In diesen Poetikvorlesungen geht der Erzähler Patrick Roth nun seinem Schreiben auf den Grund. Ausgangspunkt ist ihm der Stoff, aus dem die Träume sind, die aus dem Unbewußten zugekommene »materia«, die er durch die Arbeit am literarischen Werk realisiert. Das Unbewußte mit dem Bewußten, das Numinose mit dem Individuellen, das Zeitlose mit dem ganz und gar Zeitlich-Alltäglichen in lebendige Beziehung zu setzen - das ist der Prozeß des Schreibens, dem hier mit poetischer Genauigkeit und Dichte nachgegangen wird.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.02.2006Der Stoff aus dem Dunkeln
Hymnen an die Nacht: Poetikvorlesungen von Patrick Roth
Nacht für Nacht passiert es: "Entmachtung des Ich. Regierungssturz. Hier gilt ein anderes Gesetz. Wenn das Ich sich eingestehen soll, daß es in irgendwelchen Bereichen nicht das Sagen hat, dann läuft es eiligst davon. ,Nicht mit mir! Die Pille ist zu bitter, die schluck' ich nicht.'" Unseren Träumen entkommen wir nicht. Meistens gelingt es uns, sie, ob sie nun erhebend und angenehm sind oder befremdend und beängstigend, am nächsten Morgen schnell beiseite zu schieben: "War ,nur' ein Traum. Weiter im Tag, weiter, next!"
Für Patrick Roth ist der Traum weder "Abfall des Tages" noch Zufallsprodukt aus einer Vielzahl möglicher Bilder. Als Tor zum Unbewußten ermöglicht er dem Autor Zugang zu Bilderwelten, die seinen Schreibprozeß in Gang setzen und mit Material beliefern. Damit ist es aber noch lange nicht getan: Die aus dem "dunkelsten Dunkel" der Träume kommende "materia" muß er fixieren, auf ihren psychischen Gehalt durchleuchten, poetisch bearbeiten, bis sie, sprachlich in Form gebracht, in sein Werk einfließen kann.
Auf welchen Wegen der Stoff des gebürtigen, seit dreißig Jahren in Kalifornien lebenden Karlsruhers in die Wirklichkeit des Textes gelangt, war Thema der Heidelberger Poetikvorlesungen "Zur Stadt am Meer" Ende 2004, die nun in einem schmalen Band vorliegen und sich als Fortsetzung seiner Frankfurter Vorlesungen "Ins Tal der Schatten" verstehen. Diese Poetik versteht sich nicht als bloßer Kommentar etwa zu Roths jüngstem Erzählungsband "Starlite Terrace", vier aufeinander bezogenen Geschichten und Erfahrungen der Bewohner eines alten Apartmenthauses in Los Angeles (F.A.Z. vom 12. November 2004). Im Gegenteil: "Zur Stadt am Meer" ist ein für sich stehendes, fesselndes Stück Literatur, mit dem er tiefenpsychologische Zusammenhänge auf verblüffende Weise einsichtig macht.
In vier konzentrierten Kapiteln und auf mehreren Erzählebenen schleust der Autor den Leser durch dunkle Gewässer der Alchimie, der Literatur und des Films. Insbesondere anhand des Films, von dem Roth kommt und bei dem er immer wieder landet, ergeben sich überraschende Lesarten: die Polemik gegen das "billige" Ende von Hitchcocks "Vertigo" oder die Aufwertung der "unerhörten" Schlußsequenz von Antonionis "L'Éclisse". Zwischendrin läßt Roth den Leser immer wieder beim Genuß der bilderreichen, dem Leben entnommenen Erzählungen, autobiographischen wie zeitgeschichtlichen Schilderungen Luft holen, um sich dann wieder abzustoßen und in die Tiefe der symbolhaltigen Traumwelt vorzudringen.
