Warum wir wieder lernen müssen, richtig zu streiten.Ohne Streit ist unsere Demokratie nicht überlebensfähig. Wir brauchen die Auseinandersetzung, um eine öffentliche Meinungsbildung zu ermöglichen und konstruktive Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Aber wir erleben heute, dass die inhaltliche Auseinandersetzung immer seltener wird und sich die Debatte in die sozialen Medien und die Talkshows verlagert hat. Dort gehen die Akteure Parteien mit ungeprüften Fakten und Behauptungen aufeinander los, bleiben Meinungen unversöhnlich nebeneinander stehen und werden keine Kompromisse mehr gesucht. Es herrscht ein Kampf um Aufmerksamkeit, Selbstbestätigung und die Skandalisierung des Gegners. Andrea Römmele zeigt auf, warum es wichtig ist und wie es wieder möglich sein kann, miteinander zu streiten - ohne sich zu spalten.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2019Heute schon aufgemuckt?
Andrea Römmele sehnt sich nach einem guten Streit - mit dem Ziel einer Verständigung auf Gemeinsamkeiten.
Von Justus Bender
Für ein Buch über das Streiten hat der erste Satz etwas unerwartet Zaghaftes. "Als Wissenschaftlerin ein meinungsstarkes Buch zu schreiben, ist nicht ohne. Man begibt sich auf unsicheres Terrain", beginnt die Politikwissenschaftlerin Andrea Römmele ihren essayistischen Appell. Fast möchte man meinen, die Notwendigkeit des Buches werde schon mit diesem Satz belegt. Offenbar leben wir in Zeiten, in der Streitlust so aus der Mode gekommen ist, dass sogar eine Streiterin erst ihre eigenen Berührungsängste überwinden muss.
Eigentlich beschwert Römmele sich gar nicht, dass in Deutschland zu wenig gestritten wird, sie beklagt, wie gestritten wird. Sie will, dass die Deutschen wieder zur Sache sprechen, anstatt sich in Anfeindungen zu verlieren, die ständig die Legitimität des Gesprächspartners angreifen. In dem Zusammenhang ist es natürlich eine wunderbare Besserwisserei, wenn man bemerkt, dass ihr abstrakter Essay über die Streitkultur an sich auch kein Einstieg in eine Sachdebatte ist. Wer Streit über Inhalte will, darf nicht über den Streit an sich streiten. Man könnte der Autorin diese strategische Schwäche nachsehen - aber warum eigentlich?
Römmele sucht Streit, richtigen Streit, der nicht identisch sei mit der Streiterei von Populisten. Diese "konstruieren einen einheitlichen Volkswillen und stilisieren sich anschließend zum alleinigen Vertreter dieses Willens", schreibt Römmele. Weil abweichende Meinungen von Populisten als Verrat am Volk verstanden werden, ist ein Streiten mit ihnen meist zwecklos, zumindest ist kein demokratisches Raufen im Sinne einer pluralen, faktenbasierten Diskussion möglich. "Die Debatte ist in ihrem Weltbild nicht notwendig", schreibt Römmele.
Als beste Haltung gegenüber Populisten schlägt sie einen Stoizismus vor: immer stur beim konkreten Thema bleiben, keine Sonderbehandlung. Als Positivbeispiel gilt ihr der ZDF-Journalist Thomas Walde, der den AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland in einem Sommerinterview nicht zu Flucht und Migration, sondern zu Themen wie Klimawandel, Rente und Digitalisierung befragte. Es müsse gelten, die "gleichen Fragen wie bei anderen Parteien" zu stellen, "Widersprüche aufdecken und auf inhaltlichen Antworten bestehen". Gauland, der in seiner Partei für Außenpolitik und Migrationsfragen zuständig ist, wusste natürlich kaum Antworten. Römmele meint, Gauland habe sich damit "selbst entlarvt" - aber schon dieser triumphierende Satz lässt Zweifel wachsen.
