Eine unterschwellige Atmosphäre von Gewalt, Auflehnung, ungehöriger Sinnlichkeit empfängt den amerikanischen Historiker Michael Leidson, als er im Juli 1956 zum Landgut der herrschaftlichen Familie Avendaño in der Provinz Toledo kommt. Dort soll die jährliche Bußzeremonie stattfinden, mit der die Erschießung des jüngsten Bruders durch aufgebrachte Landarbeiter beim Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs "gesühnt" wird - ein merkwürdig atavistisches Ritual, dessen Bedeutung Leidson erhellen möchte. Der Politische Kommissar Roberto Sabuesa dagegen hofft dort den heimlichen Kopf der Studentenunruhen zu ermitteln, die Franco-Spanien im Frühjahr aufgestört haben. Sie werden Zeugen, wie an diesem Tag der gewaltsamen Beschwichtigung die kaum verhohlenen politischen wie erotischen Spannungen in der Familie Avendaño aufbrechen. Nach und nach deckt der Erzähler, der selbst stärker involviert ist, als der Leser anfangs ahnt, die Fäden der Handlung auf und verfolgt sie bis in eine jüngste Gegen
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2005Spaniens Schuld und Sühne
Jorge Semprún im Bürgerkrieg / Von Paul Ingendaay
Es gibt Berichte und Autobiographien, die den Leser mit ihrem Wirklichkeitsgehalt, einer überlebensgroßen Ahnung von existentieller Gefahr einschüchtern. Man sagt sich dann: Ja, deswegen liest man doch! Um zu erfahren, was es an haarsträubenden, unerhörten Geschehnissen gibt, ohne sie selber erleben zu müssen. Und um zu sehen, wie ein anderer im Namen des Lesers alle Herausforderungen meistert. Die Bücher von Jorge Semprún, Jahrgang 1923, gehören zweifellos zu dieser Gruppe, ob sie sich nun als "Roman" tarnen oder nicht. Man staunt bei der Vorstellung, daß die Ereignisse, von der Haft im Konzentrationslager Buchenwald bis zur hochriskanten Agitation im Franco-Spanien, in einem einzigen Leben Platz gefunden und den Menschen nicht stärker abgerieben haben.
Doch selbst der packendste Stoff schreibt sich nicht von allein, sondern will strukturiert und gebändigt sein. Es reicht, an das Scheitern von Günter Grass vor dem monumentalen Thema der "Wilhelm Gustloff" zu erinnern. Je länger man Semprún liest, desto stärker wird der Respekt vor dem reinen Literaten, der Semprún gar nicht ausschließlich sein will, weil die geschäftige Welt in ihm gleichzeitig den Exilanten, Résistance-Kämpfer, Buchenwald-Überlebenden, Kommunisten im Untergrund und ehemaligen spanischen Kulturminister, kurz: den Totalitarismus-Experten und kritischen Zeitzeugen feiert. Doch abgesehen davon, daß seine Themen allesamt groß, bedeutend und preiswürdig sind - es ist allein ihre literarische Klasse, die Semprúns Büchern das Überleben sichert.
"Zwanzig Jahre und ein Tag", sein erster in spanischer Sprache geschriebener Roman, den Elke Wehr mit gewohnter Souveränität übertragen hat, schultert geschichtsschweren Stoff aus Spaniens nicht mehr ganz junger Vergangenheit. Auf einem Landgut in der Provinz Toledo haben Arbeiter bei Ausbruch des Bürgerkriegs, im Sommer 1936, den Gutsherrn José María Avendano umgebracht. Zwanzig Jahre lang zwingen die beiden Brüder des Toten, der herrische Unternehmer José Manuel und der Jesuit José Ignacio Avendano, die Arbeiter, den Mord am Jahrestag der Bluttat als Passionsgeschichte nachzuspielen. Die Haltung der Amateurdarsteller, von denen manchen das schlechte Gewissen sticht, könnte man mit einer Frage aus "Dinner for One" wiedergeben: "Must I, Miss Sophie?" Und Jahr um Jahr ertönt dieselbe Antwort: "Just to please me, James!"
