Salman Rushdie erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2023 »für seine Unbeugsamkeit, seine Lebensbejahung und dafür, dass er mit seiner Erzählfreude die Welt bereichert.« (Aus der Begründung der Jury)
Salman Rushdie, einer der großen Schriftsteller unserer Zeit, erzählt in seinem neuen Roman eine zeitlose Liebesgeschichte, die in einer Welt spielt, in der die Unvernunft regiert. Dabei lässt er Historie und Mythologie miteinander verschmelzen.
Meisterhaft verwebt der Booker-Preisträger »ein intergalaktisches Supermärchen über den Krieg zwischen der Welt des Glaubens und der Welt der Vernunft« (DER SPIEGEL) und verwebt darin klassische Motive der morgenländischen Erzähltradition mit wichtigen Themen unserer Zeit - denn zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte ergeben tausendundeine Nacht.
Salman Rushdie, einer der großen Schriftsteller unserer Zeit, erzählt in seinem neuen Roman eine zeitlose Liebesgeschichte, die in einer Welt spielt, in der die Unvernunft regiert. Dabei lässt er Historie und Mythologie miteinander verschmelzen.
Meisterhaft verwebt der Booker-Preisträger »ein intergalaktisches Supermärchen über den Krieg zwischen der Welt des Glaubens und der Welt der Vernunft« (DER SPIEGEL) und verwebt darin klassische Motive der morgenländischen Erzähltradition mit wichtigen Themen unserer Zeit - denn zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte ergeben tausendundeine Nacht.
buecher-magazin.deDie Dschinn sind Wesen aus rauchlosem Feuer. Sie sind launisch und unberechenbar. Die weiblichen Dschinn sind noch rätselhafter und komplizierter. Im 12. Jahrhundert verliebt sich eine Prinzessin der Dschinn, Dunia, in einen sterblichen Mann, den Philosophen Ibn Ruschd. Ibn, ein Verfechter der Vernunft, führt einen Streit gegen den gläubigen islamischen Philosophen Ghazali - und legt damit den Grundstein für einen Kampf zwischen Gut und Böse, der Jahrhunderte später in der heutigen Wirklichkeit, in New York, stattfinden wird. Die vielen, über die ganze Erde verteilten Nachkommen von Dunia sind mittendrin, ohne sich ihrer übernatürlichen Kräfte bewusst zu sein. Salman Rushdie gelingt es auf eindrucksvolle Weise, die unterschiedlichsten Geschichten zu einem großen Ganzen zu verknüpfen. Dabei erzählt er fantasievoll, surreal und lustig, inspiriert von den Wundergeschichten Indiens und des Orients sowie den Märchen von "Tausendundeiner Nacht". Denn "Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte" ergeben genau das. Und wie Rushdie richtig bemerkt: "Wenn man eine Geschichte aus der Vergangenheit erzählt, erzählt man zugleich eine Geschichte über die Gegenwart."
© BÜCHERmagazin, Esther Acason
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"Rushdie gehört in eine Reihe mit den Großen der Weltliteratur." New York Times
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Angela Schader weiß, dass sich Salman Rushdie auf dem "Tummelplatz orientalischen Erzählens" wohler fühlt als auf den engen Bahnen theologisch-philosophischer Diskurse. Wenn Rushdie also in seinem märchenhaften Roman von den Zusammenstößen der Dschinns und der Menschen erzählt, deren Reiche in einer "Periode der Seltsamkeiten" kollidieren, dann sieht sie den Erzähler in seinem Element, dann findet sie Geistreiches, Zärtliches und Amüsantes. Wenn Rushdie jedoch Ibn Rushd beschwört als den hellsichtigen Denker des Mittelalters und al-Gazali als dessen finsteren Gegenspieler, dann ist ihr der Antagonismus von Aufklärung und Islam zu simpel.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.09.2015Gebt Salman Rushdie den Nobelpreis!
Sein neuer Roman ist schwach und bietet bloß verquere Mythen- und Zahlenspielerei. Seine wichtigsten Bücher aber sind Weltliteratur und verdienen allerhöchste Ehre.