Als Lob verweist er eben nicht auf eine plurale Streitkultur, sondern befürwortet eine Asymmetrie, in der einer den Gesprächsverlauf bestimmt und der andere parieren - oder in diesem Fall: verlieren - muss. Interviews sind eine konfrontative journalistische Darstellungsform, kein freier politischer Raum. Dem Populisten wird es nicht schwerfallen ein Gespräch zu deuten, in dem alle Fragen ausgeklammert wurden, mit denen er bei dem ihm geneigten Teil des Publikums hätte punkten können: als Verschwörung eines politisch-medialen Komplexes.
Eigentlich folgt aus Römmeles Buch eine ganz andere Lehre als die Maxime, den Gesprächspartner zu entlarven. Wer streitet, soll das Ziel einer Verständigung verfolgen. So definiert Römmele den "guten" Streit: "Nur wenn wir uns streiten, uns im wahrsten Sinne des Wortes mit unserem Gegenüber auseinandersetzen, treten nämlich auch jene Punkte hervor, die wir gemeinsam haben und die die Basis für eine gemeinsame Politik darstellen."
Im Internet passiert das nicht. "Der Traum vom Internet als globalem Forum ist (vorerst) ausgeträumt. Sogenannte Trolle, Shitstorms, Beleidigungen und Drohungen dominieren Kommentarspalten und die sozialen Medien", schreibt Römmele. Auch Talkshows im Fernsehen erfüllen für Römmele nicht die Bedingungen eines guten Streits. Der Frage, ob Frauen anders streiten als Männer, geht Römmele am Beispiel von Andrea Nahles, Alice Schwarzer, Angela Merkel, Claudia Roth und Hillary Clinton nach. Fazit: "Wie diese unterschiedlichen Beispiele zeigen, kann man keinesfalls von einem weiblichen Debattenstil ausgehen."
Römmele plädiert für mehr Streit, für sachlichen Streit, für respektvollen Streit. Eigentlich, schreibt sie, brauche man für einen guten Streit nur das Grundgesetz zu lesen. "Mehr Spielregeln braucht es nicht. Sie sind sogar hinderlich." Mit einer guten Portion Streitlust ließe sich über Römmeles Buch also sagen: Die Lektüre unserer Verfassung ist allen Interessierten uneingeschränkt zu empfehlen.
Andrea Römmele: Zur Sache. Für eine neue Streitkultur in Politik und Gesellschaft.
Aufbau Verlag, Berlin 2019. 140 S., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Andrea Römmele sehnt sich nach einem guten Streit - mit dem Ziel einer Verständigung auf Gemeinsamkeiten.
Von Justus Bender
Für ein Buch über das Streiten hat der erste Satz etwas unerwartet Zaghaftes. "Als Wissenschaftlerin ein meinungsstarkes Buch zu schreiben, ist nicht ohne. Man begibt sich auf unsicheres Terrain", beginnt die Politikwissenschaftlerin Andrea Römmele ihren essayistischen Appell. Fast möchte man meinen, die Notwendigkeit des Buches werde schon mit diesem Satz belegt. Offenbar leben wir in Zeiten, in der Streitlust so aus der Mode gekommen ist, dass sogar eine Streiterin erst ihre eigenen Berührungsängste überwinden muss.
Eigentlich beschwert Römmele sich gar nicht, dass in Deutschland zu wenig gestritten wird, sie beklagt, wie gestritten wird. Sie will, dass die Deutschen wieder zur Sache sprechen, anstatt sich in Anfeindungen zu verlieren, die ständig die Legitimität des Gesprächspartners angreifen. In dem Zusammenhang ist es natürlich eine wunderbare Besserwisserei, wenn man bemerkt, dass ihr abstrakter Essay über die Streitkultur an sich auch kein Einstieg in eine Sachdebatte ist. Wer Streit über Inhalte will, darf nicht über den Streit an sich streiten. Man könnte der Autorin diese strategische Schwäche nachsehen - aber warum eigentlich?
