Elisa Klapheck sucht nach den politischen Implikationen der jüdischen Theologie. Im Zentrum des Politischen steht das gewandelte Verhältnis des Menschen zu Gott. Die ersten Geschichten der Bibel präsentieren Gott noch als Despoten, der eine unbeschränkte Theokratie verlangt, während er sich später als politischer Partner des Menschen selbst an Rechtsnormen bindet. Bereits im ersten Bund mit Noah ist eine Garantie des künftigen Willkürverzichts Gottes gegenüber seinen Geschöpfen zu erkennen.Dann wiederum beschreibt die Tora die Entstehung von Rechtsverhältnissen zwischen den Menschen. Die jüdische Version der polis ist dabei der kahal, dessen Ausweitung über die einzelne Gemeinde hinaus - anders als in der griechisch-römischen Tradition - nicht zu einer vereinheitlichenden Staatsbildung führt, sondern zur dezentralen politischen Wirklichkeit der Diaspora. In die wechselhafte gesellschaftliche Realität muss Gott immer wieder neu integriert werden. Die talmudische Tradition fordert die tätige Selbstkorrektur des Menschen und führt nicht zu einer Relativierung des göttlichen Rechts, sondern zur Bestätigung der Tora als gesetzlicher Maßstab. Kennzeichnend für die religiös-säkulare Spannung des (rabbinischen) Judentums wird der produktive Konflikt mit Gott, der die jüdische Tradition zu einer Theologie der säkularen Gesellschaft weiterentwickelt.Klaphecks facettenreiche Interpretationen zeigen den Reichtum dieses Traditionsbestandes, werfen Schlaglichter auf politisch-theologische Positionen aktueller Debatten. Zu Fragen nach Ausgestaltung des egalitären Rechtsstaats, im Blick auf die Stadt als Paradigma des Politischen, zu Diskussionen um die Bundesstaatlichkeit der EU liefert die jüdische politische Theologie erstaunliche Anstöße. Die Diaspora avanciert zum Vorbild einer pluralistischen Globalisierung und sogar die prinzipielle Begründung von Frauen- und Minderheitenrechten kann aus dem Ideenreservoir des Judentums begründet werden. Sie beweist eine bemerkenswerte Relevanz für die Orientierung in gegenwärtigen politischen Krisen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.04.2023Theologie für die heutige Welt
Eine liberale Rabbinerin entwickelt ein jüdisches Verständnis des Politischen
Es ist ein Buch für Feinschmecker, das Elisa Klapheck vorgelegt hat. Tief taucht die liberale Rabbinerin der Gemeinde Frankfurt mit sieben Essays in die Hebräische Bibel ein, bewertet Nuancen, gibt Deutungshypothesen anhand linguistischer Besonderheiten des Hebräischen (Zauberhaft: So sind die hebräischen Worte für "Wüste" und "sprechen" fast gleich, was Klapheck einen Bogen zum Bund von Gott und Menschen sowie den in der Wüste gegebenen Gesetzen schlagen lässt.) Insgesamt changiert "Zur politischen Theologie des Judentums" damit zwischen einer rabbinischen Predigt mit vielen Zitaten aus der Hebräischen Bibel und einer philosophischen Argumentation. Das Buch ist ganz klar ein theologisches. Es positioniert sich in Debatten, die für manchen Leser alltagsfern wirken mögen, wo es doch Details aus der Wanderung Moses durch die Wüste wälzt und auch mal der Frage nachgeht, ob nun nur die Leviten oder doch alle Israeliten geheiligt sind. Doch das Buch ist auch ein politisches, denn Klapheck bleibt dort nicht stehen, sondern zieht aus ihren Überlegungen Schlüsse über Gleichheit und Populismus, zur globalisierten Wirtschaft, zur Europäischen Union und dem Primat des Rechtsstaates. Kurz: Sie entwickelt ein jüdisches Verständnis des Politischen.
