In der Mitte des 18. Jahrhunderts explodiert die Zahl der Reisebeschreibungen, nicht nur in Deutschland. Es ist der Beginn der systematischen Welterkundung, die in unterschiedlichsten Zielsetzungen Reiseerlebnisse dokumentiert und aufbereitet. Es ist eine Zeit des Sammelns und Kategorisierens und
die Geburtsstunde vieler neuer Wissenschaftsdisziplinen.
Uwe Hentschel setzt mit seinem Titel „Zur…mehrIn der Mitte des 18. Jahrhunderts explodiert die Zahl der Reisebeschreibungen, nicht nur in Deutschland. Es ist der Beginn der systematischen Welterkundung, die in unterschiedlichsten Zielsetzungen Reiseerlebnisse dokumentiert und aufbereitet. Es ist eine Zeit des Sammelns und Kategorisierens und die Geburtsstunde vieler neuer Wissenschaftsdisziplinen.
Uwe Hentschel setzt mit seinem Titel „Zur Reiseliteratur um 1800: Autoren - Formen - Landschaften“ die Grenzen seiner Untersuchung sehr weit, was gewisse Erwartungen weckt.
Er unterteilt sein Buch in drei Hauptkapitel, die jeweils einen anderen Blickwinkel einnehmen. In „Autoren“ stellt er exemplarisch vier Reiseschriftsteller vor, die unterschiedliche Ansätze verfolgten: Gotthold Friedrich Stäudlin ist ein Vertreter des schwärmerischen Philhelvetismus, der die vermeintlich freiheitliche Gesellschaftsordnung der Schweiz glorifizierte. Joachim Heinrich Campe, Onkel des berühmten Verlegers Julius Campe, hatte mit seinen Abenteuergeschichten und kindgerechten Erdbeschreibungen einen erzieherischen Bildungsauftrag, während Garlieb Merkel vor allem die Vermarktbarkeit seiner Berichte im Auge behielt. Er gehörte zu den ersten Reiseschriftstellern, die von ihrer Kunst zu leben versuchten und zu diesem Zweck vermischte er regelmäßig Erlebtes und Fiktion miteinander. Carl Friedrich Zelter, bekannt als Komponist und ausgebildeter Maurer, ist zwar auch literarischer Dilettant, aber sein enger Freund Goethe förderte die Publikation seiner interessanten Reisebriefe.
Schon in dieser Aufzählung fällt auf, was sich dann im weiteren Verlauf verfestigt. Ein wichtiger, aus meiner Sicht sogar der wichtigste Aspekt aufklärerischer Reisebeschreibungen führt in Hentschels Untersuchung ein absolutes Nischendasein: Die Erweiterung naturwissenschaftlicher und ethnologischer Erkenntnisse. Wie viele Geisteswissenschaftler fällt auch Hentschel dem Irrtum anheim, Goethe sei ein ernstzunehmender Naturwissenschaftler gewesen. Goethe ist aber auch als Reiseschriftsteller nie besonders hervorgetreten (seine italienischen Reiseskizzen waren singuläre Versuche und erschienen auch erst ab 1816, also 30 Jahre nach der eigentlichen Reise) und doch weht dem Leser Goethes Geist auf jeder Seite entgegen. Der Kosmos, den Hentschel beschreibt, erscheint auf eine seltsame Weise in sich geschlossen: Fast alle Autoren hatten direkte oder indirekte Kontakte miteinander und oft ist Goethe ein Kondensationskeim. Sie bewegen sich ausschließlich in literarischem Umfeld, kommen ausschließlich aus dem deutschsprachigen Raum und außereuropäische Expeditionen werden von Hentschel mit keiner Zeile bedacht. Erkenntnistheoretische, geografische, ethnologische oder naturwissenschaftliche Entwicklungen, die von der Reiseliteratur um 1800 geprägt oder sogar erst angestoßen wurden, werden von Hentschel nicht diskutiert.
Das Kapitel „Formen“ stellt anhand beispielhafter Publizisten und Autoren die Wahrnehmung und sekundäre Informationsverarbeitung in den Fokus. Die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts recht verbreitete Kategorie der „malerischen“ (aber selbst erlebten) Reisebeschreibung steht im Kontrast zu den zur gleichen Zeit unternommenen, vergeblichen Versuchen, monografisch alles Verfügbare auszuwerten und zu publizieren. Auch hier ist die Beschränkung auf rein deutschsprachige Autoren und europäische Reisen (mit einem starken Fokus auf die Grand Tour Ziele) auffällig, die sich im Kapitel „Landschaften“ fortsetzt. Hier werden die Grenzen sogar noch enger gesetzt: Berlin, Böhmen, die Schweiz und Straßburg bilden den geografischen Rahmen, um exemplarische Annäherungen an unterschiedliche Landschafts- (und Lebens)formen darzustellen.
Obwohl meine eigene Erwartungshaltung aufgrund von Titel und Klappentext nicht erfüllt wurde und ein fast ausschließlich literaturwissenschaftlicher Grundton vorherrscht, hat mir das Buch doch einige Erkenntnisse beschert. Die sorgfältig recherchierten biografischen Hintergründe der Autoren, ihre gesellschaftliche Verortung, ihre Netzwerke, all das sind interessante Informationen, die auch einem Leser mit naturwissenschaftlichem Hintergrund Nutzen bringen. Dass Alexander von Humboldt nur ein einziges Mal in einer Randnotiz erwähnt wird (und im Register nicht einmal geführt wird), sein Bruder Wilhelm mit einer unbedeutenden Reiseschrift dagegen mehr als ein Dutzend Mal (ja richtig, Wilhelm ist nämlich im Gegensatz zu Alexander mit Goethe gereist), mag exemplarisch für Hentschels Tunnelblick sein. Aber am Ende jeden Tunnels gibt es immer auch ein kleines Licht.