Produktdetails
- Verlag: Herder, Freiburg
- Neuaufl.
- Seitenzahl: 526
- Abmessung: 235mm
- Gewicht: 860g
- ISBN-13: 9783451273698
- ISBN-10: 3451273691
- Artikelnr.: 08912026
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000Schoflesse der Gesinnung
Eberhard Schockenhoff rügt wie gedruckt
Zur Lüge verdammt ist natürlich niemand. Die Titelfrage ist eine rhetorische. Sie will Kritiker zum Schweigen bringen, indem sie sie zwingt, allgemein anerkannte Sätze anzuerkennen, obwohl sie den Stachel des Zweifels in sich tragen. Kein unproblematischer Titel für ein Buch über "die Ethik der Wahrheit", aber ein fruchtbarer, wie die Lektüre zeigt. Der Titel verschiebt und verschärft nur geringfügig die Behauptung der Evolutionsbiologie und der Verhaltensforschung, der Kulturgeschichte, der Soziologie und der Psychologie: "Wir müssen lügen!" Nützen nicht alle Lebewesen List und Täuschung im Überlebenskampf? Eberhard Schockenhoff hält das für ein Mißverständnis. Die Tier/Mensch-Analogie sei unzulässig, weil der Mensch in vernünftiger Freiheit entscheiden könne. List und Täuschung dürften nicht mit Lüge gleichgesetzt werden. Schließlich sei es ein naturalistischer Fehlschluß, aus Statistik und Empirie auf moralische Normen zu schließen.
Schockenhoff rollt das Problem deshalb völlig von vorn auf. Vorn sind für ihn Augustinus und Thomas von Aquin, nicht die Griechen; die hätten die Lüge nicht systematisch, sondern nur kasuistisch diskutiert. Augustinus habe die Lüge als Gegensatz zur einen Wahrheit Gottes begriffen und daraus ihre Verwerflichkeit ableiten, das Paradox der Notlüge allerdings nicht auflösen können. Zu ausgewogeneren Urteilen für die alltäglichen Konfliktfälle habe erst Thomas von Aquin mit der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit gefunden. Die Bezugnahme auf Wahrhaftigkeit als eine Tugend habe es Thomas erlaubt, menschliche Schwäche in das Urteil über die Lüge einzubeziehen.
Gemeinsam ist Augustinus und Thomas die Wahrheit Gottes als Fluchtpunkt ihres Denkens. Deshalb mußte sich die Ethik-Diskussion grundlegend ändern, als sich die von Zentraleuropa ausgehende westliche Gesellschaft nach der Reformation säkularisierte. Leider überspringt Schockenhoff das Phänomen, daß sich die Säkularisierung zunächst auf Europa beschränkte und religiöse Ursachen hatte. Er knüpft einfach an die Versuche Grotius' und Pufendorfs an, das Verbot der Lüge säkular zu rechtfertigen: Nicht auf die Falschheit oder Richtigkeit der Aussage komme es an, sondern darauf, ob der Adressat ein natürliches oder vertraglich erworbenes Recht auf Kenntnis unserer wirklichen Meinung habe. Für diese ungemein praktische Position ist die Notlüge natürlich kein Problem mehr. Im Vergleich mit den Staatstheoretikern des siebzehnten Jahrhunderts hatten es die Moraltheologen mit ihrer Fixierung auf die göttliche Wahrheit erheblich schwerer. Erst der ethische Rigorismus Kants erlaubte ihnen wieder, ihre traditionellen Abstufungen des Lügeverbotes als praktischere und humanere Lösung anzubieten.
Schockenhoff hält die historischen Lösungsansätze insgesamt für unzureichend. Er will ethische Differenzierungen aus dem biblischen Liebesgebot entwickeln: "Die Wahrheit darf nur in der Liebe gesagt werden, doch die Liebe soll auch dort noch herrschen, wo die Wahrheit zeitweilig oder für immer verstummen muß." Nach dieser Maxime analysiert er dann "Wahrheit und Wahrhaftigkeit" in der Wissenschaft, in den Massenmedien, im Recht und in der Medizin. In einem Epilog beschreibt er, "wie gläubige Menschen die Verpflichtung zu Wahrheit und Wahrhaftigkeit in ihrer persönlichen Lebensführung und in ihrem beruflichen Handeln im Licht des biblischen Gottesglaubens deuten und tiefer verstehen können". Letztlich entscheidet - nicht nur in der Medizin - die Einstellung zur Endlichkeit, zum Tod. Versteht man den Tod als die Schwelle zur "Freude, in Gottes Wahrheit zu leben", wird deutlich, daß "alle menschliche Wahrheitssuche trotz ihrer Irrtumsanfälligkeit im Raum der göttlichen Wahrheit steht".
