Die anhaltende Euro-Krise sowie die halbherzigen, oft populistischen Reaktionen der Politik lassen ein Scheitern des europäischen Projekts derzeit als reale Möglichkeit erscheinen. In seinem Essay verteidigt Jürgen Habermas Europa gegen die sich ausbreitende Skepsis, der er ein neues überzeugendes Narrativ für die Geschichte und vor allem die Zukunft der Europäischen Union entgegensetzt. Denkblockaden in Bezug auf die Transnationalisierung der Demokratie räumt er aus dem Weg, indem er den Einigungsprozess in den langfristigen Zusammenhang der Verrechtlichung und Zivilisierung staatlicher Gewalt einordnet. An die Politik richtet Jürgen Habermas schließlich den Appell, das bisher hinter verschlossenen Türen betriebene europäische Projekt endlich auf den hemdsärmeligen Modus eines lärmend argumentierenden Meinungskampfes in der breiten Öffentlichkeit umzupolen. Neben diesem Essay zur Verfassung Europas enthält dieser Band den Aufsatz »Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte« aus dem Jahr 2010 sowie drei Interventionen, die Jürgen Habermas seit dem Ausbruch der Finanzkrise veröffentlicht hat. »Angesichts eines politisch ungesteuerten Komplexitätswachstums der Weltgesellschaft, das den Handlungsspielraum der Nationalstaaten systemisch immer weiter einschränkt, ergibt sich die Forderung, die politischen Handlungsfähigkeiten über nationale Grenzen hinaus zu erweitern, aus dem normativen Sinn der Demokratie selbst.« Jürgen Habermas
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.11.2011Europas Rolle in einer zukünftigen Weltgesellschaft
Noch 1976 hatte Jürgen Habermas erklärt: "Ich bin kein Europa-Fan, war es auch nicht, als es Mode war." Wenige Jahre später gab er sich dann als überzeugter Europäer zu erkennen. Seine drei Jahrzehnte umfassende Auseinandersetzung mit Europa bilanzierend, legt Habermas nun einen profunden politik- und rechtswissenschaft-lichen Essay vor. Er verknüpft ihn mit Überlegungen über die Bedeutung des Konzepts der Menschenwürde für die Menschenrechte.
Habermas und Europa - das ist alles andere als eine Kurzgeschichte, die im Zeitraffer punktuelle Situationserfahrungen aufgreift, sondern eine Erzählung von epischer Breite. Mit jenen gedankenexperimentellen Wendungen in der Argumentationsweise und polemischen Zuspitzungen in der Analyse, wie sie Habermas, diesem public intellectual mit weltweiter Aufmerksamkeit, jeher eigen sind.
Auch hierzulande hat er mit dem derzeit so brisanten Europa-Thema Einfluss auf unsere Mentalitätsgeschichte zu nehmen versucht. Am Anfang steht dabei eine tief sitzende Überzeugung: dass nach der nationalen Hybris des Hitler-Regimes die Idee des Nationalstaates kritischer Überprüfung bedarf. Zusammen mit pazifistischen Motiven drückt sich die Skepsis des jungen Habermas gegenüber nationaler Größe in dem frühen Engagement während der fünfziger Jahre gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands und die Aufrüstung der Bundeswehr mit Nuklearwaffen aus. Als es 1966 zur Bildung der ersten Großen Koalition kommt, kritisiert er nicht nur die Entstehung eines Machtkartells, sondern gerade auch die SPD für "das nationale Übersoll an vaterländischer Pflichterfüllung".
Wer nun annimmt, dass diese Aversion gegen alles Nationale zu einer spontanen Sympathie mit der seit den fünfziger Jahren populären Europa-Idee geführt hätte, irrt gewaltig. Habermas sah seit der Zeit der Pariser und Römischen Verträge in der Bildung einer europäischen Union eine primär ökonomische Angelegenheit, die vor allem der Handelsliberalisierung, somit den kapitalistischen Marktwirtschaften zugute komme. Noch 1976 äußert er in einem Interview: "Ich bin kein Europa-Fan, war es auch nicht, als es Mode war". Und doch räumt er ein, man müsse "über die wachsende Integration der europäischen Länder froh sein". In dieser Zusatzbemerkung deutet sich sein Einstellungswandel zur Europa-Frage an.