Römmele sucht Streit, richtigen Streit, der nicht identisch sei mit der Streiterei von Populisten. Diese "konstruieren einen einheitlichen Volkswillen und stilisieren sich anschließend zum alleinigen Vertreter dieses Willens", schreibt Römmele. Weil abweichende Meinungen von Populisten als Verrat am Volk verstanden werden, ist ein Streiten mit ihnen meist zwecklos, zumindest ist kein demokratisches Raufen im Sinne einer pluralen, faktenbasierten Diskussion möglich. "Die Debatte ist in ihrem Weltbild nicht notwendig", schreibt Römmele.
Als beste Haltung gegenüber Populisten schlägt sie einen Stoizismus vor: immer stur beim konkreten Thema bleiben, keine Sonderbehandlung. Als Positivbeispiel gilt ihr der ZDF-Journalist Thomas Walde, der den AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland in einem Sommerinterview nicht zu Flucht und Migration, sondern zu Themen wie Klimawandel, Rente und Digitalisierung befragte. Es müsse gelten, die "gleichen Fragen wie bei anderen Parteien" zu stellen, "Widersprüche aufdecken und auf inhaltlichen Antworten bestehen". Gauland, der in seiner Partei für Außenpolitik und Migrationsfragen zuständig ist, wusste natürlich kaum Antworten. Römmele meint, Gauland habe sich damit "selbst entlarvt" - aber schon dieser triumphierende Satz lässt Zweifel wachsen.
Als Lob verweist er eben nicht auf eine plurale Streitkultur, sondern befürwortet eine Asymmetrie, in der einer den Gesprächsverlauf bestimmt und der andere parieren - oder in diesem Fall: verlieren - muss. Interviews sind eine konfrontative journalistische Darstellungsform, kein freier politischer Raum. Dem Populisten wird es nicht schwerfallen ein Gespräch zu deuten, in dem alle Fragen ausgeklammert wurden, mit denen er bei dem ihm geneigten Teil des Publikums hätte punkten können: als Verschwörung eines politisch-medialen Komplexes.
Eigentlich folgt aus Römmeles Buch eine ganz andere Lehre als die Maxime, den Gesprächspartner zu entlarven. Wer streitet, soll das Ziel einer Verständigung verfolgen. So definiert Römmele den "guten" Streit: "Nur wenn wir uns streiten, uns im wahrsten Sinne des Wortes mit unserem Gegenüber auseinandersetzen, treten nämlich auch jene Punkte hervor, die wir gemeinsam haben und die die Basis für eine gemeinsame Politik darstellen."
Im Internet passiert das nicht. "Der Traum vom Internet als globalem Forum ist (vorerst) ausgeträumt. Sogenannte Trolle, Shitstorms, Beleidigungen und Drohungen dominieren Kommentarspalten und die sozialen Medien", schreibt Römmele. Auch Talkshows im Fernsehen erfüllen für Römmele nicht die Bedingungen eines guten Streits. Der Frage, ob Frauen anders streiten als Männer, geht Römmele am Beispiel von Andrea Nahles, Alice Schwarzer, Angela Merkel, Claudia Roth und Hillary Clinton nach. Fazit: "Wie diese unterschiedlichen Beispiele zeigen, kann man keinesfalls von einem weiblichen Debattenstil ausgehen."
Römmele plädiert für mehr Streit, für sachlichen Streit, für respektvollen Streit. Eigentlich, schreibt sie, brauche man für einen guten Streit nur das Grundgesetz zu lesen. "Mehr Spielregeln braucht es nicht. Sie sind sogar hinderlich." Mit einer guten Portion Streitlust ließe sich über Römmeles Buch also sagen: Die Lektüre unserer Verfassung ist allen Interessierten uneingeschränkt zu empfehlen.
Andrea Römmele: Zur Sache. Für eine neue Streitkultur in Politik und Gesellschaft.
Aufbau Verlag, Berlin 2019. 140 S., 16,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Der Streit um Paragraph 219a ist eine Sternstunde der deutschen Demokratie. Mit rhetorischem Kniff zeigt Römmele, dass auf Frauen in der Politik noch immer anders geschaut wird, als auf Männer. Ein Plädoyer für die Zivilgesellschaft.« RBB Kulturradio 20190224