Politisch, das ist für sie zuvorderst die Beziehung zwischen Gott und Mensch, die sich durch demokratische Grundtugenden auszeichnet. Sie kann als Basis für das Interagieren zwischen Menschen, Völkern und Staaten interpretiert werden. Die Idee, die Klapheck in kleinen Schritten entwickelt, geht so: Gott - der in der Tora oft als rachsüchtiger, zürnender Despot auftritt, der den Erdboden auftut, um Aufständische zu verschlingen oder gleich die ganze Menschheit in einer Sintflut ertränkt - arbeitet sich an "seinem" Volk Israel ab. Er wird in Kompromisse und Deals manövriert, die sein Wesen und das der Mensch-Gott-Beziehung verändern. Sie führen eine emanzipierte Beziehung: Beide haben etwas zu sagen.
Das Buch und diese Lesart der Bibel sind ein Plädoyer für Vielfalt und Diskurs. Dafür, dass die Auseinandersetzung mit Worten der Modus ist, in dem man nicht nur Konflikte zwischen Sterblichen am besten beilegt - sondern mit dem man sogar dem Ewigen etwas abtrotzen kann. So verhandelt etwa Abraham mit Gott über die Vernichtung Sodoms - und gewinnt. Am Ende dann aber wieder nicht, da er nicht einmal zehn Gerechte in der Stadt findet, weswegen nur sein Schwager gerettet wird, aber immerhin: Er hat Gottes Gerechtigkeitsvorstellung hinterfragt und ihn überzeugt, dass es nicht fair ist, Unschuldige aus Groll gegen die Schuldigen mit zu vernichten.
Angenehm anders ist der Blick auf biblische Geschichten, die auch Christen bekannt sein dürften, wenn sie ihr Altes Testament kennen. So versteht Klapheck Eva zum Beispiel nicht als Ursünderin, sondern als Verwirklicherin von Freiheit. Oder die Verwirrung der Sprachen nach dem Turmbau zu Babel nicht als Strafe, sondern als Erguss von Gottes Vielfalt unter den Menschen: "Den Menschen geschieht ein politischer Segen!"
Ein besonders erhellendes Kapitel ist das letzte, in dem Klapheck knapp das Leben in der Diaspora als wirtschaftlichen Erfolgsfaktor charakterisiert und die Halacha als dezentrale, zusammenhaltende und zugleich ultrakomplexe Rechtstradition als den jüdischen Teil der vielzitierten jüdisch-christlichen Tradition in Europa ausmacht. "Jüdisch" ist nach dieser Lesart: diskursiv, demokratisch, sozial-marktwirtschaftlich, globalisiert, aufklärerisch. Und, wie Klapheck beruhigenderweise feststellt: "Man kann auch als Nichtjude in einer jüdischen Tradition stehen." THERESA WEISS
Elisa Klapheck: Zur politischen Theologie des Judentums.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2022. 242 S., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Eine liberale Rabbinerin entwickelt ein jüdisches Verständnis des Politischen
Es ist ein Buch für Feinschmecker, das Elisa Klapheck vorgelegt hat. Tief taucht die liberale Rabbinerin der Gemeinde Frankfurt mit sieben Essays in die Hebräische Bibel ein, bewertet Nuancen, gibt Deutungshypothesen anhand linguistischer Besonderheiten des Hebräischen (Zauberhaft: So sind die hebräischen Worte für "Wüste" und "sprechen" fast gleich, was Klapheck einen Bogen zum Bund von Gott und Menschen sowie den in der Wüste gegebenen Gesetzen schlagen lässt.) Insgesamt changiert "Zur politischen Theologie des Judentums" damit zwischen einer rabbinischen Predigt mit vielen Zitaten aus der Hebräischen Bibel und einer philosophischen Argumentation. Das Buch ist ganz klar ein theologisches. Es positioniert sich in Debatten, die für manchen Leser alltagsfern wirken mögen, wo es doch Details aus der Wanderung Moses durch die Wüste wälzt und auch mal der Frage nachgeht, ob nun nur die Leviten oder doch alle Israeliten geheiligt sind. Doch das Buch ist auch ein politisches, denn Klapheck bleibt dort nicht stehen, sondern zieht aus ihren Überlegungen Schlüsse über Gleichheit und Populismus, zur globalisierten Wirtschaft, zur Europäischen Union und dem Primat des Rechtsstaates. Kurz: Sie entwickelt ein jüdisches Verständnis des Politischen.
