeine aufspürt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.1999Beim Barte des Weihnachtsrabbis
Nathan Englander lässt jüdische Welten herzhaft aufeinander stoßen · Von Burkhard Scherer
Der Taxifahrer, der Charles Morton Luger zu seiner Wohnung in der Park Avenue bringen soll, nimmt dessen erstaunte Feststellung, er sei soeben, hier im Auto, Jude geworden, ganz nonchalant: "Kein Problem. Jeder Glaube zahlt dasselbe." Charles hat aber Zweifel, dass seine Frau Sue, Art Director eines schicken Magazins, ähnlich unaufgeregt reagieren wird und verschiebt die diesbezügliche Mitteilung, um sie vorerst in weniger konfliktträchtigem Umfeld zu kommunizieren. Das beginnt bei Rabbi Salman, einer Entdeckung aus den Gelben Seiten des Telefonbuchs von New York. Der versichert ihm bei der ersten persönlichen Begegnung, unverhoffte Identitätsfindungen solcher Art gäbe es öfter, als man annehme - er selbst sei ein nahe liegendes Beispiel - und bietet sich gegen geringes Entgelt als Tutor auf dem Weg ins praktische jüdisch-orthodoxe Leben an. Dazu gehört nun einmal das Bekenntnis vor den Mitmenschen.
Bei Sue landet Charles mit seinem Versuch wie erwartet an der Mauer. Auf seinen schlichten Satz: "Ich bin Jude", schnippt sie zurück: "Gibt's eine Pointe, oder soll ich die liefern?" Eine altersgemäße Kauzigkeit aus dem Formenkreis Midlife-Crisis, Charles ist fünfundfünfzig, würde sie ihm schon zugestehen, aber orthodoxer Jude? Das hält sie für übertrieben. "Warum konntest du nicht Veganer werden? Oder liberaler Demokrat? Oder mit deiner Sekretärin schlafen?" Charles könnte darauf verweisen, dass er seine neue Identität nicht aus dem Versandhauskatalog gewählt, sondern dass sie ihn getroffen hat, aber die Basis für Verständigung mit seiner Frau ist spürbar geschwunden. Ein von ihr organisierter Krisengipfel, mit Dr. Birnbaum, Charles' ehemaligem Psychoanalytiker als ihrem Sekundanten, und Rabbi Salman an der Seite ihres Gatten, bei koscherem Essen auf Wegwerfgeschirr, löst sich schnell und ergebnislos auf, markiert durch den resigniert-kommentarlosen Rückzug der beiden Spezialisten für säkulares und religiöses Leben. Was aus Charles und Sue werden wird, bleibt offen.
In dieser Geschichte befindet man sich deutlich auf der eher heiteren Seite von Nathan Englanders "Neun Erzählungen über die komischen Seiten der menschlichen Tragödie". Daraus könnte sich Woody Allen bedienen wie auch aus der Geschichte von Rabbi Izhak Kringle aus Royal Hills. Brooklyn, der von seiner Frau alljährlich zum Jagen getragen wird, nämlich zur Aufbesserung der Haushaltskasse wochenlang in einem großen Kaufhaus in Manhattan den Weihnachtsmann geben muss. Physiognomisch ist Reb Izhak eine Idealbesetzung, denn Rauschebart und Bauch muss er sich nicht erst aus der Maske besorgen, psychisch ist er aber in dieser Saison dem Amalgam aus Discount-Christentum, Habgier, Kommerz und Heuchelei, von David Sedaris in seinen "Santa-Land Diaries" schon sensibel beschrieben, nicht mehr gewachsen und donnert eines Tages, durchaus nicht nur unter seinen von Kinderaufregung befeuchteten Oberschenkeln leidend: "Dies ist kein Job für einen Juden."