Während er sich selbst noch nach Gründung der Europäischen Gemeinschaft mit Stellungnahmen über die Art der europäischen Staatlichkeit, über die Konzepte Staatenbund oder Bundesstaat zurückhält, gibt er sich im Laufe der achtziger Jahre als überzeugter Europäer zu erkennen. Typisch für ihn, ergreift er in dem Moment öffentlich das Wort, in dem der zaghaft begonnene Prozess politischer Einigung stagniert, als sich abzeichnet, dass das Europaparlament ohne Entscheidungsbefugnis und demokratische Legitimation bleibt und der Staatenbund sich aufgrund nationaler Eigeninteressen nicht zum Bundesstaat umwandeln ließ.
Zum einen verschließt sich der Demokratietheoretiker nicht länger davor, die Bedeutung der europäischen Nationalstaaten anzuerkennen, die diese für die Durchsetzung staatsbürgerlicher Solidarität und einer rechtsstaatlichen wie demokratischen Verfassung gehabt haben. Zum anderen ist er sich im Klaren, dass das Modell einer supranationalen Integration eine Alternative zur Rivalität einzelner nationaler Staaten anbietet, die das von Habermas stets beargwöhnte Gefahrenpotential eines Rückfalls in Freund-Feind-Verhältnisse mit sich bringt.
Von Zeitungsartikel zu Zeitungsartikel wird seine Kritik während der achtziger Jahre an den Demokratiedefiziten der Europäischen Union im Ton und in der Substanz immer schärfer. Sie gipfelt aktuell im Vorwurf des "Exekutivföderalismus", wie er in einer die demokratische Mitbestimmung der Bürger unterlaufenden Weise von Sarkozy und Merkel praktiziert werde. "Dieses selbstdestruktive Verhalten erklärt sich unmittelbar aus der Tatsache", so Habermas, "dass die politischen Eliten und die Medien zögern, die Bevölkerung für eine gemeinsame europäische Zukunft zu gewinnen." Als Bilanz seiner kritischen Auseinandersetzungen der letzten drei Jahrzehnte liegt jetzt das längst erwartete Buch vor: Im Zentrum steht ein profunder politik- und rechtswissenschaftlicher Essay, den der seit vielen Jahren emeritierte Philosoph neben seinen derzeit im Vordergrund stehenden religionsphilosophischen Interessen geschrieben hat. Die Veröffentlichung ist ein Indiz dafür, dass das Thema Europa in der Tat zu jenem avanciert ist, über das er sich "am meisten aufregt". Neben dem neuen Essay dokumentiert das Buch die publizistischen Beiträge und Vorträge zum Thema, die europaweit veröffentlicht wurden. Zu keiner Materie hat sich Habermas so häufig und vehement geäußert wie zu dieser.
Mit seinem Engagement für einen europäischen Bundesstaat und einer Verrechtlichung internationaler Beziehungen will Habermas in seiner Rolle des öffentlichen Intellektuellen dazu beitragen, dass das vereinigte Europa nach dem Niedergang des Staatssozialismus eine zweite Chance in der Weltgeschichte eingeräumt wird. Heute sieht er die Gefahr, dass trotz jener allen auf den Leib gerückten Erfahrungen der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise die Zukunft der Europäischen Union im Sinne der neoliberalen Orthodoxie entschieden wird. Darüber hinaus löckt Habermas mit seinen europapolitischen Interventionen gegen den Stachel einer postbzw. scheindemokratischen Politik kleiner Führungseliten und ihrer staatstechnischen Strategien.
Er plädiert erstens für eine prinzipielle Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft. Denn je größer der Kreis derjenigen Staaten ist, die von den weltpolitischen Entscheidungen betroffen sind, umso eher darf erwartet werden, dass bei Konfliktlösungen Entscheidungen zustande kommen, die für alle einsichtig sind und so allgemeine Zustimmung finden.
