Produktdetails
- Verlag: Königshausen & Neumann
- Seitenzahl: 460
- Erscheinungstermin: 4. Quartal 2011
- Deutsch
- Abmessung: 235mm
- Gewicht: 800g
- ISBN-13: 9783826046636
- ISBN-10: 3826046633
- Artikelnr.: 33691594
- Herstellerkennzeichnung Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.01.2012Klar wie Goethe
Hans-Jürgen Schings über Faust und Wilhelm Meister
Zustimmung zur Welt - in dieser Formel sieht Hans-Jürgen Schings die Essenz des klassischen Goethe. Sie beinhaltet Lebensbejahung, Tätigkeit und, wenn nötig, Entsagung. Es ist eine Formel der Lebenskunst, hervorgegangen aus den Gefährdungen der Geniezeit, dem Werther-Syndrom der Melancholie und der "Krankheit zum Tode". Und sie richtet sich gegen Werthers Erben und Wahlverwandte, die Verfechter moderner Subjektivität. Als thematische Klammer schließlich vereint sie eine Reihe von Goethe-Studien aus drei Jahrzehnten, die bei aller Unterschiedlichkeit an einem zusammenhängenden Bild Goethes arbeiten.
Wilhelm Meister und Faust sind die Leitfiguren von Schings' Studien, Figuren, die Goethe fast ein ganzes Autorenleben lang begleitet haben. An Wilhelm Meister interessieren Schings die Stationen des geglückten Weges, der "Heilung". In seiner schon klassischen Studie zur "schönen Amazone" arbeitet er etwa heraus, wie sehr Wilhelm von Bildern der Krankheit und des Unglücks umstellt ist oder sich mit ihnen identifiziert. Er ist Tassos Tankred aus dessen Epos "Das befreite Jerusalem", der das verletzt, was er am meisten liebt, er ist ein bürgerlicher Ritter auf Abwegen, der in phantastische Abenteuer verwickelt wird, und er ist der kranke Königssohn seines Lieblingsgemäldes, der sich in vergeblicher Liebe nach der Braut seines Vaters verzehrt. Dass letztere Geschichte gut ausgeht, dass der Königssohn geheilt wird, erkennt Wilhelm in seiner Blindheit nicht, präfiguriert aber seinen weiteren Lebensweg. Anders als im "Werther" führt der klassische Goethe eine Genesungsgeschichte vor, vermag sich Wilhelm von dem modernen Übel des Weltverdrusses zu reinigen.
Die "schöne Amazone", Wilhelms spätere Frau Natalie also, spielt dabei eine entscheidende Rolle, und Schings nimmt sie gegen ihre Verächter in Schutz, indem er ihr einen zentralen Platz in Goethes Ideengebäude zuweist. Sie verkörpert die Liebeslehre des von Goethe verehrten Spinoza, steht für Uneigennützigkeit, "die christliche Religion in ihrem reinsten Sinn". Demgegenüber schimmert in anderen Romanfiguren, etwa der "schönen Seele" mit ihren wortreichen Bekenntnissen oder der berühmten Mignon, das Negativbild der Religionsschwärmerei durch. Auch gegenüber der Turmgesellschaft behauptet Natalie ihr Eigengewicht, bei deren Darstellung Goethe seine Erfahrungen mit dem Geheimbund der Illuminaten einfließen lässt, wie Schings kenntnisreich aufzeigt.
Jüngeren Datums sind Schings' Studien zum "Faust". Hier betont er die Radikalität von Fausts Weltverneinung, die diesen zum Kumpanen von Mephisto und zum Gegenspieler des Herrn aus dem Prolog im Himmel prädestiniert. Von tragischer Größe und Wissenstitanismus will Schings nichts wissen. Er sieht in Faust den Inbegriff des modernen Nihilisten.