Nein, für den neuen, mittlerweile zwölften Roman, der nun unter dem Titel "Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte" erscheint, darf Salman Rushdie weder Lob noch Preis erwarten. Es handelt sich um literarisches Allotria, bei dem der Autor seiner im vergangenen Jahrzehnt offenbar unbändig gewordenen Lust aufs ganz große und ganz freischwebende Fabulier- und Fantasyspektakel wieder ungezügelten Lauf lässt und damit den ob der unentwegten Handlungs- und Konstruktionskapriolen sehr rasch ermüdenden elften Roman, "Luka und das Lebensfeuer" (2011), durchaus nicht übertrifft.
Für die Obsession, es einem Tolkien oder einer Rowling, zumindest aber Hollywood-Epen wie "Ghostbusters", "Krieg der Sterne" oder "Krieg der Welten" einigermaßen gleichzutun, wirft Rushdie - es grenzt an Mutwillen, ist aber nicht untypisch für Nebenwerke - vieles von dem über Bord, was seine vier großen Romane - "Mitternachtskinder" (1983), "Scham und Schande" (1985), "Die Satanischen Verse" (1989) und "Des Mauren letzter Seufzer" (1996) - ebenso auszeichnet wie die vor drei Jahren publizierte Ausnahme-Autobiographie "Joseph Anton" und nicht wenige der glanzvollen Essays - jüngst etwa das eminente Werk- und Charakterporträt des 2014 gestorbenen Jahrhundertautors Gabriel García Márquez.
Ihnen allen gemein ist die Maßgenauigkeit des Schreibens angesichts der Maß-, Fassungs- und Formlosigkeit des Mitzuteilenden, ist die emphatische Verankerung der mythischen wie magischen Einfälle und Erzählschichten in der Realität einer heillos verworrenen, dafür desto luzider dargestellten und reflektierten Gegenwart und schließlich die Brillanz eines Stils, dessen Sprach- und Formenreichtum stets auf den Grundton einer so duldsamen wie streitbaren Humanität gestimmt bleibt.
Es sind diese Werke, die den gerade 68 Jahre alt gewordenen Salman Rushdie zum repräsentativen Schriftsteller unserer Zeit machen. Ihretwegen hat er in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche, darunter höchst renommierte Preise erhalten, weshalb es besonders auffällt, dass der repräsentativste und trotz der Dauerskepsis gegenüber seiner Auswahl- und Vergabepraxis auch renommierteste von allen, der Nobelpreis für Literatur, nicht unter ihnen ist. Es ist an der Zeit, dass die Schwedische Akademie Salman Rushdie damit ehrt. Am besten: jetzt gleich, in diesem Herbst.
Längst haben die "Mitternachtskinder" Klassikerstatus erlangt. Die Geschichte von Saleem Sinai und den Seinen, von ihm selbst erzählt, war zum Zeitpunkt ihres ersten Erscheinens für westliche Leser - aber keineswegs nur für sie - etwas ungeheuer Neues. Der indische Subkontinent, poetisch präsent, aber auch nostalgisch verklärt etwa durch Rudyard Kiplings "Dschungelbuch", Hermann Hesses "Siddhartha" oder E. M. Forsters "Auf der Suche nach Indien" gewann hier eine ganz eigene, unmittelbar gegenwärtige und radikal anti- wie postkoloniale Stimme. Rushdie, der sie ihm lieh, hatte seinerseits von den Vorbildern, zumal von García Márquez und Günter Grass, eine epochemachende Erzählweise adaptiert und originär fortentwickelt: den Magischen Realismus.
Zum Virtuosen des Genres aus ganz eigenem Recht wurde er nach der Zwischenstation des heftigen und harten Pakistan-Romans "Scham und Schande" dann just mit den "Satanischen Versen". Deren literarische Genialität nahm man zunächst kaum wahr, dann stand sie sehr lange im Schatten des Skandals und der Schande, die im Februar 1989 mit der Todes-Fatwa des Ajatollah Chomeini begannen, Rushdies japanischen Übersetzer das Leben kosteten, dessen italienischen Kollegen und den norwegischen Verleger des Buchs schwerverletzt überleben ließen und den Autor selbst in ein zehnjähriges Abtauchen unter den Schutzschirm des britischen Geheimdienstes nötigten.