Zweitens geht es ihm um den Nachweis, dass es angesichts fortschreitender Globalisierung keine Alternativ zur Praxis des Regierens "jenseits des Nationalstaates" gibt. An die Stelle des ethnischen Konzepts des Nationalstaates (Nation als Herkunftsgemeinschaft) tritt das der übergreifenden "Staatsbürgernation" als eines rechtlich verfassten, supranationalen Gemeinwesens. Dass es noch kein europäisches Volk gibt, lässt Habermas als Einwand gegen den Souveränitätszuwachs einer gesamteuropäischen Demokratie nicht gelten. Es gibt ihm zufolge ohnehin eine ganze Reihe von Grundüberzeugungen, die alle Europäer teilen, darunter die Glaubensfreiheit, soziale Gerechtigkeit, persönliche Integrität, Rechtsstaatlichkeit. Die Bürger, in ihrer Gesamtheit die eigentlichen Legitimationsträger europäischer Institutionen, sind zugleich Staats- und Unionsbürger. Neu ist nun, dass folglich die Souveränität zwischen europäischen Bürgern und den Mitgliedsstaaten geteilt ist. Habermas schreibt: "Die Bürger sind auf doppelte Weise an der Konstituierung des höherstufigen politischen Gemeinwesens beteiligt, in ihrer Rolle als künftige Unionsbürger und als Angehörige eines der Staatsvölker."
Drittens sieht Habermas die Chance, dass sich mit der von ihm erhofften Konstitution einer transnationalen Öffentlichkeit - der gegenseitigen Öffnung der nationalen Öffentlichkeiten füreinander - die Möglichkeit eröffnet, dass sich ein übergreifender, an der gemeinsam zu beschließenden Verfassung orientierter Patriotismus in der Staatengemeinschaft durchsetzt. Der vierte Aspekt bezieht sich auf das Gleichgewicht der Mächte innerhalb eines zur Weltgesellschaft expandierenden kosmopolitischen Sozialsystems. Als Solidargemeinschaft verleiht die eine Stimme der europäischen Staaten ein größeres Gewicht innerhalb der globalisierten Welt, in der die ökologischen, militärischen und wirtschaftlichen Risiken keine territorialen Grenzen kennen.
Was sind angesichts dieser guten Gründe für die europäische Gemeinschaft die tiefgreifenden Probleme, vor denen die europäische Entwicklung steht?
Habermas erläutert sie an der Ablehnung der europäischen Verfassung durch die Referenden im Frühjahr 2005. Er kritisiert sie als verständliche Antwort der Bürger darauf, dass europäische Themen nicht öffentlich verhandelt, sondern als Angelegenheiten einer exklusiven Expertokratie behandelt wurden und werden. Er moniert, dass die Politiker nicht offen den Streit um die politischen Aspekte des Einigungsprozesses riskieren, vielmehr dazu neigen, Europawahlen für nationale Themen zu missbrauchen. Gerade die Abgehobenheit des Europäischen Rates, seine intergouvernementale Herrschaft, ist ihm ein Dorn im Auge.
Ein Ausweg aus dem Dilemma sieht Habermas in einer verstärken politischen Zusammenarbeit der Länder Kerneuropas. In einem Europa der "verschiedenen Geschwindigkeiten" besteht ihm zufolge die realistische Möglichkeit, dass von der handlungsfähigen Avantgarde eine "Sogwirkung" ausgeht, um das allgemeine Ziel einer postnationalen Demokratie zu erreichen. Das wäre im Endzustand eine politisch verfasste Weltbürgergesellschaft. Dazu gehört neben dem europäischen Parlament und der Europäischen Gerichtsbarkeit eine europäische Regierung, die als exekutive Gewalt innerhalb der Föderation fungiert und sich auf einen Verfassungsvertrag einschließlich Grundrechtscharta berufen kann.