Zwei von Englanders Geschichten führen in die tödlichsten Milieus dieses Jahrhunderts, in Stalinismus und Hitlerismus. In "Der siebenundzwanzigste Mann" findet sich "eine bedeutende Auswahl der überlebenden jiddischen Schriftsteller Europas" 1952 in den Fängen von Stalin und seinem sich selbst verdauenden Terrorapparat, an verschiedenen Orten und aus unterschiedlichsten Lebenszusammenhängen eingesammelt und in ein einziges Gefängnis gebracht. Da die sowjetische Rechtsstaatlichkeit die Schuld für das feststehende Kollektivurteil, Tod durch Erschießen, erst durch Folter und das Geständnis fiktiver Verbrechen begründen muss, haben die Gefangenen einen für sie nicht absehbaren Zeitraum miteinander zu verbringen. Die Monströsität des Geschehens würde als realisierte wohl umgehend zu galoppierender Paralyse führen; die Gefangenen agieren deshalb untereinander eher wie Zufallsbekanntschaften auf einem Ausflugsdampfer, der mit unbekanntem Ziel den Fluss des Lebens befährt.
In "Die Akrobaten" lässt Englander zwanzig Todgeweihte den falschen Zug besteigen, nicht den, der sie wie alle Bewohner des Gettos von Chelm ins Vernichtungslager bringen wird, sondern den, der dahinter wartet. Sie gehören zur Minderheit der strenggläubigen Mahmirim und setzen sich nur deshalb von den zahlreichen Mekyl ab, um nicht durch den Kontakt mit dieser eher sinnenfrohen Lebensrichtung ihre eigene Reinheit zu gefährden. Nun befinden sie sich unverhofft in einem Zug, der eine durchmischte Fronttheatertruppe zum nächsten Auftrittsort transportiert. Bis er ankommt, ist aus den Mahmirim eine Akrobatengruppe geworden, die versucht, die dunkel erinnerte Artistik eines Wanderzirkus mit den sehr beschränkten eigenen Mitteln nachzustellen. Zumindest bis zur ersten Vorführung gereicht die Charade zur Rettung, die Darbietung wird mit irritierter Heiterkeit aufgenommen.
Eine Geschichte fällt stilistisch aus dem Rahmen und qualitativ ab. Sie ist offenbar autobiografisch gefärbt, der Versuch, einen in Israel in unmittelbarer Umgebung erlebten terroristischen Anschlag literarisch zu verarbeiten, und das wohl in kurzem zeitlichen Abstand, denn hier ist der Ton teilweise so grell wie der der von Englander gehörten und gefühlten drei Detonationen. Sonst aber meistert Englander seine sehr unterschiedlichen Stoffe mit großer Virtuosität und Ökonomie. Das gilt auch für die vier weiteren Geschichten, die in unseren Tagen im jüdischen Milieu von Brooklyn oder in Jerusalem spielen, wo etwa Ruchama, die sonst Perücken für die Frauen herstellt, die sich aus religiösen Gründen das Haupthaar gänzlich scheren lassen, einem Blumenboten für 4000 Dollar seine Locke abkauft, um sich selbst einen Kopfschmuck zu knüpfen, der so wirken soll wie das Haar des Modells aus der Shampooreklame, nämlich Aufsehen erregend bis zum Verkehrsstau. Oder die Geschichte von Rabbi Dow Benjamin, der "zur Linderung unerträglichen Verlangens" den Besuch bei einer Prostituierten erlaubt, um die durch monatelange Verweigerung seiner Frau gefährdete Ehe zu stabilisieren. Der aber weiß nach erreichter Linderung mit den endlich wieder beginnenden erotischen Avancen seiner Gattin nichts anzufangen, weil ihn seither eine venerische Krankheit plagt.
Über Nathan Englander ist zu erfahren, dass er - erstaunlicherweise erst - neunundzwanzig Jahre alt ist, in New York eine streng jüdische Erziehung genoss und inzwischen in Israel lebt, offensichtlich in Distanz zu seinem ehemaligen Umfeld, gleichzeitig aber mit nicht-denunziatorischer Empathie für diese eher hermetische Welt. Mit ihm betritt ein Autor die literarische Bühne, von dem man wünscht, dass er lange darauf bleiben wird.