Worum es sich bei diesem Werk handelt, hat keiner prägnanter und präziser formuliert als der säkulare Muslim und syrische Philosoph Sadik Al-Azm (der sich in unserer heutigen Ausgabe zu Adonis äußert, siehe vorige Seite). Im Essay "The Satanic Verses Post Festum" aus dem Jahr 2000 erklärte Al-Azm das Buch zum "transkulturellen, transnationalen, transkontinentalen Welt-Roman par excellence" und erkannte in ihm das zentrale ästhetische Dokument des globalen Zeitalters, weil es "den muslimischen Osten und den säkularen Westen zum allerersten Mal in eine religiöse, politische und literarische Kontroverse" zwang, damit auf lange Sicht und auf einer höheren Ebene aber womöglich miteinander zu verbinden begann.
Auch im weitgespannten, vom Indien der Gegenwart ins arabisch-muslimische Spanien des fünfzehnten Jahrhunderts zurückreichenden Familienroman "Des Mauren letzter Seufzer" sowie im Selbstbericht "Joseph Anton", der fraglos an die autobiographischen Bände von Elias Canetti, dem Literaturnobelpreisträger von 1981, heranreicht, hat Salman Rushdie über Themen gehandelt und von Schicksalen erzählt, die sich mit kollektiver Vertreibung und massenhafter Migration, mit pluraler, vielstimmiger Kultur und exkludierender Intoleranz, mit religiös fundiertem oder drapiertem Terror verbinden. Sein OEuvre könnte aktueller nicht sein, obwohl es sich jeder vordergründigen Aktualität entzieht - sich dafür jedoch gewiss sein darf, zu den bleibenden Manifestationen unserer Gegenwartsliteratur zu gehören.
Für Rushdies große Romane konstitutiv ist das Scheherazade-Motiv. Unmittelbar wirksam ist es für Saleem Sinai aus den "Mitternachtskindern" und Moraes Zogoiby, Hauptfigur des "Mauren"-Romans: Beide erzählen, stets im Angesicht des eigenen Todes, buchstäblich um ihr Leben. Der neue Roman spielt gleich im Titel auf Scheherazade an: Seine "Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte" ergeben eben haargenau "tausendundeine Nacht". Aber wie es für minore Werke gang und gäbe ist: Rushdie kann sich dieses Mal gar nicht mehr trennen von seiner Hommage an das orientalische Geschichtenfüllhorn. Alles, was seinen Figuren nun zupass- oder in die Quere kommt: Immer kommen 1001 Tage und Nächte dabei heraus.
Also währt, wir sind am Ende des zwölften Jahrhunderts im spanischen Provinzkaff Lucenda, die Liebesgeschichte zwischen dem Philosophen Ibn Ruschd alias Averroës und dem Flaschen-, Lampen-, Polter-, gerne indes auch betörende Menschenweiblichkeit annehmenden Metamorphosengeist mit Namen Dunia genau die sprichwörtliche Scheherazaden-Spanne lang.
Also benötigt die "Zeit der Seltsamkeiten", die wir uns kurz nach den Anschlägen des 11. September 2001 vorzustellen haben und die sich in London, vor allem aber in New York mit permanenten Blitzkaskaden, Straßenaufbrüchen und einstürzenden Alt- wie Neubauten Bahn bricht, just die nämliche Zahl an Sonnenaufgängen und Verfinsterungen wie der gleich anschließende große Krieg zwischen der Märchen- und Geisterwelt der Dschinn von Peristan und den Erdenmenschen hienieden, damit auch der guten und der bösen Dschinn unter- und gegeneinander.
Selbstredend mit der 1001. Nacht endet die Ehe des wackeren indischstämmigen Landschaftsgärtners Hieronymus Manezes, genannt Geronimo, mit der geliebten Ella Elfenbein, der Tochter eines amerikanischen Immobilienhais. Geronimo ist übrigens der Sympathieträger des Romans und die Lieblingsfigur des absolut anonymen und völlig konturlosen Erzählers, der jedoch beharrlich behauptet, die Geschichte, die er uns vom Anfang des 21. Jahrhunderts übermittle, habe sich bereits vor "mehr als tausend Jahren" zugetragen. Ob sie (ungefähr) im Jahr 3020 noch jemand hören, gar lesen will, sei bezweifelt. Von Rushdies Hauptwerken aber ist es zu hoffen, ja: zu wünschen. Mehr noch: Es soll so sein.
JOCHEN HIEBER.
Salman Rushdie: "Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte". Roman.
Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier. Verlag C. Bertelsmann, München 2015. 380 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Sein neuer Roman ist schwach und bietet bloß verquere Mythen- und Zahlenspielerei. Seine wichtigsten Bücher aber sind Weltliteratur und verdienen allerhöchste Ehre.
Nein, für den neuen, mittlerweile zwölften Roman, der nun unter dem Titel "Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte" erscheint, darf Salman Rushdie weder Lob noch Preis erwarten. Es handelt sich um literarisches Allotria, bei dem der Autor seiner im vergangenen Jahrzehnt offenbar unbändig gewordenen Lust aufs ganz große und ganz freischwebende Fabulier- und Fantasyspektakel wieder ungezügelten Lauf lässt und damit den ob der unentwegten Handlungs- und Konstruktionskapriolen sehr rasch ermüdenden elften Roman, "Luka und das Lebensfeuer" (2011), durchaus nicht übertrifft.
Für die Obsession, es einem Tolkien oder einer Rowling, zumindest aber Hollywood-Epen wie "Ghostbusters", "Krieg der Sterne" oder "Krieg der Welten" einigermaßen gleichzutun, wirft Rushdie - es grenzt an Mutwillen, ist aber nicht untypisch für Nebenwerke - vieles von dem über Bord, was seine vier großen Romane - "Mitternachtskinder" (1983), "Scham und Schande" (1985), "Die Satanischen Verse" (1989) und "Des Mauren letzter Seufzer" (1996) - ebenso auszeichnet wie die vor drei Jahren publizierte Ausnahme-Autobiographie "Joseph Anton" und nicht wenige der glanzvollen Essays - jüngst etwa das eminente Werk- und Charakterporträt des 2014 gestorbenen Jahrhundertautors Gabriel García Márquez.
Ihnen allen gemein ist die Maßgenauigkeit des Schreibens angesichts der Maß-, Fassungs- und Formlosigkeit des Mitzuteilenden, ist die emphatische Verankerung der mythischen wie magischen Einfälle und Erzählschichten in der Realität einer heillos verworrenen, dafür desto luzider dargestellten und reflektierten Gegenwart und schließlich die Brillanz eines Stils, dessen Sprach- und Formenreichtum stets auf den Grundton einer so duldsamen wie streitbaren Humanität gestimmt bleibt.
Es sind diese Werke, die den gerade 68 Jahre alt gewordenen Salman Rushdie zum repräsentativen Schriftsteller unserer Zeit machen. Ihretwegen hat er in den vergangenen Jahrzehnten zahlreiche, darunter höchst renommierte Preise erhalten, weshalb es besonders auffällt, dass der repräsentativste und trotz der Dauerskepsis gegenüber seiner Auswahl- und Vergabepraxis auch renommierteste von allen, der Nobelpreis für Literatur, nicht unter ihnen ist. Es ist an der Zeit, dass die Schwedische Akademie Salman Rushdie damit ehrt. Am besten: jetzt gleich, in diesem Herbst.
Längst haben die "Mitternachtskinder" Klassikerstatus erlangt. Die Geschichte von Saleem Sinai und den Seinen, von ihm selbst erzählt, war zum Zeitpunkt ihres ersten Erscheinens für westliche Leser - aber keineswegs nur für sie - etwas ungeheuer Neues. Der indische Subkontinent, poetisch präsent, aber auch nostalgisch verklärt etwa durch Rudyard Kiplings "Dschungelbuch", Hermann Hesses "Siddhartha" oder E. M. Forsters "Auf der Suche nach Indien" gewann hier eine ganz eigene, unmittelbar gegenwärtige und radikal anti- wie postkoloniale Stimme. Rushdie, der sie ihm lieh, hatte seinerseits von den Vorbildern, zumal von García Márquez und Günter Grass, eine epochemachende Erzählweise adaptiert und originär fortentwickelt: den Magischen Realismus.
Zum Virtuosen des Genres aus ganz eigenem Recht wurde er nach der Zwischenstation des heftigen und harten Pakistan-Romans "Scham und Schande" dann just mit den "Satanischen Versen". Deren literarische Genialität nahm man zunächst kaum wahr, dann stand sie sehr lange im Schatten des Skandals und der Schande, die im Februar 1989 mit der Todes-Fatwa des Ajatollah Chomeini begannen, Rushdies japanischen Übersetzer das Leben kosteten, dessen italienischen Kollegen und den norwegischen Verleger des Buchs schwerverletzt überleben ließen und den Autor selbst in ein zehnjähriges Abtauchen unter den Schutzschirm des britischen Geheimdienstes nötigten.