Habermas wird nicht müde zu betonen, dass in der strikt demokratisch verfassten Weltgesellschaft der universalistische, über alle nationalen Grenzen hinausweisende Geltungsanspruch der Menschenrechte zum Zuge kommt.
Damit ist der Perspektivenwechsel vom klassischen Völkerrecht zur politischen Verfassung der Weltgesellschaft verbunden. Mit diesem Themenkomplex der Menschenrechte, die Habermas in einen Bedingungszusammenhang mit der Menschenwürde bringt, beschäftigt sich ein eigenständiger Aufsatz, der jener konstruktiven Kritik an der gegenwärtigen EuropaPolitik vorangestellt ist: Menschenrechten liegen moralische Überzeugungen zugrunde, die ins Medium des Rechts übersetzt sind. Ihr moralischer Mehrwert speist sich jedoch aus der Menschenwürde, die jedem einzelnen um seiner selbst willen zukommt. Daraus erklärt sich die "politische Sprengkraft einer politische Utopie": Mit der Positivierung unteilbarer demokratischer, sozialer und kultureller Menschenrechte wurde von Anfang an eine Rechtspflicht erzeugt. Diese besteht darin, die überschießenden moralischen Gehalte zu realisieren, also den historisch wechselnden Verletzungen der Menschenwürde zu begegnen, und zwar mit Mitteln einklagbarer Rechte.
In seinem neuen Buch schweigt Habermas keineswegs vom Kapitalismus und seinen unter Gemeinwohlgesichtspunkten destruktiven Konsequenzen. Er kritisiert ihn, um der Demokratie willen. Aber im Zentrum seiner Auseinandersetzung steht etwas anderes: der mangelnde regulative Gestaltungswille und die Restriktionen staatlicher Politik. Deshalb kann der normative Fluchtpunkt nichts anderes sein als die demokratische Selbstbestimmung der Bürger.
STEFAN MÜLLER-DOOHM.
Jürgen Habermas: "Zur Verfassung Europas". Ein Essay.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 130 S., br., 14,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Noch 1976 hatte Jürgen Habermas erklärt: "Ich bin kein Europa-Fan, war es auch nicht, als es Mode war." Wenige Jahre später gab er sich dann als überzeugter Europäer zu erkennen. Seine drei Jahrzehnte umfassende Auseinandersetzung mit Europa bilanzierend, legt Habermas nun einen profunden politik- und rechtswissenschaft-lichen Essay vor. Er verknüpft ihn mit Überlegungen über die Bedeutung des Konzepts der Menschenwürde für die Menschenrechte.
Habermas und Europa - das ist alles andere als eine Kurzgeschichte, die im Zeitraffer punktuelle Situationserfahrungen aufgreift, sondern eine Erzählung von epischer Breite. Mit jenen gedankenexperimentellen Wendungen in der Argumentationsweise und polemischen Zuspitzungen in der Analyse, wie sie Habermas, diesem public intellectual mit weltweiter Aufmerksamkeit, jeher eigen sind.
Auch hierzulande hat er mit dem derzeit so brisanten Europa-Thema Einfluss auf unsere Mentalitätsgeschichte zu nehmen versucht. Am Anfang steht dabei eine tief sitzende Überzeugung: dass nach der nationalen Hybris des Hitler-Regimes die Idee des Nationalstaates kritischer Überprüfung bedarf. Zusammen mit pazifistischen Motiven drückt sich die Skepsis des jungen Habermas gegenüber nationaler Größe in dem frühen Engagement während der fünfziger Jahre gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands und die Aufrüstung der Bundeswehr mit Nuklearwaffen aus. Als es 1966 zur Bildung der ersten Großen Koalition kommt, kritisiert er nicht nur die Entstehung eines Machtkartells, sondern gerade auch die SPD für "das nationale Übersoll an vaterländischer Pflichterfüllung".