Nathan Englander: "Zur Linderung unerträglichen Verlangens". Neun Erzählungen über die komische Seite der menschlichen Tragödie. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Martin Richter. Europa Verlag, Hamburg/Wien 1999. 255 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Nathan Englander lässt jüdische Welten herzhaft aufeinander stoßen · Von Burkhard Scherer
Der Taxifahrer, der Charles Morton Luger zu seiner Wohnung in der Park Avenue bringen soll, nimmt dessen erstaunte Feststellung, er sei soeben, hier im Auto, Jude geworden, ganz nonchalant: "Kein Problem. Jeder Glaube zahlt dasselbe." Charles hat aber Zweifel, dass seine Frau Sue, Art Director eines schicken Magazins, ähnlich unaufgeregt reagieren wird und verschiebt die diesbezügliche Mitteilung, um sie vorerst in weniger konfliktträchtigem Umfeld zu kommunizieren. Das beginnt bei Rabbi Salman, einer Entdeckung aus den Gelben Seiten des Telefonbuchs von New York. Der versichert ihm bei der ersten persönlichen Begegnung, unverhoffte Identitätsfindungen solcher Art gäbe es öfter, als man annehme - er selbst sei ein nahe liegendes Beispiel - und bietet sich gegen geringes Entgelt als Tutor auf dem Weg ins praktische jüdisch-orthodoxe Leben an. Dazu gehört nun einmal das Bekenntnis vor den Mitmenschen.
Bei Sue landet Charles mit seinem Versuch wie erwartet an der Mauer. Auf seinen schlichten Satz: "Ich bin Jude", schnippt sie zurück: "Gibt's eine Pointe, oder soll ich die liefern?" Eine altersgemäße Kauzigkeit aus dem Formenkreis Midlife-Crisis, Charles ist fünfundfünfzig, würde sie ihm schon zugestehen, aber orthodoxer Jude? Das hält sie für übertrieben. "Warum konntest du nicht Veganer werden? Oder liberaler Demokrat? Oder mit deiner Sekretärin schlafen?" Charles könnte darauf verweisen, dass er seine neue Identität nicht aus dem Versandhauskatalog gewählt, sondern dass sie ihn getroffen hat, aber die Basis für Verständigung mit seiner Frau ist spürbar geschwunden. Ein von ihr organisierter Krisengipfel, mit Dr. Birnbaum, Charles' ehemaligem Psychoanalytiker als ihrem Sekundanten, und Rabbi Salman an der Seite ihres Gatten, bei koscherem Essen auf Wegwerfgeschirr, löst sich schnell und ergebnislos auf, markiert durch den resigniert-kommentarlosen Rückzug der beiden Spezialisten für säkulares und religiöses Leben. Was aus Charles und Sue werden wird, bleibt offen.
In dieser Geschichte befindet man sich deutlich auf der eher heiteren Seite von Nathan Englanders "Neun Erzählungen über die komischen Seiten der menschlichen Tragödie". Daraus könnte sich Woody Allen bedienen wie auch aus der Geschichte von Rabbi Izhak Kringle aus Royal Hills. Brooklyn, der von seiner Frau alljährlich zum Jagen getragen wird, nämlich zur Aufbesserung der Haushaltskasse wochenlang in einem großen Kaufhaus in Manhattan den Weihnachtsmann geben muss. Physiognomisch ist Reb Izhak eine Idealbesetzung, denn Rauschebart und Bauch muss er sich nicht erst aus der Maske besorgen, psychisch ist er aber in dieser Saison dem Amalgam aus Discount-Christentum, Habgier, Kommerz und Heuchelei, von David Sedaris in seinen "Santa-Land Diaries" schon sensibel beschrieben, nicht mehr gewachsen und donnert eines Tages, durchaus nicht nur unter seinen von Kinderaufregung befeuchteten Oberschenkeln leidend: "Dies ist kein Job für einen Juden."
Zwei von Englanders Geschichten führen in die tödlichsten Milieus dieses Jahrhunderts, in Stalinismus und Hitlerismus. In "Der siebenundzwanzigste Mann" findet sich "eine bedeutende Auswahl der überlebenden jiddischen Schriftsteller Europas" 1952 in den Fängen von Stalin und seinem sich selbst verdauenden Terrorapparat, an verschiedenen Orten und aus unterschiedlichsten Lebenszusammenhängen eingesammelt und in ein einziges Gefängnis gebracht. Da die sowjetische Rechtsstaatlichkeit die Schuld für das feststehende Kollektivurteil, Tod durch Erschießen, erst durch Folter und das Geständnis fiktiver Verbrechen begründen muss, haben die Gefangenen einen für sie nicht absehbaren Zeitraum miteinander zu verbringen. Die Monströsität des Geschehens würde als realisierte wohl umgehend zu galoppierender Paralyse führen; die Gefangenen agieren deshalb untereinander eher wie Zufallsbekanntschaften auf einem Ausflugsdampfer, der mit unbekanntem Ziel den Fluss des Lebens befährt.