Schings nutzt nicht zuletzt intertextuelle Zitate und Subtexte, um dem Beziehungsreichtum der Goetheschen Texte und ihren zahlreichen Konnotationen auf die Schliche zu kommen. Eine weltliterarische wie wissensgeschichtliche Belesenheit führt zu einer Fülle origineller Befunde und überraschender Lektüren. Tassos "Befreites Jerusalem", zeigt sich, schimmert im "Wilhelm Meister" durch, der wiedererwachte Faust am Beginn des zweiten Teils hält die Mitte zwischen Byron und Dante, und die Prometheus-Hymne gewinnt einen neuen Sinn im Kontext religiös motivierter Gewitterlieder. Dass Schings zudem Erkenntnisse seiner bahnbrechenden Studie "Melancholie und Aufklärung" produktiv weiterverarbeitet, muss kaum erwähnt werden.
Es sind grundgelehrte und anregende Aufsätze, die Schings hier erneut vorlegt, frei von jedem Fachjargon. Das Goethesche Ideal der Klarheit erfüllen sie mustergültig, statt germanistischem Wortbombast gibt es geschliffene Formulierungen. Ihre Theorieferne mag manchem als antiquiert erscheinen, sichert ihnen aber eine lange Halbwertszeit. Ihre überragende philologische Qualität findet ihre Grenzen wohl nur in dem nie hinterfragten Bemühen, der Goetheschen Konzeption auf die Schliche zu kommen. Dass man Werke gegen den Strich lesen kann, dass Texte manchmal klüger sind als ihre Autoren, gerät nirgends in den Blick. So hat es fast etwas Trotziges, dass Schings, nachdem er schlagend die Negativattribute Fausts herausgestellt hat, auf dessen positiver Wandlung am Ende beharrt. Seine Beharrungskraft, sein Widerspruch gegen respektlose Lektüren - dem klassischen Goethe hätten sie gefallen.
THOMAS MEISSNER
Hans-Jürgen Schings: "Zustimmung zur Welt". Goethe-Studien.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2011. 459 S., geb., 68,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hans-Jürgen Schings über Faust und Wilhelm Meister
Zustimmung zur Welt - in dieser Formel sieht Hans-Jürgen Schings die Essenz des klassischen Goethe. Sie beinhaltet Lebensbejahung, Tätigkeit und, wenn nötig, Entsagung. Es ist eine Formel der Lebenskunst, hervorgegangen aus den Gefährdungen der Geniezeit, dem Werther-Syndrom der Melancholie und der "Krankheit zum Tode". Und sie richtet sich gegen Werthers Erben und Wahlverwandte, die Verfechter moderner Subjektivität. Als thematische Klammer schließlich vereint sie eine Reihe von Goethe-Studien aus drei Jahrzehnten, die bei aller Unterschiedlichkeit an einem zusammenhängenden Bild Goethes arbeiten.
Wilhelm Meister und Faust sind die Leitfiguren von Schings' Studien, Figuren, die Goethe fast ein ganzes Autorenleben lang begleitet haben. An Wilhelm Meister interessieren Schings die Stationen des geglückten Weges, der "Heilung". In seiner schon klassischen Studie zur "schönen Amazone" arbeitet er etwa heraus, wie sehr Wilhelm von Bildern der Krankheit und des Unglücks umstellt ist oder sich mit ihnen identifiziert. Er ist Tassos Tankred aus dessen Epos "Das befreite Jerusalem", der das verletzt, was er am meisten liebt, er ist ein bürgerlicher Ritter auf Abwegen, der in phantastische Abenteuer verwickelt wird, und er ist der kranke Königssohn seines Lieblingsgemäldes, der sich in vergeblicher Liebe nach der Braut seines Vaters verzehrt. Dass letztere Geschichte gut ausgeht, dass der Königssohn geheilt wird, erkennt Wilhelm in seiner Blindheit nicht, präfiguriert aber seinen weiteren Lebensweg. Anders als im "Werther" führt der klassische Goethe eine Genesungsgeschichte vor, vermag sich Wilhelm von dem modernen Übel des Weltverdrusses zu reinigen.