Wer nun annimmt, dass diese Aversion gegen alles Nationale zu einer spontanen Sympathie mit der seit den fünfziger Jahren populären Europa-Idee geführt hätte, irrt gewaltig. Habermas sah seit der Zeit der Pariser und Römischen Verträge in der Bildung einer europäischen Union eine primär ökonomische Angelegenheit, die vor allem der Handelsliberalisierung, somit den kapitalistischen Marktwirtschaften zugute komme. Noch 1976 äußert er in einem Interview: "Ich bin kein Europa-Fan, war es auch nicht, als es Mode war". Und doch räumt er ein, man müsse "über die wachsende Integration der europäischen Länder froh sein". In dieser Zusatzbemerkung deutet sich sein Einstellungswandel zur Europa-Frage an.
Während er sich selbst noch nach Gründung der Europäischen Gemeinschaft mit Stellungnahmen über die Art der europäischen Staatlichkeit, über die Konzepte Staatenbund oder Bundesstaat zurückhält, gibt er sich im Laufe der achtziger Jahre als überzeugter Europäer zu erkennen. Typisch für ihn, ergreift er in dem Moment öffentlich das Wort, in dem der zaghaft begonnene Prozess politischer Einigung stagniert, als sich abzeichnet, dass das Europaparlament ohne Entscheidungsbefugnis und demokratische Legitimation bleibt und der Staatenbund sich aufgrund nationaler Eigeninteressen nicht zum Bundesstaat umwandeln ließ.
Zum einen verschließt sich der Demokratietheoretiker nicht länger davor, die Bedeutung der europäischen Nationalstaaten anzuerkennen, die diese für die Durchsetzung staatsbürgerlicher Solidarität und einer rechtsstaatlichen wie demokratischen Verfassung gehabt haben. Zum anderen ist er sich im Klaren, dass das Modell einer supranationalen Integration eine Alternative zur Rivalität einzelner nationaler Staaten anbietet, die das von Habermas stets beargwöhnte Gefahrenpotential eines Rückfalls in Freund-Feind-Verhältnisse mit sich bringt.
Von Zeitungsartikel zu Zeitungsartikel wird seine Kritik während der achtziger Jahre an den Demokratiedefiziten der Europäischen Union im Ton und in der Substanz immer schärfer. Sie gipfelt aktuell im Vorwurf des "Exekutivföderalismus", wie er in einer die demokratische Mitbestimmung der Bürger unterlaufenden Weise von Sarkozy und Merkel praktiziert werde. "Dieses selbstdestruktive Verhalten erklärt sich unmittelbar aus der Tatsache", so Habermas, "dass die politischen Eliten und die Medien zögern, die Bevölkerung für eine gemeinsame europäische Zukunft zu gewinnen." Als Bilanz seiner kritischen Auseinandersetzungen der letzten drei Jahrzehnte liegt jetzt das längst erwartete Buch vor: Im Zentrum steht ein profunder politik- und rechtswissenschaftlicher Essay, den der seit vielen Jahren emeritierte Philosoph neben seinen derzeit im Vordergrund stehenden religionsphilosophischen Interessen geschrieben hat. Die Veröffentlichung ist ein Indiz dafür, dass das Thema Europa in der Tat zu jenem avanciert ist, über das er sich "am meisten aufregt". Neben dem neuen Essay dokumentiert das Buch die publizistischen Beiträge und Vorträge zum Thema, die europaweit veröffentlicht wurden. Zu keiner Materie hat sich Habermas so häufig und vehement geäußert wie zu dieser.
Mit seinem Engagement für einen europäischen Bundesstaat und einer Verrechtlichung internationaler Beziehungen will Habermas in seiner Rolle des öffentlichen Intellektuellen dazu beitragen, dass das vereinigte Europa nach dem Niedergang des Staatssozialismus eine zweite Chance in der Weltgeschichte eingeräumt wird. Heute sieht er die Gefahr, dass trotz jener allen auf den Leib gerückten Erfahrungen der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise die Zukunft der Europäischen Union im Sinne der neoliberalen Orthodoxie entschieden wird. Darüber hinaus löckt Habermas mit seinen europapolitischen Interventionen gegen den Stachel einer postbzw. scheindemokratischen Politik kleiner Führungseliten und ihrer staatstechnischen Strategien.