Ein Lehr- und Handbuch der katholischen Moraltheologie also, dessen Qualität man schon daran erkennen kann, daß sich die Argumentation des Verfassers spielend leicht nacherzählen läßt. Das Problem des Bandes besteht darin, daß man ihn auch mit nichtkatholischen Augen lesen kann. Dann tauchen Zweifel auf, ob Schockenhoff der Anschluß an die säkulare Diskussion wirklich gelungen ist. Spezifisch katholisch ist zum Beispiel, daß Schockenhoff Moral für prinzipiell unveränderlich halten muß und nur Fortschritte in ihrer Erkenntnis zulassen kann, weil er sie mit der Wahrheit des einen und ewigen Gottes verbindet. Theologisch ist das zulässig und geboten. Säkular neigt man eher dazu, Moral in Abhängigkeit von der Gesellschaftsstruktur zu denken. Adelsgesellschaften beispielsweise benötigen eine grundsätzlich andere Moral als Gleichheitsgesellschaften, und diese Differenz kann man nicht mit "situationsadäquater Wahrheit" überbrücken.
Aber lassen wir alle erkenntnistheoretischen Bedenken beiseite. Schockenhoff meint, der natürliche Sinn der Sprache seien Mitteilung und Verständigung, und die Natur des Menschen sei die Gemeinschaftsbezogenheit. Die Lüge verletze beides. Dazu kann einem Protestanten nur einfallen, daß Luther die Welt ein Wirtshaus genannt hat, in dem die Politik eine wenigstens äußerliche Ordnung schaffen muß, oder daß die evangelischen Fürsten auf dem Reichstag zu Speyer 1529 gegen die katholische Mehrheit mit der Begründung protestiert haben, "das in den sachen gottes ere und unser selen haile und seligkeit belangend ain jeglicher fur sich selbs vor gott steen und rechenschaft geben mus". Das heißt, der Mensch ist allein - und seit Heidegger nicht mehr nur theologisch. Die "natürliche Gemeinschaftsbezogenheit" ist ein ziemlich schroffer "naturalistischer Fehlschluß", wenn man nicht von einer göttlichen Schöpfungsordnung aus denkt.
Die moderne Sozialtheorie hat sich auch längst von der Gemeinschaftsbezogenheit verabschiedet. Sie knüpft entweder an die Umwelt des einzelnen, also an soziale Systeme an oder an seinen wohlverstandenen Eigennutz. Natürlich hat Schockenhoff recht, wenn er betont, dieser Ansatz schließe Moraltheologie nicht aus. Systemorientierung und Eigennutz lassen jeden nach seiner Fasson selig werden und warnen nur davor, sich die Köpfe an der Realität zu stoßen. Das Problem ist aber nicht die eigene Seligkeit, sondern die der anderen, sind die Anschlüsse an die nichtkirchliche Welt, um die es Schockenhoff gerade geht. Für die Verbesserung dieser Anschlüsse muß die katholische Moraltheologie noch einiges tun.
Eberhard Schockenhoff: "Zur Lüge verdammt?" Politik, Medien, Medizin, Justiz, Wissenschaft und die Ethik der Wahrheit. Herder Verlag, Freiburg i. Br. 2000. 526 S., geb., 68,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eberhard Schockenhoff rügt wie gedruckt
Zur Lüge verdammt ist natürlich niemand. Die Titelfrage ist eine rhetorische. Sie will Kritiker zum Schweigen bringen, indem sie sie zwingt, allgemein anerkannte Sätze anzuerkennen, obwohl sie den Stachel des Zweifels in sich tragen. Kein unproblematischer Titel für ein Buch über "die Ethik der Wahrheit", aber ein fruchtbarer, wie die Lektüre zeigt. Der Titel verschiebt und verschärft nur geringfügig die Behauptung der Evolutionsbiologie und der Verhaltensforschung, der Kulturgeschichte, der Soziologie und der Psychologie: "Wir müssen lügen!" Nützen nicht alle Lebewesen List und Täuschung im Überlebenskampf? Eberhard Schockenhoff hält das für ein Mißverständnis. Die Tier/Mensch-Analogie sei unzulässig, weil der Mensch in vernünftiger Freiheit entscheiden könne. List und Täuschung dürften nicht mit Lüge gleichgesetzt werden. Schließlich sei es ein naturalistischer Fehlschluß, aus Statistik und Empirie auf moralische Normen zu schließen.