Worum es sich bei diesem Werk handelt, hat keiner prägnanter und präziser formuliert als der säkulare Muslim und syrische Philosoph Sadik Al-Azm (der sich in unserer heutigen Ausgabe zu Adonis äußert, siehe vorige Seite). Im Essay "The Satanic Verses Post Festum" aus dem Jahr 2000 erklärte Al-Azm das Buch zum "transkulturellen, transnationalen, transkontinentalen Welt-Roman par excellence" und erkannte in ihm das zentrale ästhetische Dokument des globalen Zeitalters, weil es "den muslimischen Osten und den säkularen Westen zum allerersten Mal in eine religiöse, politische und literarische Kontroverse" zwang, damit auf lange Sicht und auf einer höheren Ebene aber womöglich miteinander zu verbinden begann.
Auch im weitgespannten, vom Indien der Gegenwart ins arabisch-muslimische Spanien des fünfzehnten Jahrhunderts zurückreichenden Familienroman "Des Mauren letzter Seufzer" sowie im Selbstbericht "Joseph Anton", der fraglos an die autobiographischen Bände von Elias Canetti, dem Literaturnobelpreisträger von 1981, heranreicht, hat Salman Rushdie über Themen gehandelt und von Schicksalen erzählt, die sich mit kollektiver Vertreibung und massenhafter Migration, mit pluraler, vielstimmiger Kultur und exkludierender Intoleranz, mit religiös fundiertem oder drapiertem Terror verbinden. Sein OEuvre könnte aktueller nicht sein, obwohl es sich jeder vordergründigen Aktualität entzieht - sich dafür jedoch gewiss sein darf, zu den bleibenden Manifestationen unserer Gegenwartsliteratur zu gehören.
Für Rushdies große Romane konstitutiv ist das Scheherazade-Motiv. Unmittelbar wirksam ist es für Saleem Sinai aus den "Mitternachtskindern" und Moraes Zogoiby, Hauptfigur des "Mauren"-Romans: Beide erzählen, stets im Angesicht des eigenen Todes, buchstäblich um ihr Leben. Der neue Roman spielt gleich im Titel auf Scheherazade an: Seine "Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte" ergeben eben haargenau "tausendundeine Nacht". Aber wie es für minore Werke gang und gäbe ist: Rushdie kann sich dieses Mal gar nicht mehr trennen von seiner Hommage an das orientalische Geschichtenfüllhorn. Alles, was seinen Figuren nun zupass- oder in die Quere kommt: Immer kommen 1001 Tage und Nächte dabei heraus.
Also währt, wir sind am Ende des zwölften Jahrhunderts im spanischen Provinzkaff Lucenda, die Liebesgeschichte zwischen dem Philosophen Ibn Ruschd alias Averroës und dem Flaschen-, Lampen-, Polter-, gerne indes auch betörende Menschenweiblichkeit annehmenden Metamorphosengeist mit Namen Dunia genau die sprichwörtliche Scheherazaden-Spanne lang.
Also benötigt die "Zeit der Seltsamkeiten", die wir uns kurz nach den Anschlägen des 11. September 2001 vorzustellen haben und die sich in London, vor allem aber in New York mit permanenten Blitzkaskaden, Straßenaufbrüchen und einstürzenden Alt- wie Neubauten Bahn bricht, just die nämliche Zahl an Sonnenaufgängen und Verfinsterungen wie der gleich anschließende große Krieg zwischen der Märchen- und Geisterwelt der Dschinn von Peristan und den Erdenmenschen hienieden, damit auch der guten und der bösen Dschinn unter- und gegeneinander.
Selbstredend mit der 1001. Nacht endet die Ehe des wackeren indischstämmigen Landschaftsgärtners Hieronymus Manezes, genannt Geronimo, mit der geliebten Ella Elfenbein, der Tochter eines amerikanischen Immobilienhais. Geronimo ist übrigens der Sympathieträger des Romans und die Lieblingsfigur des absolut anonymen und völlig konturlosen Erzählers, der jedoch beharrlich behauptet, die Geschichte, die er uns vom Anfang des 21. Jahrhunderts übermittle, habe sich bereits vor "mehr als tausend Jahren" zugetragen. Ob sie (ungefähr) im Jahr 3020 noch jemand hören, gar lesen will, sei bezweifelt. Von Rushdies Hauptwerken aber ist es zu hoffen, ja: zu wünschen. Mehr noch: Es soll so sein.