In "Die Akrobaten" lässt Englander zwanzig Todgeweihte den falschen Zug besteigen, nicht den, der sie wie alle Bewohner des Gettos von Chelm ins Vernichtungslager bringen wird, sondern den, der dahinter wartet. Sie gehören zur Minderheit der strenggläubigen Mahmirim und setzen sich nur deshalb von den zahlreichen Mekyl ab, um nicht durch den Kontakt mit dieser eher sinnenfrohen Lebensrichtung ihre eigene Reinheit zu gefährden. Nun befinden sie sich unverhofft in einem Zug, der eine durchmischte Fronttheatertruppe zum nächsten Auftrittsort transportiert. Bis er ankommt, ist aus den Mahmirim eine Akrobatengruppe geworden, die versucht, die dunkel erinnerte Artistik eines Wanderzirkus mit den sehr beschränkten eigenen Mitteln nachzustellen. Zumindest bis zur ersten Vorführung gereicht die Charade zur Rettung, die Darbietung wird mit irritierter Heiterkeit aufgenommen.
Eine Geschichte fällt stilistisch aus dem Rahmen und qualitativ ab. Sie ist offenbar autobiografisch gefärbt, der Versuch, einen in Israel in unmittelbarer Umgebung erlebten terroristischen Anschlag literarisch zu verarbeiten, und das wohl in kurzem zeitlichen Abstand, denn hier ist der Ton teilweise so grell wie der der von Englander gehörten und gefühlten drei Detonationen. Sonst aber meistert Englander seine sehr unterschiedlichen Stoffe mit großer Virtuosität und Ökonomie. Das gilt auch für die vier weiteren Geschichten, die in unseren Tagen im jüdischen Milieu von Brooklyn oder in Jerusalem spielen, wo etwa Ruchama, die sonst Perücken für die Frauen herstellt, die sich aus religiösen Gründen das Haupthaar gänzlich scheren lassen, einem Blumenboten für 4000 Dollar seine Locke abkauft, um sich selbst einen Kopfschmuck zu knüpfen, der so wirken soll wie das Haar des Modells aus der Shampooreklame, nämlich Aufsehen erregend bis zum Verkehrsstau. Oder die Geschichte von Rabbi Dow Benjamin, der "zur Linderung unerträglichen Verlangens" den Besuch bei einer Prostituierten erlaubt, um die durch monatelange Verweigerung seiner Frau gefährdete Ehe zu stabilisieren. Der aber weiß nach erreichter Linderung mit den endlich wieder beginnenden erotischen Avancen seiner Gattin nichts anzufangen, weil ihn seither eine venerische Krankheit plagt.
Über Nathan Englander ist zu erfahren, dass er - erstaunlicherweise erst - neunundzwanzig Jahre alt ist, in New York eine streng jüdische Erziehung genoss und inzwischen in Israel lebt, offensichtlich in Distanz zu seinem ehemaligen Umfeld, gleichzeitig aber mit nicht-denunziatorischer Empathie für diese eher hermetische Welt. Mit ihm betritt ein Autor die literarische Bühne, von dem man wünscht, dass er lange darauf bleiben wird.
