Produktdetails
  • Verlag: Königshausen & Neumann
  • Seitenzahl: 460
  • Erscheinungstermin: 4. Quartal 2011
  • Deutsch
  • Abmessung: 235mm
  • Gewicht: 800g
  • ISBN-13: 9783826046636
  • ISBN-10: 3826046633
  • Artikelnr.: 33691594
Autorenporträt
Hans-Jürgen Schings, Promotion 1965, Habilitation 1974. Ordentliche Professuren: Würzburg (1974-81), Heidelberg (1981-86), FU Berlin (1986-2005, Emeritierung). Gastprofessuren: Lawrence, Kansas 1981; Los Angeles (UCLA) 1990 und 1993. Tokyo 2000. Forschungsgebiete: Weimarer Klassik, Barock, Aufklärung, Klassische Moderne. Literarische Anthropologie, Gattungstheorie, Deutsche Literatur und französische Revolution. Bücher: Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius, 1966. Melancholie und Aufklärung, 1977. Poetik des Mitleids von Lessing bis Büchern, 1980. Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert (Hg.), 1994. Die Brüder des Marquis Posa, 1996.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.01.2012

Klar wie Goethe
Hans-Jürgen Schings über Faust und Wilhelm Meister

Zustimmung zur Welt - in dieser Formel sieht Hans-Jürgen Schings die Essenz des klassischen Goethe. Sie beinhaltet Lebensbejahung, Tätigkeit und, wenn nötig, Entsagung. Es ist eine Formel der Lebenskunst, hervorgegangen aus den Gefährdungen der Geniezeit, dem Werther-Syndrom der Melancholie und der "Krankheit zum Tode". Und sie richtet sich gegen Werthers Erben und Wahlverwandte, die Verfechter moderner Subjektivität. Als thematische Klammer schließlich vereint sie eine Reihe von Goethe-Studien aus drei Jahrzehnten, die bei aller Unterschiedlichkeit an einem zusammenhängenden Bild Goethes arbeiten.

Wilhelm Meister und Faust sind die Leitfiguren von Schings' Studien, Figuren, die Goethe fast ein ganzes Autorenleben lang begleitet haben. An Wilhelm Meister interessieren Schings die Stationen des geglückten Weges, der "Heilung". In seiner schon klassischen Studie zur "schönen Amazone" arbeitet er etwa heraus, wie sehr Wilhelm von Bildern der Krankheit und des Unglücks umstellt ist oder sich mit ihnen identifiziert. Er ist Tassos Tankred aus dessen Epos "Das befreite Jerusalem", der das verletzt, was er am meisten liebt, er ist ein bürgerlicher Ritter auf Abwegen, der in phantastische Abenteuer verwickelt wird, und er ist der kranke Königssohn seines Lieblingsgemäldes, der sich in vergeblicher Liebe nach der Braut seines Vaters verzehrt. Dass letztere Geschichte gut ausgeht, dass der Königssohn geheilt wird, erkennt Wilhelm in seiner Blindheit nicht, präfiguriert aber seinen weiteren Lebensweg. Anders als im "Werther" führt der klassische Goethe eine Genesungsgeschichte vor, vermag sich Wilhelm von dem modernen Übel des Weltverdrusses zu reinigen.

Die "schöne Amazone", Wilhelms spätere Frau Natalie also, spielt dabei eine entscheidende Rolle, und Schings nimmt sie gegen ihre Verächter in Schutz, indem er ihr einen zentralen Platz in Goethes Ideengebäude zuweist. Sie verkörpert die Liebeslehre des von Goethe verehrten Spinoza, steht für Uneigennützigkeit, "die christliche Religion in ihrem reinsten Sinn". Demgegenüber schimmert in anderen Romanfiguren, etwa der "schönen Seele" mit ihren wortreichen Bekenntnissen oder der berühmten Mignon, das Negativbild der Religionsschwärmerei durch. Auch gegenüber der Turmgesellschaft behauptet Natalie ihr Eigengewicht, bei deren Darstellung Goethe seine Erfahrungen mit dem Geheimbund der Illuminaten einfließen lässt, wie Schings kenntnisreich aufzeigt.

Jüngeren Datums sind Schings' Studien zum "Faust". Hier betont er die Radikalität von Fausts Weltverneinung, die diesen zum Kumpanen von Mephisto und zum Gegenspieler des Herrn aus dem Prolog im Himmel prädestiniert. Von tragischer Größe und Wissenstitanismus will Schings nichts wissen. Er sieht in Faust den Inbegriff des modernen Nihilisten.