Zwanzig Jahre nach der Tat, 1956, kommt der junge amerikanische Zeithistoriker Michael Leidson auf das Gut, um mehr über den ins Legendenhafte entrückten Mord herauszufinden, von dem er wenige Jahre zuvor, im Beisein Hemingways, aus dem Munde des legendären Stierkämpfers Dominguín gehört haben will. Auch Mercedes, die schöne Witwe José Marías, ist bereit, dem Historiker etwas zu erzählen. Doch was Leidson am Ende erfährt, ist weniger und viel mehr als das Gesuchte: Er bekommt eine Ahnung von den kreuz- und querschießenden Verbindungen zwischen den Familienmitgliedern und ihren Freunden, er erfährt von erotischen Verstrickungen, Inzest, Machtspielen, klandestinen Botschaften und den Gefahren des illegalen Widerstands.
Der immer wieder umkreiste Kollektivmord ist der Glutkern, der sein magisches Funkeln über das ganze Buch wirft. Denn er ist rätselhaft, ein wenig wie Pantomime, und für jeden bedeutet er etwas anderes. Der Leser mag darin ein archaisches Spanien mit seiner Mischung aus Gewalt, Feierlichkeit und heidnischem Spektakel erkennen. Die Brüder Avendano benutzen die Zeremonie als rituelle Erinnerung an eine Bluttat, die nie gesühnt wurde, bevor sie sich entschließen, ein Zeichen der Versöhnung zu geben und einen toten Kommunisten an der Seite ihres Bruders bestatten zu lassen. Kommissar Sabuesa wiederum, der Beißhund der Politischen Polizei, würde die Zeremonie am liebsten auf ganz Spanien ausdehnen, um die Verlierer des Bürgerkriegs in regelmäßigen Abständen zu demütigen - ein treffendes Bild für den Geist der Rache, der Francos Diktatur beherrschte. Und für Mercedes bedeutet der Mord an José María das Ende einer kurzen Ehe, deren sexuellem Erfindungsreichtum sie zwanzig Jahre später noch nachtrauert. Nicht steril, sondern lebendig und voller Wärme nachtrauert - so sehr, daß sie mit Leidson, dem "schönen Gringo", etwas von den erotischen Dreierspielen wiederholt, die die stürmische Entdeckung ihrer Flitterwochen in Neapel waren.
Man muß etwas von der Handlung andeuten, die das Rückgrat von Semprúns Roman bildet, obwohl die Handlung gar nicht viel zu besagen hat. "Zwanzig Jahre und ein Tag" steht und fällt mit der raffinierten Erzählmethode. Sie wechselt zwischen Präsens und Vergangenheit, variiert mühelos die Perspektiven, benutzt Lupe und Fernrohr. Das Buch wirkt wie ein Prisma, das sich im hellen Licht langsam dreht, es hat Aufmerksamkeit für die Kleinteile und benötigt keinerlei dröhnendes Sinngetue. Das ist einer der angenehmsten Züge des Erzählers Semprún: Er zeigt einem nie, daß er auf seine wohlklingenden Sätze und seine clevere Romankonstruktion stolz wäre. Er baut die Sachen scheinbar direkt vor unseren Augen zusammen, und es funktioniert mit atemraubender Leichtigkeit. Vielleicht ergibt sich diese Diskretion schon daraus, daß der leibhaftige Mann hinter dem Text so klar zu erkennen ist: Jorge Semprún als Arrangeur und spielerischer Romancier, dem die Wirklichkeit des eigenen Lebens in seine Fiktionen hineinfunkt, sie anreichert, sättigt und zu einem imaginären Gesamtlebensbuch zuführt, das man aus allen Werken des Autors zusammenstellen könnte. Der berühmte Deckname dieses Mannes im spanischen Untergrund, Federico Sánchez, steckt den Roman gewissermaßen an, aber nicht mit ideologisch korrektem Marxismus, sondern mit etwas Ungreifbarem wie Beweglichkeit, Optimismus und Kreativität. Federico Sánchez, mehr als eine kokette Selbstanspielung, ist das Prinzip Zukunft in diesem düsteren und oft (nicht immer!) korsettierten Spanien der fünfziger Jahre, zu dessen Modernisierung Semprún soviel beigetragen hat.