Wie ein Alchimist hat es Roth auf die "coniunctio" abgesehen, die Vereinigung der Gegensätze, die es auszuhalten gilt. Veranschaulicht ist sie als "Stadt am Meer", die den Übergang zwischen den Tiefen des Unbewußten und dem in Form gebrachten, kultivierten Dasein darstellt. Das geschriebene Werk bildet dabei lediglich den "Durchgangs-Ort", an dem die individuelle Wandlung beginnen soll. Roth verweist damit nicht nur auf den eigenen, dem Schreiben entspringenden, sinnstiftenden Individuationsprozeß, sondern appelliert im Sinne der Rezeptionsästhetik an den Leser, das im Werk Erfahrene in einer "Kopfinszenierung" fortzuschreiben. Aufs Ganze gesehen, hält Roth ein Plädoyer, der anderen Seite des Tagesbewußtseins, also dem Unbewußten, wie es sich in Träumen und Phantasien äußert, mehr Beachtung zu schenken.
Roths Hymnen an die Nacht, sein Versuch, die Stoffindung aus dem innersten Ich präzise darzulegen, hat viel der Romantik, aber auch entgrenzungsfreudigen Autoren der Moderne zu verdanken. Negativ formuliert, könnte man sagen: Roth beutet sein Unbewußtes aus. Die allnächtliche Begehung dieser jenseits des entmachteten Ichs gelegenen Fundgrube ist auf jeden Fall mit einer Anstrengung verbunden, von der man sich schwer einen Begriff macht und von der dieser im wahrsten Sinne tiefschürfende Rechenschaftsbericht eindrucksvoll kündet. Man kann nur den Hut ziehen vor der Blume, die der Autor aus dem "schöpferischen, in ihm schlummernden, dumpfen Keim" (wie Benn es ausdrückte) zum Blühen bringt - und die zugleich seinem Anliegen als Autor, nämlich der Schärfung von Wahrnehmungsfähigkeit und der Beförderung von Selbsterkenntnis, Ausdruck verleiht.
FRIEDERIKE REENTS
Patrick Roth: "Zur Stadt am Meer". Heidelberger Poetikvorlesungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 112 S., br., 7,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hymnen an die Nacht: Poetikvorlesungen von Patrick Roth
Nacht für Nacht passiert es: "Entmachtung des Ich. Regierungssturz. Hier gilt ein anderes Gesetz. Wenn das Ich sich eingestehen soll, daß es in irgendwelchen Bereichen nicht das Sagen hat, dann läuft es eiligst davon. ,Nicht mit mir! Die Pille ist zu bitter, die schluck' ich nicht.'" Unseren Träumen entkommen wir nicht. Meistens gelingt es uns, sie, ob sie nun erhebend und angenehm sind oder befremdend und beängstigend, am nächsten Morgen schnell beiseite zu schieben: "War ,nur' ein Traum. Weiter im Tag, weiter, next!"
Für Patrick Roth ist der Traum weder "Abfall des Tages" noch Zufallsprodukt aus einer Vielzahl möglicher Bilder. Als Tor zum Unbewußten ermöglicht er dem Autor Zugang zu Bilderwelten, die seinen Schreibprozeß in Gang setzen und mit Material beliefern. Damit ist es aber noch lange nicht getan: Die aus dem "dunkelsten Dunkel" der Träume kommende "materia" muß er fixieren, auf ihren psychischen Gehalt durchleuchten, poetisch bearbeiten, bis sie, sprachlich in Form gebracht, in sein Werk einfließen kann.
Auf welchen Wegen der Stoff des gebürtigen, seit dreißig Jahren in Kalifornien lebenden Karlsruhers in die Wirklichkeit des Textes gelangt, war Thema der Heidelberger Poetikvorlesungen "Zur Stadt am Meer" Ende 2004, die nun in einem schmalen Band vorliegen und sich als Fortsetzung seiner Frankfurter Vorlesungen "Ins Tal der Schatten" verstehen. Diese Poetik versteht sich nicht als bloßer Kommentar etwa zu Roths jüngstem Erzählungsband "Starlite Terrace", vier aufeinander bezogenen Geschichten und Erfahrungen der Bewohner eines alten Apartmenthauses in Los Angeles (F.A.Z. vom 12. November 2004). Im Gegenteil: "Zur Stadt am Meer" ist ein für sich stehendes, fesselndes Stück Literatur, mit dem er tiefenpsychologische Zusammenhänge auf verblüffende Weise einsichtig macht.