JOCHEN HIEBER.
Salman Rushdie: "Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte". Roman.
Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier. Verlag C. Bertelsmann, München 2015. 380 S., geb., 19,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.09.2015Märchen
und
Moderne
Salman Rushdies neuer Roman
ist ein Kampf der Welten
VON LOTHAR MÜLLER
Im Frühjahr 1989 sah sich Salman Rushdie seines Vornamens beraubt. Auf den Plakaten, die Demonstranten auf den Straßen iranischer Städte hochreckten, wurde unter seinem mit Hörnern versehenen Porträt, aus dem eine große rote Zunge heraushing, dazu aufgerufen, „Satan Rushdie“ zu hängen. Der Autor war mit dem Titel seines Buches „Die satanischen Verse“ verschmolzen, „welches sich gegen den Islam, den Propheten und den Koran richtet“. Mit dieser Formel hatte der Ayatollah Chomeini im Februar 1989 den Autor „sowie alle, die zur Publikation des Buches beigetragen haben“, zum Tode verurteilt und hinzugefügt: „Ich bitte sämtliche Muslime, die Betroffenen hinzurichten, wo immer sie auch sein mögen.“
In seinem autobiografischen Bericht über sein Leben unter der Drohung der Fatwa gibt es zur Verwandlung von Salman in „Satan Rushdie“ eine doppelte Gegenbewegung. Die eine hält der Titel des 2012 erschienenen Berichts fest: „Joseph Anton“. Das ist der Deckname, den Rushdie für sein Leben unter Polizeischutz wählte, seine aus den Vornamen von Joseph Conrad und Anton Tschechow verfertigte Tarnkappe. Ein Allerweltsname, in dem sich Portalfiguren der literarischen Moderne als Schutzheilige verbergen. Die zweite Gegenbewegung des Verteufelten geht aus dem Geschenk hervor, das ihm sein Vater Anis macht: seinem Nachnamen.
Diesen Namen, „Rushdie“, hat der Vater erfunden, der Großvater hieß noch Khawaja Muhammad Din Khaliqi Dehlavi. „Anis nannte sich in ,Rushdie‘ um aus Bewunderung für Ibn Ruschd, Averroes für den Westen, jenen spanisch-arabischen Philosophen des zwölften Jahrhunderts aus Córdoba, der zum quadi, Richter von Sevilla aufstieg, den Übersetzer und renommierten Kommentator der Werke von Aristoteles. Sein Sohn trug den Nachnamen zwei Jahrzehnte, ehe ihm aufging, dass sein Vater, ein wahrer Gelehrter des Islam, dem jeder religiöse Glaube abging, sich für diesen Namen entschied, weil er an Ibn Ruschd schätzte, dass er zu seiner Zeit an vorderster Front den rationalen Diskurs gegen eine allzu buchstabengetreue Koranauslegung geführt hatte“.
Mit dem Kapitel „Die Kinder des Ibn Ruschd“ beginnt der neue Roman von Salman Rushdie „Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte“. Der Philosoph, er ist in ein Dorf bei Córdoba verbannt, erhält darin Besuch von einem weiblichen Dschinn, einer Dschinnya. Sie kommt in Gestalt eines Mädchens aus einer der jüdischen Familien in sein Haus, „die nicht mehr sagen durften, dass sie Juden waren“. Als Dschinnya, die man sich als Schattenfrau aus feuerlosem Rauch vorzustellen hat, entstammt die junge Dunia zugleich der Welt der Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht. Sie wird die Geliebte des Philosophen, der mit ihr eine Vielzahl von Nachkommen zeugt. Sie heißen Duniazát, nach ihrer Mutter und zugleich nach der Schwester Scheherazades, und haben alle angewachsene Ohrläppchen.