Deshalb erstaunt es nicht, Erfahrungen des Autors wiederzubegegnen, die er schon anderswo beschrieben hat; es sind immer die Variationen, die den Mehrwert ergeben. Etwa die Geschichten über Verfolgung und Folter im Franco-Regime sowie den Verrat in den Reihen der Linken, die auch in "Federico Sánchez verabschiedet sich" (deutsch 1994) eine Rolle spielen; die Sätze über die Ferien im Baskenland, die der Flucht nach Frankreich vorausgingen ("Unsere allzu kurzen Sommer", 1999); oder die bewegende Episode über den Faulkner-Roman "Absalom, Absalom!", den Semprún auf deutsch in der Bibliothek von Buchenwald las ("Der Tote mit meinem Namen", 2002). Wen die zahlreich erwähnten realen, teils noch lebenden Personen aus der jüngeren spanischen Geschichte stören sollten, dem sei versichert, daß auch sie eine Bedeutung haben: Nur so kann Semprún an einer Historiographie seines Landes mitschreiben, die häufig provinziell war und immer unter Ausschluß der europäischen Öffentlichkeit arbeitete.
Am Ende des Romans hätte man Lust, seine Bauteile einzeln zu untersuchen und herauszufinden, wie Semprún es schafft, soviel Geschichte, Politik, Verzweifung und Liebe auf 290 Seiten unterzubringen. Denn sein Buch erweckt den Eindruck viel größerer Masse, weil es eine hohe Dichte hat. Semprún beherrscht die Kunst der Andeutung, beläßt Bildern ihre Mehrdeutigkeit und vertraut auf den Verstand seiner Leser. Die Zeit ist für ihn ein dehnbares Element, in dem zwanzig Jahre dasselbe sein können wie ein Tag: Er staut sie, greift vor, kehrt zurück und kombiniert Ideen, deren Zusammenwachsen wir zuschauen können. "Warum erfinden", fragt der Erzähler einmal, "wenn du ein so romanhaftes Leben gehabt hast, in dem es unendlich viel erzählerisches Material gibt?" Solange in diesem Leben Bücher stecken wie "Zwanzig Jahre und ein Tag", ist der Steinbruch noch nicht erschöpft.
Jorge Semprún: "Zwanzig Jahre und ein Tag". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Elke Wehr. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 292 S., geb., 19,80 [Euro].
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Jorge Semprún im Bürgerkrieg / Von Paul Ingendaay
Es gibt Berichte und Autobiographien, die den Leser mit ihrem Wirklichkeitsgehalt, einer überlebensgroßen Ahnung von existentieller Gefahr einschüchtern. Man sagt sich dann: Ja, deswegen liest man doch! Um zu erfahren, was es an haarsträubenden, unerhörten Geschehnissen gibt, ohne sie selber erleben zu müssen. Und um zu sehen, wie ein anderer im Namen des Lesers alle Herausforderungen meistert. Die Bücher von Jorge Semprún, Jahrgang 1923, gehören zweifellos zu dieser Gruppe, ob sie sich nun als "Roman" tarnen oder nicht. Man staunt bei der Vorstellung, daß die Ereignisse, von der Haft im Konzentrationslager Buchenwald bis zur hochriskanten Agitation im Franco-Spanien, in einem einzigen Leben Platz gefunden und den Menschen nicht stärker abgerieben haben.
Doch selbst der packendste Stoff schreibt sich nicht von allein, sondern will strukturiert und gebändigt sein. Es reicht, an das Scheitern von Günter Grass vor dem monumentalen Thema der "Wilhelm Gustloff" zu erinnern. Je länger man Semprún liest, desto stärker wird der Respekt vor dem reinen Literaten, der Semprún gar nicht ausschließlich sein will, weil die geschäftige Welt in ihm gleichzeitig den Exilanten, Résistance-Kämpfer, Buchenwald-Überlebenden, Kommunisten im Untergrund und ehemaligen spanischen Kulturminister, kurz: den Totalitarismus-Experten und kritischen Zeitzeugen feiert. Doch abgesehen davon, daß seine Themen allesamt groß, bedeutend und preiswürdig sind - es ist allein ihre literarische Klasse, die Semprúns Büchern das Überleben sichert.