Er plädiert erstens für eine prinzipielle Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft. Denn je größer der Kreis derjenigen Staaten ist, die von den weltpolitischen Entscheidungen betroffen sind, umso eher darf erwartet werden, dass bei Konfliktlösungen Entscheidungen zustande kommen, die für alle einsichtig sind und so allgemeine Zustimmung finden.
Zweitens geht es ihm um den Nachweis, dass es angesichts fortschreitender Globalisierung keine Alternativ zur Praxis des Regierens "jenseits des Nationalstaates" gibt. An die Stelle des ethnischen Konzepts des Nationalstaates (Nation als Herkunftsgemeinschaft) tritt das der übergreifenden "Staatsbürgernation" als eines rechtlich verfassten, supranationalen Gemeinwesens. Dass es noch kein europäisches Volk gibt, lässt Habermas als Einwand gegen den Souveränitätszuwachs einer gesamteuropäischen Demokratie nicht gelten. Es gibt ihm zufolge ohnehin eine ganze Reihe von Grundüberzeugungen, die alle Europäer teilen, darunter die Glaubensfreiheit, soziale Gerechtigkeit, persönliche Integrität, Rechtsstaatlichkeit. Die Bürger, in ihrer Gesamtheit die eigentlichen Legitimationsträger europäischer Institutionen, sind zugleich Staats- und Unionsbürger. Neu ist nun, dass folglich die Souveränität zwischen europäischen Bürgern und den Mitgliedsstaaten geteilt ist. Habermas schreibt: "Die Bürger sind auf doppelte Weise an der Konstituierung des höherstufigen politischen Gemeinwesens beteiligt, in ihrer Rolle als künftige Unionsbürger und als Angehörige eines der Staatsvölker."
Drittens sieht Habermas die Chance, dass sich mit der von ihm erhofften Konstitution einer transnationalen Öffentlichkeit - der gegenseitigen Öffnung der nationalen Öffentlichkeiten füreinander - die Möglichkeit eröffnet, dass sich ein übergreifender, an der gemeinsam zu beschließenden Verfassung orientierter Patriotismus in der Staatengemeinschaft durchsetzt. Der vierte Aspekt bezieht sich auf das Gleichgewicht der Mächte innerhalb eines zur Weltgesellschaft expandierenden kosmopolitischen Sozialsystems. Als Solidargemeinschaft verleiht die eine Stimme der europäischen Staaten ein größeres Gewicht innerhalb der globalisierten Welt, in der die ökologischen, militärischen und wirtschaftlichen Risiken keine territorialen Grenzen kennen.
Was sind angesichts dieser guten Gründe für die europäische Gemeinschaft die tiefgreifenden Probleme, vor denen die europäische Entwicklung steht?
Habermas erläutert sie an der Ablehnung der europäischen Verfassung durch die Referenden im Frühjahr 2005. Er kritisiert sie als verständliche Antwort der Bürger darauf, dass europäische Themen nicht öffentlich verhandelt, sondern als Angelegenheiten einer exklusiven Expertokratie behandelt wurden und werden. Er moniert, dass die Politiker nicht offen den Streit um die politischen Aspekte des Einigungsprozesses riskieren, vielmehr dazu neigen, Europawahlen für nationale Themen zu missbrauchen. Gerade die Abgehobenheit des Europäischen Rates, seine intergouvernementale Herrschaft, ist ihm ein Dorn im Auge.
Ein Ausweg aus dem Dilemma sieht Habermas in einer verstärken politischen Zusammenarbeit der Länder Kerneuropas. In einem Europa der "verschiedenen Geschwindigkeiten" besteht ihm zufolge die realistische Möglichkeit, dass von der handlungsfähigen Avantgarde eine "Sogwirkung" ausgeht, um das allgemeine Ziel einer postnationalen Demokratie zu erreichen. Das wäre im Endzustand eine politisch verfasste Weltbürgergesellschaft. Dazu gehört neben dem europäischen Parlament und der Europäischen Gerichtsbarkeit eine europäische Regierung, die als exekutive Gewalt innerhalb der Föderation fungiert und sich auf einen Verfassungsvertrag einschließlich Grundrechtscharta berufen kann.