In „Joseph Anton“ hat Salman Rushdie sein Leben als Leser und Autor aus dem zweiten Geschenk hervorgehen lassen, das er neben seinem Nachnamen dem Vater verdankt: aus der frühen Vertrautheit mit den Dschinns in Flaschen, fliegenden Teppichen und Wunderlampen aus Tausendundeiner Nacht, und ihren altindischen Gegenstücken, den Tierfabeln aus dem Panchatantra und den Erzählströmen des Kathasaritsagara. Seit den „Mitternachtskindern“ schöpft Rushdie aus diesem Reservoir, und nicht erst seit der Fatwa des Ayatollah Chomeini geht seine Einschmelzung der Mythen und Märchen in die moderne Literatur mit der resoluten Verteidigung der Rechte des säkularen Autors einher, mit der Berufung auf „Aufklärung“ und „Vernunft“, auf die „Befreiung der Philosophie und der Bildung von den Fesseln der Theologie“.
„Wenigstens ziehe ich mit dem passenden Namen in die Schlacht“, das war Rushdies Selbstbehauptungsformel gegen die Fatwa. Nun verwickelt er Ibn Ruschd in eine Liebesgeschichte mit dem Wunderbaren: zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte dauert diese Geschichte, das ist die mathematisch-kalendarische Verschlüsselung der magischen Zahl „1001“. Und zugleich verwickelt er Ibn Ruschd in eine Fehde mit seinem Widerpart al-Ghazali.
Mit den realen Philosophen des 12. Jahrhunderts sind sie nur lose verwandt, um im Roman eine klare Opposition repräsentieren zu können: Ibn Ruschd als Anwalt der Rationalität, der das kausale Denken, Wissenschaft und die Vernunft gegen die Allerklärungsansprüche der Religion zur Geltung bringt, al-Ghasali als konservativer Anwalt der islamischen Orthodoxie.
Es sind aber nicht die Philosophen selbst, die in diesem Roman ihren Widerstreit austragen. Das tun vielmehr die Dschinns, die hellen wie die dunklen, diejenigen, in denen der Geist der Lebenslust herrscht, und diejenigen, die als Agenten der Angst und des Schreckens agieren. Denn das ist in dieser Welt der Verzauberungen und Abenteuer seit dem ersten Auftreten Ibn Ruschds klar: Religion nährt sich von Angst. Sie ist die Rivalin aller Liebesgeschichten zwischen dem Wunderbaren und der Vernunft.
Auf drei Zeitebenen hat Rushdie seinen Roman angesiedelt. Im zwölften Jahrhundert nimmt er seinen großen Anlauf, um dann über mehr als 800 Jahre hinweg in die nähere Zukunft der Gegenwart zu springen, nach New York, das von einem großen verheerenden Sturm heimgesucht wird, dem Auftakt zu einem zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte währenden „Kampf der Welten“, in dem die Dschinns ihren Streit statt in ihrer Welt, dem Märchenland Peristan, in der Welt der Menschen austragen. Die dritte Schicht ist das Off, aus dem heraus ein kollektives „Wir“ erzählt, fast ein Millennium später auf die ausgestandenen Kämpfe zurückblickend, befreit vom Schrecken, aber auch von der Fähigkeit zu träumen. Das letzte Wort des Romans aber ist das nicht, es lautet vielmehr: „Manchmal sehnen wir uns nach Albträumen.“
Salman Rushdie, immer schon ein Freund der unreinen Mischungen von Genres und Stilen, setzt eine Gesamtentfesselung aller Medien des Wunderbaren und Fantastischen ins Werk, ehe am Ende die Einsicht steht, dass ohne die Albträume der Roman an Entzugserscheinungen leiden würde. Wenn im Sturm, der über New York hereinbricht, der dunkle Dschinn ein ganzes Boot der South Ferry verschlingt, rivalisiert er mit dem Katastrophenfilm. Ein eher erfolgloser Comiczeichner wird selber zum Helden einer Endlosserie, als ihm durch eines der Löcher, die sich in New York zur Welt der Dschinns auftun, eine seiner eigenen Figuren gegenübertritt.
Im Showdown zwischen der Dschinnya, die über den Blitz gebietet, und ihren dunklen Widersachern, geht aus Zaubersprüchen die ganz große Action hervor. Spott, Slang, drastische Wortwahl und hohe Pointendichte säumen die abschüssige Bahn, auf der die Regeln des normalen Alltags und die Gesetze der Natur außer Kraft gesetzt werden. Und ein schmales Mietshaus in einem schmalen Block im Abseits New Yorks heißt „Bagdad“. Hier in „Aladin City“ erzählt Blue Yasmeen, Künstlerin für Performance, Installation und Graffiti, Lügengeschichten.