Nathan Englander: "Zur Linderung unerträglichen Verlangens". Neun Erzählungen über die komische Seite der menschlichen Tragödie. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Martin Richter. Europa Verlag, Hamburg/Wien 1999. 255 S., geb., 36,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 17.07.2008Der orthodoxe Kummer
Nathan Englanders köstliche Erzählungen „Zur Linderung unerträglichen Verlangens”
Nicht der Roman „Das Ministerium für besondere Fälle” hat dem 1970 geborenen New Yorker Nathan Englander in den USA den Ruf eines der größten Talente der gegenwärtigen amerikanischen Literatur eingebracht. Es war der schon neun Jahre alte Erzählband „Zur Linderung unerträglichen Verlangens”, der jetzt parallel zum Roman auf Deutsch erschienen ist. Man kann, gerade nach den ersten Erzählungen, den Erfolg verstehen. Schon „Der siebenundzwanzigste Mann” hat wenig mit dem zu tun, was amerikanische Stories traditionellerweise ausmacht. Es ist keine trocken-seelenvolle Alltagsgeschichte, eher eine Groteske in außergewöhnlichem Ambiente, spielt sie doch in einem stalinistischen Gefängnis, in dem sich 26 bekannte Schriftsteller jiddischer Sprache wiederfinden, einer Laune des Diktators gemäß.
Jedes Detail der Erzählung, so Englander, ist erfunden. Aber die Verhaftung der jiddischen Schriftsteller fand 1952 statt. Meist waren es renommierte Autoren, die sich untereinander kannten. Nur der siebenundzwanzigste der Geschichte, Pinchas Pelovitz, ein Hungerleider, absolut unbekannt, ist von Englander erfunden. Doch an diesem Tag wird Pelowitz im jiddischen Teil des Literaturbetriebs der Sowjetunion mit einer Geschichte berühmt.
Mit nur zwei, drei Strichen gelingt es Englander, in seinen Stories jeweils eine ganz und gar verrückte Welt zu schaffen, in der alles Weitere sich mehr oder minder logisch ergibt, aber immer vom originell-abwegigen Charakter des Sujets geprägt bleibt. In der zweiten Erzählung weiß Charles Luger, ein gut verdienender protestantischer New Yorker Anwalt, auf dem Rücksitz eines Taxis auf einmal, dass seine Seele jüdisch ist. Nicht er, seine Seele, und zwar orthodox. Plötzlich muss Luger am Schabbes stundenlang Lift fahren, weil er jemanden braucht, der ihm nach der erlaubten Andeutung den Knopf drückt. Lugers Frau, bei einem Lifestyle-Magazin angestellt, verzweifelt. Sie organisiert ein koscheres Essen mit Lugers ehemaligem Psychoanalytiker Birnbaum und seinem, ebenfalls „konvertierten” neuen Rabbi, der den Analytiker nicht ausstehen kann, was zum kuriosen Showdown im Grabenkampf um Lugers Seele mündet.
Es gibt bei Englander auch einen widerwilligen jüdischen Weihnachtsmann im christlich-kapitalistischen Kaufhaus. Oder die Geschichte der Narren von Chelm, in der nie vom KZ dort die Rede ist, in der es am Ende aber auch keine Engel gibt, „die, wie es ihre Art ist, auf Hände warten, die sich aus Schornsteinen in aschfarbene Himmel strecken”.
Aus der Talmud-Schule
In jeder Geschichte entwickelt Englander eine eigene Atmosphäre. Doch woran liegt es, dass sich nach einer Weile das Gefühl einstellen will, das kenne man jetzt? Fast scheint es, als habe sich Englander nach den exzentrischen Anfängen manchmal damit zufriedengegeben, in ein traditionelleres jüdisches Erzählen zu fallen, sich der Führung eines Bashevis Singer anzuvertrauen. Je länger der Band fortschreitet, desto absehbarer wirken die Plots, Motive und Scherze, was aber auch eine Folge der aufgebauten, hohen Erwartungshaltung ist. Eine Geschichte, in der Englander sich auf die Spur der Psychologie einer Perückenmacherin macht, überrascht, eine zweite, in der die berühmten orthodoxen Haare eine Rolle spielen, wirkt schon redundant.