Habermas wird nicht müde zu betonen, dass in der strikt demokratisch verfassten Weltgesellschaft der universalistische, über alle nationalen Grenzen hinausweisende Geltungsanspruch der Menschenrechte zum Zuge kommt.
Damit ist der Perspektivenwechsel vom klassischen Völkerrecht zur politischen Verfassung der Weltgesellschaft verbunden. Mit diesem Themenkomplex der Menschenrechte, die Habermas in einen Bedingungszusammenhang mit der Menschenwürde bringt, beschäftigt sich ein eigenständiger Aufsatz, der jener konstruktiven Kritik an der gegenwärtigen EuropaPolitik vorangestellt ist: Menschenrechten liegen moralische Überzeugungen zugrunde, die ins Medium des Rechts übersetzt sind. Ihr moralischer Mehrwert speist sich jedoch aus der Menschenwürde, die jedem einzelnen um seiner selbst willen zukommt. Daraus erklärt sich die "politische Sprengkraft einer politische Utopie": Mit der Positivierung unteilbarer demokratischer, sozialer und kultureller Menschenrechte wurde von Anfang an eine Rechtspflicht erzeugt. Diese besteht darin, die überschießenden moralischen Gehalte zu realisieren, also den historisch wechselnden Verletzungen der Menschenwürde zu begegnen, und zwar mit Mitteln einklagbarer Rechte.
In seinem neuen Buch schweigt Habermas keineswegs vom Kapitalismus und seinen unter Gemeinwohlgesichtspunkten destruktiven Konsequenzen. Er kritisiert ihn, um der Demokratie willen. Aber im Zentrum seiner Auseinandersetzung steht etwas anderes: der mangelnde regulative Gestaltungswille und die Restriktionen staatlicher Politik. Deshalb kann der normative Fluchtpunkt nichts anderes sein als die demokratische Selbstbestimmung der Bürger.
STEFAN MÜLLER-DOOHM.
Jürgen Habermas: "Zur Verfassung Europas". Ein Essay.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 130 S., br., 14,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Als "Buch der Stunde" feiert Alexander Cammanns Jürgen Habermas' hier versammelten jüngsten Interventionen zum Thema Europa, die auch zu den aktuellsten Debatten einige nützliche Stichwörter zu bieten scheinen. Eines davon ist die Formel "postdemokratischer Exekutivföderalismus", eine von Habermas seit längerem benannte Tendenz der europäischen Institutionen, die sich jetzt in der Bewältigung der akuten Krisen Bahn bricht. Dagegen setzt Habermas den Zustand der "transnationalen Demokratie", den es erst zu erreichen gilt. Bewundernd konstatiert Cammann, dass Habermas hier keineswegs nur an Europa, sondern gleich an die ganze Welt denkt. Auch Kritikpunkte hat Cammenn: Der Vordenker des "Strukturwandels der Öffentlichkeit" hat zum Internet offenbar nichts zu sagen, und auch der Euro spiele in seine Erwägungen kaum eine Rolle. Trotzdem: Cammann liest dieses Buch als das Vermächtnis einer Generation.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»In seinem neuen Buch schweigt Habermas keineswegs vom Kapitalismus und seinen unter Gemeinwohlgesichtspunkten destruktiven Konsequenzen. Er kritisiert ihn. Aber im Zentrum seiner Auseinandersetzung steht etwas anderes: der mangelnde regulative Gestaltungswille und die Restriktionen staatlicher Politik. Deshalb kann der normative Fluchtpunkt nichts anderes sein als die demokratische Selbstbestimmung der Bürger.« Stefan Müller-Doohm Frankfurter Allgemeine Zeitung 20111121
»Wo sich fast alle im kurzatmigen Krisenmanagement verheddern, muss einer die langen Linien der europäischen Politik ziehen. Jürgen Habermas tut es.«