Im Schatten von Pinien gehen zwei Frauen in Italien am Meer spazieren. Mit dem Wasser, das ihre Füße umspült, kehrt die Erinnerung an ihre Kindheit in einer anderen Welt mit anderen Gesetzen zurück: an das Beirut der sechziger Jahre. Yvonne wächst in einer liberalen christlichen Familie in einem Haus am Meer auf; Hoda weit vom Wasser entfernt, im muslimischen Osten Beiruts, wo schon der Besitz eines Badeanzuges als Verbrechen gilt. Für Yvonne ist das Mittelmeer die selbstverständliche Kulisse erster Lieben und kleiner Triumphe; Hoda muss das Schwimmen im Verborgenen lernen, hinter den Mauern einer Badeanstalt, die einem lichtlosen Gefängnis gleicht. Yvonne und Hoda erinnern sich an eine Zeit voller Geheimnisse und Fluchten, in der das Schwimmen Freiheit, aber auch Furcht bedeutet. Hanan al-Shaykh erzählt mit Witz, großem Charme und scharfem Spott von den Abenteuern zweier Grenzgängerinnen zwischen Eros und Politik, die über alle Distanzen hinweg verbunden sind durch ihre Erinnerungen und ihre erste Begegnung mit dem Meer. "Sie gingen über rote Erde. Ein kleiner Weg führte hinab zum Meer. Hoda suchte eine schattige Stelle unter den Bäumen, aber Yvonne wollte lieber in der Sonne sitzen, direkt am Wasser. Am Ufer breiteten sie ihre Handtücher aus, Yvonne streifte ihre Shorts ab. Hoda zögerte noch, ihren Rock auszuziehen; das Licht oder die Luft, irgendetwas schien sie daran zu hindern. Doch da ergriff Yvonne ihre Hand, und sie rannten gemeinsam ins Wasser."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2002Gefährliche Schwester
Hanan al-Shaykh erzählt von den Untiefen des Strandurlaubs
Der libanesische Dichter Abduh Wazin, der das Buch für die große arabische Tageszeitung "al-Hayat" rezensierte, schnaubte vor Wut: Soll Hanan al-Shaykh ihre Bücher doch gleich in einer fremden Sprache schreiben, wenn der westliche Leser ihre Vorstellungswelt und ihr Gedächtnis so vollständig okkupiere. Was aber hätte er erst geschrieben, wenn er gewußt hätte, daß "Zwei Frauen am Meer" sogar ein Auftragswerk aus dem Westen ist? Die literarische Kreuzfahrt, zu der der Mare-Verlag einlädt, macht dankenswerterweise auch in einem arabischen Hafen halt. Die 1945 geborene Libanesin Hanan al-Shaykh zählt zu den bekanntesten und - jedenfalls im Westen - erfolgreichsten Autoren ihrer Heimat. Ihr Thema ist die Emanzipation der arabischen Frau im Spannungsfeld einer von Männern dominierten Gesellschaft und vor dem Hintergrund des libanesischen Bürgerkriegs.
Zwei erfolgreiche Frauen im besten Alter, Yvonne, libanesische Christin, und Hoda, libanesisch-schiitischer Herkunft, seit einigen Jahren befreundet, treffen sich an der italienischen Riviera, um ein paar entspannte Tage am Strand zu verbringen. Doch geschildert wird nur der erste Tag. Das Meer, das sie beide lieben, arbeitet wie ein Katalysator ihre unterschiedliche Sozialisierung heraus, wie sie sich immer noch in ihren Verhaltensweisen niederschlägt. Während Yvonne ein freies, ganz unverfängliches Verhältnis zum Meer hat, sich ohne Umstände von den Klippen ins Wasser stürzt und mit einer Gruppe junger Italiener anbändelt, traut Hoda sich kaum ins Wasser, hat Angst um ihre Frisur und läßt sich zwar auf einen Flirt ein, bleibt aber passiv.
Al-Shaykh schildert die Gefühle und Erinnerungen ihrer beiden Figuren wechselweise aus deren Innenperspektive. Für beide ist das Meer das große Symbol für die Emanzipation aus den Familienbanden, für die weite Welt, für Sinnlichkeit und Sexualität. Während Hoda vor ihren strenggläubigen Eltern ihren Badeanzug verstecken muß, sticht Yvonne noch ihre Brüder aus, wenn es darum geht, von den höchsten Felsen zu springen. "Du hast deinen Bruder kastriert", bekommt sie daraufhin von ihrer Mutter vorgehalten.
Hanan al-Shaykh, aus einer Kultur mit einem besseren Gedächtnis stammend, erinnert daran, daß Frauen und Meer einst eine durchaus explosive Mischung ergeben konnten. Im Westen hingegen wurde dies so gut wie vergessen, und in dieser Vergeßlichkeit der abgebrühten Strandurlauber geht das Bewußtsein für die alten kulturellen Sinnzuschreibungen des Meeres verloren, an die Hanan al-Shaykh anknüpft: seine allegorische Geschlechtlichkeit, seine bedrohliche Sinnlichkeit, die totale Entgrenzung, die es symbolisiert, und seine anarchische, alles Anerzogene hinwegspülende Kraft.
Abduh Wazin, der libanesische Kritiker, hat recht, wenn er Hanan al-Shaykh vorwirft, ihr Buch habe kein richtiges Ende, die beiden Freundinnen müßten den verschiedenen Zeitangaben zufolge älter sein, als es die Beschreibung ihrer Körper suggeriert, und der Tod von Hodas Vater, nachdem er sie im Badeanzug gesehen hat, sei wenig glaubwürdig. Doch das leichte Spiel mit den Klischees, das den libanesischen Kritiker irritiert, ist trügerisch: Es verbirgt die Abgründe, die der schmale Band bereithält.