Nun muss man wissen, dass Englander kein durchschnittlich aufgeklärter jüdisch-amerikanischer Hochschulabsolvent ist, sondern tatsächlich eine streng orthodoxe Jugend hinter sich hat, in der er die Kippa trug, eine Talmud-Schule besuchte und dazu bestimmt war, einer der vielbetuschelten orthodoxen Börsenhändler der Wall Street zu werden. Doch je mehr Nathan fernsah, je mehr er sich religiösen Fragen stellte, die ihm keiner beantworten konnte, desto fragwürdiger wurde ihm das Glaubensgebäude. Englander begann, Camus zu lesen, studierte Kunst und verbrachte sein erstes Auslandsjahr, das auch seine erste Reise bedeutete, in Israel. Das war die Entscheidung im Ringen um Nathan Englanders Seele, denn den Schock, im Heiligen Land das Leben areligiöser Juden verfolgen zu müssen, konnte keine religiöse Nachbehandlung mehr kurieren.
Vor diesem Hintergrund billigt man Erzählungen von bigotten Rabbis oder der vom schüchternen Orthodoxen, der bei einer Prostituierten seine Ehe retten will, weil seine Frau von seinem Begehren schockiert ist, mehr Leidenshintergrund zu. Die Strategie scheint zu klappen, aber anders als der fromme Mann es sich dachte. Er ist nicht etwa befreit und seiner Triebe ledig, er ist aber auch nicht zum Sittenstrolch verkommen, nein, vor lauter schlechtem Gewissen begegnet er seiner Frau so zurückhaltend, wie sie zuvor ihm, was wiederum. . .
Manchmal ist es erstaunlich, was es bewirkt, wie und wo ein Buch erscheint: Martin Richters schöne Übersetzung ist schon einmal 1999, parallel zur amerikanischen Erfolgsausgabe, beim Hamburger Europa Verlag erschienen. Damals wollte sie keiner lesen. Man kann hoffen, dass es der „Linderung unerträglichen Verlangens” beim neuen Verlag besser ergeht. HANS-PETER KUNISCH
NATHAN ENGLANDER: Zur Linderung unerträglichen Verlangens. Erzählungen. Aus dem Englischen von Martin Richter. Sammlung Luchterhand, München 2008. 239 Seiten, 9 Euro.
Frömmigkeit und Großstadt müssen sich nicht ausschließen Foto: Alex Majoli/Magnum
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Nathan Englanders köstliche Erzählungen „Zur Linderung unerträglichen Verlangens”
Nicht der Roman „Das Ministerium für besondere Fälle” hat dem 1970 geborenen New Yorker Nathan Englander in den USA den Ruf eines der größten Talente der gegenwärtigen amerikanischen Literatur eingebracht. Es war der schon neun Jahre alte Erzählband „Zur Linderung unerträglichen Verlangens”, der jetzt parallel zum Roman auf Deutsch erschienen ist. Man kann, gerade nach den ersten Erzählungen, den Erfolg verstehen. Schon „Der siebenundzwanzigste Mann” hat wenig mit dem zu tun, was amerikanische Stories traditionellerweise ausmacht. Es ist keine trocken-seelenvolle Alltagsgeschichte, eher eine Groteske in außergewöhnlichem Ambiente, spielt sie doch in einem stalinistischen Gefängnis, in dem sich 26 bekannte Schriftsteller jiddischer Sprache wiederfinden, einer Laune des Diktators gemäß.
Jedes Detail der Erzählung, so Englander, ist erfunden. Aber die Verhaftung der jiddischen Schriftsteller fand 1952 statt. Meist waren es renommierte Autoren, die sich untereinander kannten. Nur der siebenundzwanzigste der Geschichte, Pinchas Pelovitz, ein Hungerleider, absolut unbekannt, ist von Englander erfunden. Doch an diesem Tag wird Pelowitz im jiddischen Teil des Literaturbetriebs der Sowjetunion mit einer Geschichte berühmt.
Mit nur zwei, drei Strichen gelingt es Englander, in seinen Stories jeweils eine ganz und gar verrückte Welt zu schaffen, in der alles Weitere sich mehr oder minder logisch ergibt, aber immer vom originell-abwegigen Charakter des Sujets geprägt bleibt. In der zweiten Erzählung weiß Charles Luger, ein gut verdienender protestantischer New Yorker Anwalt, auf dem Rücksitz eines Taxis auf einmal, dass seine Seele jüdisch ist. Nicht er, seine Seele, und zwar orthodox. Plötzlich muss Luger am Schabbes stundenlang Lift fahren, weil er jemanden braucht, der ihm nach der erlaubten Andeutung den Knopf drückt. Lugers Frau, bei einem Lifestyle-Magazin angestellt, verzweifelt. Sie organisiert ein koscheres Essen mit Lugers ehemaligem Psychoanalytiker Birnbaum und seinem, ebenfalls „konvertierten” neuen Rabbi, der den Analytiker nicht ausstehen kann, was zum kuriosen Showdown im Grabenkampf um Lugers Seele mündet.