Schings nutzt nicht zuletzt intertextuelle Zitate und Subtexte, um dem Beziehungsreichtum der Goetheschen Texte und ihren zahlreichen Konnotationen auf die Schliche zu kommen. Eine weltliterarische wie wissensgeschichtliche Belesenheit führt zu einer Fülle origineller Befunde und überraschender Lektüren. Tassos "Befreites Jerusalem", zeigt sich, schimmert im "Wilhelm Meister" durch, der wiedererwachte Faust am Beginn des zweiten Teils hält die Mitte zwischen Byron und Dante, und die Prometheus-Hymne gewinnt einen neuen Sinn im Kontext religiös motivierter Gewitterlieder. Dass Schings zudem Erkenntnisse seiner bahnbrechenden Studie "Melancholie und Aufklärung" produktiv weiterverarbeitet, muss kaum erwähnt werden.

Es sind grundgelehrte und anregende Aufsätze, die Schings hier erneut vorlegt, frei von jedem Fachjargon. Das Goethesche Ideal der Klarheit erfüllen sie mustergültig, statt germanistischem Wortbombast gibt es geschliffene Formulierungen. Ihre Theorieferne mag manchem als antiquiert erscheinen, sichert ihnen aber eine lange Halbwertszeit. Ihre überragende philologische Qualität findet ihre Grenzen wohl nur in dem nie hinterfragten Bemühen, der Goetheschen Konzeption auf die Schliche zu kommen. Dass man Werke gegen den Strich lesen kann, dass Texte manchmal klüger sind als ihre Autoren, gerät nirgends in den Blick. So hat es fast etwas Trotziges, dass Schings, nachdem er schlagend die Negativattribute Fausts herausgestellt hat, auf dessen positiver Wandlung am Ende beharrt. Seine Beharrungskraft, sein Widerspruch gegen respektlose Lektüren - dem klassischen Goethe hätten sie gefallen.

THOMAS MEISSNER

Hans-Jürgen Schings: "Zustimmung zur Welt". Goethe-Studien.

Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2011. 459 S., geb., 68,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.03.2012