Politisch, das ist für sie zuvorderst die Beziehung zwischen Gott und Mensch, die sich durch demokratische Grundtugenden auszeichnet. Sie kann als Basis für das Interagieren zwischen Menschen, Völkern und Staaten interpretiert werden. Die Idee, die Klapheck in kleinen Schritten entwickelt, geht so: Gott - der in der Tora oft als rachsüchtiger, zürnender Despot auftritt, der den Erdboden auftut, um Aufständische zu verschlingen oder gleich die ganze Menschheit in einer Sintflut ertränkt - arbeitet sich an "seinem" Volk Israel ab. Er wird in Kompromisse und Deals manövriert, die sein Wesen und das der Mensch-Gott-Beziehung verändern. Sie führen eine emanzipierte Beziehung: Beide haben etwas zu sagen.
Das Buch und diese Lesart der Bibel sind ein Plädoyer für Vielfalt und Diskurs. Dafür, dass die Auseinandersetzung mit Worten der Modus ist, in dem man nicht nur Konflikte zwischen Sterblichen am besten beilegt - sondern mit dem man sogar dem Ewigen etwas abtrotzen kann. So verhandelt etwa Abraham mit Gott über die Vernichtung Sodoms - und gewinnt. Am Ende dann aber wieder nicht, da er nicht einmal zehn Gerechte in der Stadt findet, weswegen nur sein Schwager gerettet wird, aber immerhin: Er hat Gottes Gerechtigkeitsvorstellung hinterfragt und ihn überzeugt, dass es nicht fair ist, Unschuldige aus Groll gegen die Schuldigen mit zu vernichten.
Angenehm anders ist der Blick auf biblische Geschichten, die auch Christen bekannt sein dürften, wenn sie ihr Altes Testament kennen. So versteht Klapheck Eva zum Beispiel nicht als Ursünderin, sondern als Verwirklicherin von Freiheit. Oder die Verwirrung der Sprachen nach dem Turmbau zu Babel nicht als Strafe, sondern als Erguss von Gottes Vielfalt unter den Menschen: "Den Menschen geschieht ein politischer Segen!"
Ein besonders erhellendes Kapitel ist das letzte, in dem Klapheck knapp das Leben in der Diaspora als wirtschaftlichen Erfolgsfaktor charakterisiert und die Halacha als dezentrale, zusammenhaltende und zugleich ultrakomplexe Rechtstradition als den jüdischen Teil der vielzitierten jüdisch-christlichen Tradition in Europa ausmacht. "Jüdisch" ist nach dieser Lesart: diskursiv, demokratisch, sozial-marktwirtschaftlich, globalisiert, aufklärerisch. Und, wie Klapheck beruhigenderweise feststellt: "Man kann auch als Nichtjude in einer jüdischen Tradition stehen." THERESA WEISS
Elisa Klapheck: Zur politischen Theologie des Judentums.
Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2022. 242 S., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Ein "Plädoyer für Vielfalt und Diskurs" liest Rezensentin Theresa Weiß mit dem Buch der Rabbinerin Elisa Klapheck, die in sieben Essays über das politische Verständnis in der Hebräischen Bibel untersucht. Ein "Buch für Feinschmecker", meint die Rezensentin, manche Diskussionen mögen für den ein oder anderen etwas "alltagsfern" erscheinen, aber die Lektüre lohnt sich: Die Rezensentin gewinnt erhellende, philosophische Einsichten in theologische Themen, auch durch Klaphecks erfrischend neue Interpretationen des Alten Testaments. So sieht die Autorin Eva beispielsweise vielmehr als "Verwirklicherin von Freiheit", denn als Erbsünderin, so die Kritikerin. Interessiert liest sie auch wie Klapheck ihren Text um eine politische Perspektive erweitert und ihre Ergebnisse für aktuelle Themen fruchtbar macht. Diese Lesart der Bibel ist aufgeklärt und modern, freut sich Weiß, und schaffe ein Bild von der jüdischen Tradition, mit der man sich auch als "Nichtjude" identifizieren könne.
© Perlentaucher Medien GmbH
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