Es gibt bei Englander auch einen widerwilligen jüdischen Weihnachtsmann im christlich-kapitalistischen Kaufhaus. Oder die Geschichte der Narren von Chelm, in der nie vom KZ dort die Rede ist, in der es am Ende aber auch keine Engel gibt, „die, wie es ihre Art ist, auf Hände warten, die sich aus Schornsteinen in aschfarbene Himmel strecken”.
Aus der Talmud-Schule
In jeder Geschichte entwickelt Englander eine eigene Atmosphäre. Doch woran liegt es, dass sich nach einer Weile das Gefühl einstellen will, das kenne man jetzt? Fast scheint es, als habe sich Englander nach den exzentrischen Anfängen manchmal damit zufriedengegeben, in ein traditionelleres jüdisches Erzählen zu fallen, sich der Führung eines Bashevis Singer anzuvertrauen. Je länger der Band fortschreitet, desto absehbarer wirken die Plots, Motive und Scherze, was aber auch eine Folge der aufgebauten, hohen Erwartungshaltung ist. Eine Geschichte, in der Englander sich auf die Spur der Psychologie einer Perückenmacherin macht, überrascht, eine zweite, in der die berühmten orthodoxen Haare eine Rolle spielen, wirkt schon redundant.
Nun muss man wissen, dass Englander kein durchschnittlich aufgeklärter jüdisch-amerikanischer Hochschulabsolvent ist, sondern tatsächlich eine streng orthodoxe Jugend hinter sich hat, in der er die Kippa trug, eine Talmud-Schule besuchte und dazu bestimmt war, einer der vielbetuschelten orthodoxen Börsenhändler der Wall Street zu werden. Doch je mehr Nathan fernsah, je mehr er sich religiösen Fragen stellte, die ihm keiner beantworten konnte, desto fragwürdiger wurde ihm das Glaubensgebäude. Englander begann, Camus zu lesen, studierte Kunst und verbrachte sein erstes Auslandsjahr, das auch seine erste Reise bedeutete, in Israel. Das war die Entscheidung im Ringen um Nathan Englanders Seele, denn den Schock, im Heiligen Land das Leben areligiöser Juden verfolgen zu müssen, konnte keine religiöse Nachbehandlung mehr kurieren.
Vor diesem Hintergrund billigt man Erzählungen von bigotten Rabbis oder der vom schüchternen Orthodoxen, der bei einer Prostituierten seine Ehe retten will, weil seine Frau von seinem Begehren schockiert ist, mehr Leidenshintergrund zu. Die Strategie scheint zu klappen, aber anders als der fromme Mann es sich dachte. Er ist nicht etwa befreit und seiner Triebe ledig, er ist aber auch nicht zum Sittenstrolch verkommen, nein, vor lauter schlechtem Gewissen begegnet er seiner Frau so zurückhaltend, wie sie zuvor ihm, was wiederum. . .
Manchmal ist es erstaunlich, was es bewirkt, wie und wo ein Buch erscheint: Martin Richters schöne Übersetzung ist schon einmal 1999, parallel zur amerikanischen Erfolgsausgabe, beim Hamburger Europa Verlag erschienen. Damals wollte sie keiner lesen. Man kann hoffen, dass es der „Linderung unerträglichen Verlangens” beim neuen Verlag besser ergeht. HANS-PETER KUNISCH
NATHAN ENGLANDER: Zur Linderung unerträglichen Verlangens. Erzählungen. Aus dem Englischen von Martin Richter. Sammlung Luchterhand, München 2008. 239 Seiten, 9 Euro.
Frömmigkeit und Großstadt müssen sich nicht ausschließen Foto: Alex Majoli/Magnum
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