Schockenhoff rollt das Problem deshalb völlig von vorn auf. Vorn sind für ihn Augustinus und Thomas von Aquin, nicht die Griechen; die hätten die Lüge nicht systematisch, sondern nur kasuistisch diskutiert. Augustinus habe die Lüge als Gegensatz zur einen Wahrheit Gottes begriffen und daraus ihre Verwerflichkeit ableiten, das Paradox der Notlüge allerdings nicht auflösen können. Zu ausgewogeneren Urteilen für die alltäglichen Konfliktfälle habe erst Thomas von Aquin mit der Unterscheidung zwischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit gefunden. Die Bezugnahme auf Wahrhaftigkeit als eine Tugend habe es Thomas erlaubt, menschliche Schwäche in das Urteil über die Lüge einzubeziehen.
Gemeinsam ist Augustinus und Thomas die Wahrheit Gottes als Fluchtpunkt ihres Denkens. Deshalb mußte sich die Ethik-Diskussion grundlegend ändern, als sich die von Zentraleuropa ausgehende westliche Gesellschaft nach der Reformation säkularisierte. Leider überspringt Schockenhoff das Phänomen, daß sich die Säkularisierung zunächst auf Europa beschränkte und religiöse Ursachen hatte. Er knüpft einfach an die Versuche Grotius' und Pufendorfs an, das Verbot der Lüge säkular zu rechtfertigen: Nicht auf die Falschheit oder Richtigkeit der Aussage komme es an, sondern darauf, ob der Adressat ein natürliches oder vertraglich erworbenes Recht auf Kenntnis unserer wirklichen Meinung habe. Für diese ungemein praktische Position ist die Notlüge natürlich kein Problem mehr. Im Vergleich mit den Staatstheoretikern des siebzehnten Jahrhunderts hatten es die Moraltheologen mit ihrer Fixierung auf die göttliche Wahrheit erheblich schwerer. Erst der ethische Rigorismus Kants erlaubte ihnen wieder, ihre traditionellen Abstufungen des Lügeverbotes als praktischere und humanere Lösung anzubieten.
Schockenhoff hält die historischen Lösungsansätze insgesamt für unzureichend. Er will ethische Differenzierungen aus dem biblischen Liebesgebot entwickeln: "Die Wahrheit darf nur in der Liebe gesagt werden, doch die Liebe soll auch dort noch herrschen, wo die Wahrheit zeitweilig oder für immer verstummen muß." Nach dieser Maxime analysiert er dann "Wahrheit und Wahrhaftigkeit" in der Wissenschaft, in den Massenmedien, im Recht und in der Medizin. In einem Epilog beschreibt er, "wie gläubige Menschen die Verpflichtung zu Wahrheit und Wahrhaftigkeit in ihrer persönlichen Lebensführung und in ihrem beruflichen Handeln im Licht des biblischen Gottesglaubens deuten und tiefer verstehen können". Letztlich entscheidet - nicht nur in der Medizin - die Einstellung zur Endlichkeit, zum Tod. Versteht man den Tod als die Schwelle zur "Freude, in Gottes Wahrheit zu leben", wird deutlich, daß "alle menschliche Wahrheitssuche trotz ihrer Irrtumsanfälligkeit im Raum der göttlichen Wahrheit steht".