In vier konzentrierten Kapiteln und auf mehreren Erzählebenen schleust der Autor den Leser durch dunkle Gewässer der Alchimie, der Literatur und des Films. Insbesondere anhand des Films, von dem Roth kommt und bei dem er immer wieder landet, ergeben sich überraschende Lesarten: die Polemik gegen das "billige" Ende von Hitchcocks "Vertigo" oder die Aufwertung der "unerhörten" Schlußsequenz von Antonionis "L'Éclisse". Zwischendrin läßt Roth den Leser immer wieder beim Genuß der bilderreichen, dem Leben entnommenen Erzählungen, autobiographischen wie zeitgeschichtlichen Schilderungen Luft holen, um sich dann wieder abzustoßen und in die Tiefe der symbolhaltigen Traumwelt vorzudringen.
Wie ein Alchimist hat es Roth auf die "coniunctio" abgesehen, die Vereinigung der Gegensätze, die es auszuhalten gilt. Veranschaulicht ist sie als "Stadt am Meer", die den Übergang zwischen den Tiefen des Unbewußten und dem in Form gebrachten, kultivierten Dasein darstellt. Das geschriebene Werk bildet dabei lediglich den "Durchgangs-Ort", an dem die individuelle Wandlung beginnen soll. Roth verweist damit nicht nur auf den eigenen, dem Schreiben entspringenden, sinnstiftenden Individuationsprozeß, sondern appelliert im Sinne der Rezeptionsästhetik an den Leser, das im Werk Erfahrene in einer "Kopfinszenierung" fortzuschreiben. Aufs Ganze gesehen, hält Roth ein Plädoyer, der anderen Seite des Tagesbewußtseins, also dem Unbewußten, wie es sich in Träumen und Phantasien äußert, mehr Beachtung zu schenken.
Roths Hymnen an die Nacht, sein Versuch, die Stoffindung aus dem innersten Ich präzise darzulegen, hat viel der Romantik, aber auch entgrenzungsfreudigen Autoren der Moderne zu verdanken. Negativ formuliert, könnte man sagen: Roth beutet sein Unbewußtes aus. Die allnächtliche Begehung dieser jenseits des entmachteten Ichs gelegenen Fundgrube ist auf jeden Fall mit einer Anstrengung verbunden, von der man sich schwer einen Begriff macht und von der dieser im wahrsten Sinne tiefschürfende Rechenschaftsbericht eindrucksvoll kündet. Man kann nur den Hut ziehen vor der Blume, die der Autor aus dem "schöpferischen, in ihm schlummernden, dumpfen Keim" (wie Benn es ausdrückte) zum Blühen bringt - und die zugleich seinem Anliegen als Autor, nämlich der Schärfung von Wahrnehmungsfähigkeit und der Beförderung von Selbsterkenntnis, Ausdruck verleiht.
FRIEDERIKE REENTS
Patrick Roth: "Zur Stadt am Meer". Heidelberger Poetikvorlesungen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 112 S., br., 7,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Aus den 2004 in Heidelberg gehaltenen Poetikvorlesungen ist dieser Band von Patrick Roth hervorgegangen, in dem der Autor untersucht, wie das Rohmaterial der Träume in sein Schreiben Eingang findet, teilt Friederike Reents mit. Sie findet, dass daraus schon für sich ein "fesselndes Stück Literatur" entstanden ist und sie preist die vom Autor aufgefundenen "tiefenpsychologischen Zusammenhänge" als "auf verblüffende Weise einsichtig" gemacht. Dieses Buch sei ein "Plädoyer" für die stärkere Beachtung von Träumen als Schlüssel zum Unbewussten, und Roth bemüht sich darin, seine "Stoffindung aus dem innersten Ich" genau nachzuzeichnen, so Reents eingenommen. Sie zollt der spürbaren Mühe, die dieser Suchprozess bedeutet, Anerkennung und ist von diesem wahrhaftig "tiefschürfenden Rechenschaftsbericht" sehr beeindruckt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Man kann nur den Hut ziehen vor der Blume, die der Autor aus dem schöpferischen, in ihm schlummernden, dumpfen Keim zum Blühen bringt.« Frankfurter Allgemeine Zeitung