"Zwanzig Jahre und ein Tag", sein erster in spanischer Sprache geschriebener Roman, den Elke Wehr mit gewohnter Souveränität übertragen hat, schultert geschichtsschweren Stoff aus Spaniens nicht mehr ganz junger Vergangenheit. Auf einem Landgut in der Provinz Toledo haben Arbeiter bei Ausbruch des Bürgerkriegs, im Sommer 1936, den Gutsherrn José María Avendano umgebracht. Zwanzig Jahre lang zwingen die beiden Brüder des Toten, der herrische Unternehmer José Manuel und der Jesuit José Ignacio Avendano, die Arbeiter, den Mord am Jahrestag der Bluttat als Passionsgeschichte nachzuspielen. Die Haltung der Amateurdarsteller, von denen manchen das schlechte Gewissen sticht, könnte man mit einer Frage aus "Dinner for One" wiedergeben: "Must I, Miss Sophie?" Und Jahr um Jahr ertönt dieselbe Antwort: "Just to please me, James!"
Zwanzig Jahre nach der Tat, 1956, kommt der junge amerikanische Zeithistoriker Michael Leidson auf das Gut, um mehr über den ins Legendenhafte entrückten Mord herauszufinden, von dem er wenige Jahre zuvor, im Beisein Hemingways, aus dem Munde des legendären Stierkämpfers Dominguín gehört haben will. Auch Mercedes, die schöne Witwe José Marías, ist bereit, dem Historiker etwas zu erzählen. Doch was Leidson am Ende erfährt, ist weniger und viel mehr als das Gesuchte: Er bekommt eine Ahnung von den kreuz- und querschießenden Verbindungen zwischen den Familienmitgliedern und ihren Freunden, er erfährt von erotischen Verstrickungen, Inzest, Machtspielen, klandestinen Botschaften und den Gefahren des illegalen Widerstands.
Der immer wieder umkreiste Kollektivmord ist der Glutkern, der sein magisches Funkeln über das ganze Buch wirft. Denn er ist rätselhaft, ein wenig wie Pantomime, und für jeden bedeutet er etwas anderes. Der Leser mag darin ein archaisches Spanien mit seiner Mischung aus Gewalt, Feierlichkeit und heidnischem Spektakel erkennen. Die Brüder Avendano benutzen die Zeremonie als rituelle Erinnerung an eine Bluttat, die nie gesühnt wurde, bevor sie sich entschließen, ein Zeichen der Versöhnung zu geben und einen toten Kommunisten an der Seite ihres Bruders bestatten zu lassen. Kommissar Sabuesa wiederum, der Beißhund der Politischen Polizei, würde die Zeremonie am liebsten auf ganz Spanien ausdehnen, um die Verlierer des Bürgerkriegs in regelmäßigen Abständen zu demütigen - ein treffendes Bild für den Geist der Rache, der Francos Diktatur beherrschte. Und für Mercedes bedeutet der Mord an José María das Ende einer kurzen Ehe, deren sexuellem Erfindungsreichtum sie zwanzig Jahre später noch nachtrauert. Nicht steril, sondern lebendig und voller Wärme nachtrauert - so sehr, daß sie mit Leidson, dem "schönen Gringo", etwas von den erotischen Dreierspielen wiederholt, die die stürmische Entdeckung ihrer Flitterwochen in Neapel waren.
Man muß etwas von der Handlung andeuten, die das Rückgrat von Semprúns Roman bildet, obwohl die Handlung gar nicht viel zu besagen hat. "Zwanzig Jahre und ein Tag" steht und fällt mit der raffinierten Erzählmethode. Sie wechselt zwischen Präsens und Vergangenheit, variiert mühelos die Perspektiven, benutzt Lupe und Fernrohr. Das Buch wirkt wie ein Prisma, das sich im hellen Licht langsam dreht, es hat Aufmerksamkeit für die Kleinteile und benötigt keinerlei dröhnendes Sinngetue. Das ist einer der angenehmsten Züge des Erzählers Semprún: Er zeigt einem nie, daß er auf seine wohlklingenden Sätze und seine clevere Romankonstruktion stolz wäre. Er baut die Sachen scheinbar direkt vor unseren Augen zusammen, und es funktioniert mit atemraubender Leichtigkeit. Vielleicht ergibt sich diese Diskretion schon daraus, daß der leibhaftige Mann hinter dem Text so klar zu erkennen ist: Jorge Semprún als Arrangeur und spielerischer Romancier, dem die Wirklichkeit des eigenen Lebens in seine Fiktionen hineinfunkt, sie anreichert, sättigt und zu einem imaginären Gesamtlebensbuch zuführt, das man aus allen Werken des Autors zusammenstellen könnte. Der berühmte Deckname dieses Mannes im spanischen Untergrund, Federico Sánchez, steckt den Roman gewissermaßen an, aber nicht mit ideologisch korrektem Marxismus, sondern mit etwas Ungreifbarem wie Beweglichkeit, Optimismus und Kreativität. Federico Sánchez, mehr als eine kokette Selbstanspielung, ist das Prinzip Zukunft in diesem düsteren und oft (nicht immer!) korsettierten Spanien der fünfziger Jahre, zu dessen Modernisierung Semprún soviel beigetragen hat.