STEFAN WEIDNER
Hanan al-Shaykh: "Zwei Frauen am Meer". Aus dem Arabischen übersetzt von Hartmut Fähndrich. marebuchverlag, Hamburg 2002. 127 S., geb., 18,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hanan al-Shaykh erzählt von den Untiefen des Strandurlaubs
Der libanesische Dichter Abduh Wazin, der das Buch für die große arabische Tageszeitung "al-Hayat" rezensierte, schnaubte vor Wut: Soll Hanan al-Shaykh ihre Bücher doch gleich in einer fremden Sprache schreiben, wenn der westliche Leser ihre Vorstellungswelt und ihr Gedächtnis so vollständig okkupiere. Was aber hätte er erst geschrieben, wenn er gewußt hätte, daß "Zwei Frauen am Meer" sogar ein Auftragswerk aus dem Westen ist? Die literarische Kreuzfahrt, zu der der Mare-Verlag einlädt, macht dankenswerterweise auch in einem arabischen Hafen halt. Die 1945 geborene Libanesin Hanan al-Shaykh zählt zu den bekanntesten und - jedenfalls im Westen - erfolgreichsten Autoren ihrer Heimat. Ihr Thema ist die Emanzipation der arabischen Frau im Spannungsfeld einer von Männern dominierten Gesellschaft und vor dem Hintergrund des libanesischen Bürgerkriegs.
Zwei erfolgreiche Frauen im besten Alter, Yvonne, libanesische Christin, und Hoda, libanesisch-schiitischer Herkunft, seit einigen Jahren befreundet, treffen sich an der italienischen Riviera, um ein paar entspannte Tage am Strand zu verbringen. Doch geschildert wird nur der erste Tag. Das Meer, das sie beide lieben, arbeitet wie ein Katalysator ihre unterschiedliche Sozialisierung heraus, wie sie sich immer noch in ihren Verhaltensweisen niederschlägt. Während Yvonne ein freies, ganz unverfängliches Verhältnis zum Meer hat, sich ohne Umstände von den Klippen ins Wasser stürzt und mit einer Gruppe junger Italiener anbändelt, traut Hoda sich kaum ins Wasser, hat Angst um ihre Frisur und läßt sich zwar auf einen Flirt ein, bleibt aber passiv.
Al-Shaykh schildert die Gefühle und Erinnerungen ihrer beiden Figuren wechselweise aus deren Innenperspektive. Für beide ist das Meer das große Symbol für die Emanzipation aus den Familienbanden, für die weite Welt, für Sinnlichkeit und Sexualität. Während Hoda vor ihren strenggläubigen Eltern ihren Badeanzug verstecken muß, sticht Yvonne noch ihre Brüder aus, wenn es darum geht, von den höchsten Felsen zu springen. "Du hast deinen Bruder kastriert", bekommt sie daraufhin von ihrer Mutter vorgehalten.
Hanan al-Shaykh, aus einer Kultur mit einem besseren Gedächtnis stammend, erinnert daran, daß Frauen und Meer einst eine durchaus explosive Mischung ergeben konnten. Im Westen hingegen wurde dies so gut wie vergessen, und in dieser Vergeßlichkeit der abgebrühten Strandurlauber geht das Bewußtsein für die alten kulturellen Sinnzuschreibungen des Meeres verloren, an die Hanan al-Shaykh anknüpft: seine allegorische Geschlechtlichkeit, seine bedrohliche Sinnlichkeit, die totale Entgrenzung, die es symbolisiert, und seine anarchische, alles Anerzogene hinwegspülende Kraft.
Abduh Wazin, der libanesische Kritiker, hat recht, wenn er Hanan al-Shaykh vorwirft, ihr Buch habe kein richtiges Ende, die beiden Freundinnen müßten den verschiedenen Zeitangaben zufolge älter sein, als es die Beschreibung ihrer Körper suggeriert, und der Tod von Hodas Vater, nachdem er sie im Badeanzug gesehen hat, sei wenig glaubwürdig. Doch das leichte Spiel mit den Klischees, das den libanesischen Kritiker irritiert, ist trügerisch: Es verbirgt die Abgründe, die der schmale Band bereithält.
STEFAN WEIDNER
Hanan al-Shaykh: "Zwei Frauen am Meer". Aus dem Arabischen übersetzt von Hartmut Fähndrich. marebuchverlag, Hamburg 2002. 127 S., geb., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
An einem italienischen Rivierastrand gehen zwei junge Frauen schwimmen, die beide aus dem Libanon stammen. So referiert Renate Wiggershaus die Ausgangssituation des Romans von Hanna al-Shaykh, die selbst aus dem Libanon stammt. Beide Frauen verbinden mit dem Schwimmen im Meer Erinnerungen an Wendepunkte in ihrem Leben, deren Beschreibung für die Rezensentin zu den Höhepunkten des "mit melodramatischen Effekten des Kinos, mit Zoom, Zeitlupe und Bildwiederholung arbeitenden Romans" gehören. Wiggershaus stellt fest, dass es auch in diesem Buch der Autorin um die Beziehungen zwischen Generationen und Geschlechtern geht, die durch Gesellschaft, Religion und Politik bedroht werden. Diese typisch arabischen Themen beleuchtet die Autorin aus der Sicht der Frauen und geht, zumindest im vorliegenden Roman, dabei "recht konventionell" vor, wie die Rezensentin bemerkt. Laut Wiggershaus haben die beiden Romanheldinnen bereits den ersten Schritt zur Selbstbefreiung getan, werden aber "dauernd durch des Gefühl irritiert", dass sie "auf einem endlos scheinenden Weg dem Glück nur wenig näher" kommen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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