Die Hölle wird leer bleiben
Klassische Goethe-Studien von Hans-Jürgen Schings
Wer Goethe als den Dichter einer „Zustimmung zur Welt“ konturiert, sagt nur dann etwas Nichttriviales, wenn er das Gegenteil solcher Weltfreude, Überdruss und Verzweiflung, bei diesem Klassiker greifbar machen kann. Und das ist die Leistung von Hans-Jürgen Schings: Seit mehr als einem Vierteljahrhundert zeigt er in tadellos genauen, philologischen, also vor allem dem passionierten Leser dienlichen Studien, welche Gewichte Goethe aufbot, um zu seinen harmonischen Lösungen zu kommen. Sie lassen sich jetzt in einer Sammlung von bemerkenswerter Geschlossenheit nachlesen.
So hat Schings präziser als je zuvor sichtbar machen können, dass „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ der Roman einer Heilung ist, nicht einfach die Überwindung „falscher Tendenzen“ bei Kunstausübung und Berufswahl, sondern ein Weg ins richtige Leben. Aufzeigen lässt sich das, wenn man die Spuren der „Bilder“, die frühe Lektüren und erste Kunsteindrücke bei Wilhelm hinterlassen haben, durch den Roman verfolgt. Bei Tasso hat er die Geschichte des Ritters Tankred gelesen, der die unter einem Harnisch verborgene schöne Muselmanin Chlorinde tötet, obwohl er sie liebt und im Tode sogar noch zur Christin macht – ein Zentralstoff barocker Kunst. Chlorinde kehrt wieder in jener Mariane, die gern in Hosenrollen – als „Offizierchen“ – auftritt und die Wilhelm so liebt und zugleich so verletzt.
Der „kranke Königssohn“, den ihm als Kind ein Gemälde aus der verkauften und später wiederentdeckten Sammlung seines Großvaters vorstellte, ist ein Vorläufer von Hamlet, mit dessen Melancholie sich Wilhelm nicht nur als Schauspieler so identifiziert. Die „schöne Amazone“, die Wilhelm nach einem Raubüberfall zu Hilfe eilt, steigert die Figur der Ritterin in eine diesseitige Heiligkeit: Ihr Evangelium ist natürliche, immer hilfsbereite Nächstenliebe nach Maximen jenes Spinoza, den Goethe vor allem mit Herder und Frau von Stein studierte; der Nimbus um ihren Kopf aber ist nicht einfach ein christliches Zitat, sondern eine Lichterscheinung, die man aus Goethes „Farbenlehre“ natürlich erklären kann. So fließen ins Tableau von Wilhelms Rettung Lektüren, Bilder und Naturgesetze zu einem Moment höchster, durchaus beseligender Bedeutsamkeit zusammen: Der Wendepunkt des Romans wird zu einem symphonischen Akkord, einem aufgeladenen Bild.
Und das ist nicht bloßes Resultat von Weltanschauung oder noch so wünschbaren Maximen, sondern der Effekt einer Kompositionstechnik von bis dahin unerreichter Vielschichtigkeit – erst Thomas Mann hat ähnlich komplexe Strukturen wieder gewagt. Der erfüllte, die Spannungen ausgleichende Moment, den Wilhelm Meister erreicht, er ist es, den Faust, ohne ihn überhaupt zu kennen, an den Teufel verwettet. Der Einsatz für den rastlosen Weltgenuss, den Mephisto Faust verspricht, ist zunächst Verzweiflung, ja der Fluch aufs Dasein. Auch hier kann Schings philologisch, also nicht nur weltanschaulich arbeiten, indem er auf das Goethe’sche Gegenüber solcher Verzweiflung hinweist, das erfüllte Dasein in einem antikisch geordneten Kosmos, das die Schrift über Winckelmann exponiert.
Und weil das so ist, kann Schings auch nicht glauben, dass der ramponierte letzte Moment der Daseinserfüllung, den Faust als Erblindeter am Ende erlebt, vollkommen wesenlos ist: Er ist die Rücknahme eines existentiellen Irrtums in letzter Sterbensminute, also eigentlich jene „Reue“, die nach christlicher Lehre Erlösung verbürgt. Gott hat die Hiobs-Wette mit dem Teufel gewonnen, die Hölle wird leer bleiben. Dass Goethe natürlich kein Christ im dogmatischen Sinn war, hat niemand so klar herausgearbeitet wie Schings, der Goethes Glauben um die Mitte von Spinozas Denken einer beseelten Immanenz kreisen lässt: Welt und Natur sind folgerichtig, und der Mensch ist mit Organen ausgestattet, die ihn diese Natur erkennen lassen – das kann inständig aber nur darstellen, wer den Gegensatz dazu, Chaos, Grauen und Verlorenheit, auch die Krankheit zum Tode, so kennt wie Goethe, dieser erste neuzeitliche Dichter des Selbstmords.
Das Subjekt im Bildungsroman hat also eine „Pathogenese“, so zitiert Schings den von Reinhart Koselleck in die Geistesgeschichte eingeführten Begriff; es hat den Staatsroman mit seinen erzieherischen Absichten durchlaufen, war aber auch Patient in der Psychologie der Aufklärung, die Goethe in seine Bildermetamorphosen überführt. Dass Karl Philipp Moritz dabei nicht nur ein Freund und Anreger Goethes war, sondern in der Gestalt des Laertes auch ein Denkmal im „Wilhelm Meister“ bekam, gehört zu den berührendsten Funden von Schings. Überhaupt ist dieser Forscher vorbildlich nüchtern, was seine großen Gegenstände umso strahlender hervortreten lässt.
Denn hier ist ja alles interessant: dass die Turmgesellschaft präzise den Praktiken des Illuminatenordens folgt und dass die „Anmutige Gegend“ am Beginn von „Faust II“ in kühner Überblendung Dantes Paradies und Byrons heroische „Manfred“-Landschaft zusammenführt. Dass wir das Leben „am farbigen Abglanz“ haben, ist bemerkenswert ja vor allem auch deshalb, weil der Goethe’sche Mensch anders als Dante sein Auge weder der Sonne noch Gott direkt aussetzen kann. Bei so viel weitführender Genauigkeit kann ein kurzes Referat nur „Abglanz“ sein – der Leser sei zum Gebrauch der eigenen Augen ermuntert.
GUSTAV SEIBT
HANS-JÜRGEN SCHINGS: Zustimmung zur Welt. Goethe-Studien. Königshausen & Neumann, Würzburg 2011. 460 Seiten, 68,00 Euro.
Bemerkenswert die Funde
dieses Forschers, der als solcher
wie wenige gelten darf
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit viel Lob bespricht Rezensent Thomas Meissner die nun unter dem Titel "Zustimmung zur Welt" versammelten Goethe-Studien aus drei Jahrzehnten von Hans-Jürgen Schings. Die Radikalität, mit der Schings versuche, Goethes späterer Konzeption der Lebensbejahung "auf die Schliche" zu kommen, hätte dem klassischen Goethe gefallen, versichert der Kritiker. So deute der Germanist den "Wilhelm Meister" etwa als von jeglichem Weltverdruss befreiten Helden, während er im "Faust" einen modernen Nihilisten erkenne. Meissner würdigt die "überragende philologische Qualität" dieser originellen Aufsätze, in denen Schings nicht nur seine umfangreiche Belesenheit unter Beweis stelle, sondern erfreulicherweise auch auf Fachjargon verzichte.

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