Deshalb erstaunt es nicht, Erfahrungen des Autors wiederzubegegnen, die er schon anderswo beschrieben hat; es sind immer die Variationen, die den Mehrwert ergeben. Etwa die Geschichten über Verfolgung und Folter im Franco-Regime sowie den Verrat in den Reihen der Linken, die auch in "Federico Sánchez verabschiedet sich" (deutsch 1994) eine Rolle spielen; die Sätze über die Ferien im Baskenland, die der Flucht nach Frankreich vorausgingen ("Unsere allzu kurzen Sommer", 1999); oder die bewegende Episode über den Faulkner-Roman "Absalom, Absalom!", den Semprún auf deutsch in der Bibliothek von Buchenwald las ("Der Tote mit meinem Namen", 2002). Wen die zahlreich erwähnten realen, teils noch lebenden Personen aus der jüngeren spanischen Geschichte stören sollten, dem sei versichert, daß auch sie eine Bedeutung haben: Nur so kann Semprún an einer Historiographie seines Landes mitschreiben, die häufig provinziell war und immer unter Ausschluß der europäischen Öffentlichkeit arbeitete.
Am Ende des Romans hätte man Lust, seine Bauteile einzeln zu untersuchen und herauszufinden, wie Semprún es schafft, soviel Geschichte, Politik, Verzweifung und Liebe auf 290 Seiten unterzubringen. Denn sein Buch erweckt den Eindruck viel größerer Masse, weil es eine hohe Dichte hat. Semprún beherrscht die Kunst der Andeutung, beläßt Bildern ihre Mehrdeutigkeit und vertraut auf den Verstand seiner Leser. Die Zeit ist für ihn ein dehnbares Element, in dem zwanzig Jahre dasselbe sein können wie ein Tag: Er staut sie, greift vor, kehrt zurück und kombiniert Ideen, deren Zusammenwachsen wir zuschauen können. "Warum erfinden", fragt der Erzähler einmal, "wenn du ein so romanhaftes Leben gehabt hast, in dem es unendlich viel erzählerisches Material gibt?" Solange in diesem Leben Bücher stecken wie "Zwanzig Jahre und ein Tag", ist der Steinbruch noch nicht erschöpft.
Jorge Semprún: "Zwanzig Jahre und ein Tag". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Elke Wehr. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 292 S., geb., 19,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
"Ein großer Roman über ein fast vergangenes Jahrhundert", befindet Martin Lüdke. Jorge Semprun erzählt zwar vor dem Hintergrund des eigenen Lebens, doch er selbst, der als Führer der Kommunistischen Partei in Spanien unter dem Decknamen Federico Sanchez lebte, bleibt zunächst im Hintergrund. Zentrum der Erzählung ist die Familie Avenando, die den zwanzigsten Todestag eines ihrer Familienmitglieder begeht. Aber "wie immer bei Semprun" löst sich der exakte Zeitpunkt in "verschiedene chronologische Schichten" auf. Nur diesmal schöpft Semprun nicht nur aus der Erinnerung, sondern benutzt auch andere Quellen. Dadurch wird die scheinbare Kausalität der Zeit aufgebrochen, beobachtet der Rezensent, "verschiedene Stränge werden sichtbar, aber die Kontingenz der Geschichte bleibt". Zudem bewundert er den "paradoxen Kunstgriff" Sempruns, die Erzählung in einem Augenblick beginnen zu lassen, in dem die Handlung aus der Perspektive der Rückschau bereits beendet ist. "Wir wissen alles." Skeptiker beruhigt Lüdke, dass Semprun hier beileibe kein "präpostmodernes Spiel" treibe, sondern mit aller Ernsthaftigkeit die historischen Schichten des Romans miteinander zu verknüpfen sucht. Erfolgreich, meint Lüdke.
© Perlentaucher Medien GmbH
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