Ein Lehr- und Handbuch der katholischen Moraltheologie also, dessen Qualität man schon daran erkennen kann, daß sich die Argumentation des Verfassers spielend leicht nacherzählen läßt. Das Problem des Bandes besteht darin, daß man ihn auch mit nichtkatholischen Augen lesen kann. Dann tauchen Zweifel auf, ob Schockenhoff der Anschluß an die säkulare Diskussion wirklich gelungen ist. Spezifisch katholisch ist zum Beispiel, daß Schockenhoff Moral für prinzipiell unveränderlich halten muß und nur Fortschritte in ihrer Erkenntnis zulassen kann, weil er sie mit der Wahrheit des einen und ewigen Gottes verbindet. Theologisch ist das zulässig und geboten. Säkular neigt man eher dazu, Moral in Abhängigkeit von der Gesellschaftsstruktur zu denken. Adelsgesellschaften beispielsweise benötigen eine grundsätzlich andere Moral als Gleichheitsgesellschaften, und diese Differenz kann man nicht mit "situationsadäquater Wahrheit" überbrücken.
Aber lassen wir alle erkenntnistheoretischen Bedenken beiseite. Schockenhoff meint, der natürliche Sinn der Sprache seien Mitteilung und Verständigung, und die Natur des Menschen sei die Gemeinschaftsbezogenheit. Die Lüge verletze beides. Dazu kann einem Protestanten nur einfallen, daß Luther die Welt ein Wirtshaus genannt hat, in dem die Politik eine wenigstens äußerliche Ordnung schaffen muß, oder daß die evangelischen Fürsten auf dem Reichstag zu Speyer 1529 gegen die katholische Mehrheit mit der Begründung protestiert haben, "das in den sachen gottes ere und unser selen haile und seligkeit belangend ain jeglicher fur sich selbs vor gott steen und rechenschaft geben mus". Das heißt, der Mensch ist allein - und seit Heidegger nicht mehr nur theologisch. Die "natürliche Gemeinschaftsbezogenheit" ist ein ziemlich schroffer "naturalistischer Fehlschluß", wenn man nicht von einer göttlichen Schöpfungsordnung aus denkt.
Die moderne Sozialtheorie hat sich auch längst von der Gemeinschaftsbezogenheit verabschiedet. Sie knüpft entweder an die Umwelt des einzelnen, also an soziale Systeme an oder an seinen wohlverstandenen Eigennutz. Natürlich hat Schockenhoff recht, wenn er betont, dieser Ansatz schließe Moraltheologie nicht aus. Systemorientierung und Eigennutz lassen jeden nach seiner Fasson selig werden und warnen nur davor, sich die Köpfe an der Realität zu stoßen. Das Problem ist aber nicht die eigene Seligkeit, sondern die der anderen, sind die Anschlüsse an die nichtkirchliche Welt, um die es Schockenhoff gerade geht. Für die Verbesserung dieser Anschlüsse muß die katholische Moraltheologie noch einiges tun.
Eberhard Schockenhoff: "Zur Lüge verdammt?" Politik, Medien, Medizin, Justiz, Wissenschaft und die Ethik der Wahrheit. Herder Verlag, Freiburg i. Br. 2000. 526 S., geb., 68,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Die evolutionsbiologischen Behauptungen zum Thema Lüge hält der Autor für Unsinn, schreibt Gerd Roellecke, und beschäftigt sich zunächst mit den historischen Antworten von Augustinus und Thomas von Aquin: Aus der `Unterscheidung von Wahrheit und Wahrhaftigkeit` konnte eine Erklärung der Lüge als `menschliche Schwäche` werden; in der sich säkularisierenden Welt kam es zur protestantischen Antwort des `ethischen Rigorismus`. Aber, so der Rezensent, `Schockenhoff hält die historischen Lösungsansätze insgesamt für unzureichend` und will `ethische Differenzierungen aus dem biblischen Liebesgebot` entwickeln. Gerd Roellecke findet die Antwort Schockenhoffs jedoch problematisch, da sie von etwas ausgeht, das, wie er meint, schon längst obsolet ist: die Sprache als Schlüssel zur Natur des Menschen in seiner `Gemeinschaftsbezogenheit`. Modernere Sozialtheorie geht heutzutage aus von `Systemorientierung und Eigennutz`. Um also Anschluss zu finden an die `nichtkirchliche Welt`, so Roellecke, bleibt der katholischen Moraltheologie `noch einiges` zu tun.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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