Die "schöne Amazone", Wilhelms spätere Frau Natalie also, spielt dabei eine entscheidende Rolle, und Schings nimmt sie gegen ihre Verächter in Schutz, indem er ihr einen zentralen Platz in Goethes Ideengebäude zuweist. Sie verkörpert die Liebeslehre des von Goethe verehrten Spinoza, steht für Uneigennützigkeit, "die christliche Religion in ihrem reinsten Sinn". Demgegenüber schimmert in anderen Romanfiguren, etwa der "schönen Seele" mit ihren wortreichen Bekenntnissen oder der berühmten Mignon, das Negativbild der Religionsschwärmerei durch. Auch gegenüber der Turmgesellschaft behauptet Natalie ihr Eigengewicht, bei deren Darstellung Goethe seine Erfahrungen mit dem Geheimbund der Illuminaten einfließen lässt, wie Schings kenntnisreich aufzeigt.
Jüngeren Datums sind Schings' Studien zum "Faust". Hier betont er die Radikalität von Fausts Weltverneinung, die diesen zum Kumpanen von Mephisto und zum Gegenspieler des Herrn aus dem Prolog im Himmel prädestiniert. Von tragischer Größe und Wissenstitanismus will Schings nichts wissen. Er sieht in Faust den Inbegriff des modernen Nihilisten.
Schings nutzt nicht zuletzt intertextuelle Zitate und Subtexte, um dem Beziehungsreichtum der Goetheschen Texte und ihren zahlreichen Konnotationen auf die Schliche zu kommen. Eine weltliterarische wie wissensgeschichtliche Belesenheit führt zu einer Fülle origineller Befunde und überraschender Lektüren. Tassos "Befreites Jerusalem", zeigt sich, schimmert im "Wilhelm Meister" durch, der wiedererwachte Faust am Beginn des zweiten Teils hält die Mitte zwischen Byron und Dante, und die Prometheus-Hymne gewinnt einen neuen Sinn im Kontext religiös motivierter Gewitterlieder. Dass Schings zudem Erkenntnisse seiner bahnbrechenden Studie "Melancholie und Aufklärung" produktiv weiterverarbeitet, muss kaum erwähnt werden.
Es sind grundgelehrte und anregende Aufsätze, die Schings hier erneut vorlegt, frei von jedem Fachjargon. Das Goethesche Ideal der Klarheit erfüllen sie mustergültig, statt germanistischem Wortbombast gibt es geschliffene Formulierungen. Ihre Theorieferne mag manchem als antiquiert erscheinen, sichert ihnen aber eine lange Halbwertszeit. Ihre überragende philologische Qualität findet ihre Grenzen wohl nur in dem nie hinterfragten Bemühen, der Goetheschen Konzeption auf die Schliche zu kommen. Dass man Werke gegen den Strich lesen kann, dass Texte manchmal klüger sind als ihre Autoren, gerät nirgends in den Blick. So hat es fast etwas Trotziges, dass Schings, nachdem er schlagend die Negativattribute Fausts herausgestellt hat, auf dessen positiver Wandlung am Ende beharrt. Seine Beharrungskraft, sein Widerspruch gegen respektlose Lektüren - dem klassischen Goethe hätten sie gefallen.
THOMAS MEISSNER
Hans-Jürgen Schings: "Zustimmung zur Welt". Goethe-Studien.
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2011. 459 S., geb., 68,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit viel Lob bespricht Rezensent Thomas Meissner die nun unter dem Titel "Zustimmung zur Welt" versammelten Goethe-Studien aus drei Jahrzehnten von Hans-Jürgen Schings. Die Radikalität, mit der Schings versuche, Goethes späterer Konzeption der Lebensbejahung "auf die Schliche" zu kommen, hätte dem klassischen Goethe gefallen, versichert der Kritiker. So deute der Germanist den "Wilhelm Meister" etwa als von jeglichem Weltverdruss befreiten Helden, während er im "Faust" einen modernen Nihilisten erkenne. Meissner würdigt die "überragende philologische Qualität" dieser originellen Aufsätze, in denen Schings nicht nur seine umfangreiche Belesenheit unter Beweis stelle, sondern erfreulicherweise auch auf Fachjargon verzichte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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