Im „Bagdad“ wohnt Mr. Geronimo, die heimliche Hauptfigur des Romans, der zugunsten der Geisterbahnfahrt durch alle Genres darauf verzichtet, eine Hauptfigur zu haben. Mr. Geronimo ist der Gegenpol zur Hektik und Actionparodie, mit der es Mr. Rushdie gelegentlich bis zum Leerlauf übertreibt. Er wird als stille Figur der Unruhe in die Kämpfe der Dschinns, die Liebesgeschichten und Katastrophen hineingezogen. Von ihm heißt es in einem jener Sätze, mit denen große Erzählungen beginnen: „Am Mittwoch nach dem großen Sturm bemerkte Mr. Geronimo zum ersten Mal, dass seine Füße den Boden nicht mehr berührten.“ Mr. Geronimo wird von der Aufhebung der Gravitation befallen wie von einer Krankheit. Seine Levitation ist Ausdruck des Zerfalls der gewohnten Ordnung. Er wird geheilt werden, aber sein Schweben über dem Erdboden (und über dem Bett, was die Komik seiner Liebesgeschichte befördert,) prägt sich ein, weil er der Erde verbunden ist. Er ist Gärtner, Rushdie hat sich ihn beim „Candide“ Voltaires ausgeliehen, dessen Schlusssatz Mr. Geronimo auf seine Weise beherzigt: il faut cultiver son jardin, man muss seinen Garten bestellen.
Allzu leicht verbinden wir Feenwelten, Träume, Zauberer und 1oo1 Nacht mit der literarischen Romantik. Das Feenmärchen war aber eine Paradedisziplin der Aufklärung, nicht zuletzt ihrer Neigung zu Libertinage und Frivolität (auch davon zehrt Rushdie). Voltaire spottete gelegentlich über 1001 Nacht, las darin aber hingebungsvoll und schrieb Erzählungen voller orientalischem Personal.
Rushdie streut in die Turbulenzen seines „Kriegs der Welten“ Warnungen vor dem „Heranziehen der Religion als Rechtfertigung für Unterdrückung, Verbreitung von Angst, Tyrannei und Verübung von Gräueltaten“ ein. Manche Passagen, in denen dunkle Dschinns „Orgien von Enthauptungen, Kreuzigungen und Steinigungen“ feiern, wirken wie direkt aus den Nachrichten in den Roman kopiert. Sie illustrieren die Skepsis Rushdies gegenüber aller Religion, deren Ansprüchen auf die Innenwelt der Menschen er mit Voltaire das Bündnis der Vernunft mit dem Wunderbaren entgegensetzt. Mr. Geronimo begnügt sich nicht damit, etwas zu illustrieren. Er bleibt selber als Bild haften.
Salman Rushdie: Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte. Roman. Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier. C. Bertelsmann Verlag, München 2015. 380 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Am Mittwoch
nach dem großen
Sturm bemerkte
Mr. Geronimo
zum ersten Mal,
dass seine Füße
den Boden
nicht mehr
berührten.
Der Religion setzt Rushdie
das Bündnis der Vernunft mit
dem Wunderbaren entgegen
Sein neues Buch umspannt 800 Jahre – und ist ganz große Action: Salman Rushdie.
Foto: Mauritius Images
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und
Moderne
Salman Rushdies neuer Roman
ist ein Kampf der Welten
VON LOTHAR MÜLLER
Im Frühjahr 1989 sah sich Salman Rushdie seines Vornamens beraubt. Auf den Plakaten, die Demonstranten auf den Straßen iranischer Städte hochreckten, wurde unter seinem mit Hörnern versehenen Porträt, aus dem eine große rote Zunge heraushing, dazu aufgerufen, „Satan Rushdie“ zu hängen. Der Autor war mit dem Titel seines Buches „Die satanischen Verse“ verschmolzen, „welches sich gegen den Islam, den Propheten und den Koran richtet“. Mit dieser Formel hatte der Ayatollah Chomeini im Februar 1989 den Autor „sowie alle, die zur Publikation des Buches beigetragen haben“, zum Tode verurteilt und hinzugefügt: „Ich bitte sämtliche Muslime, die Betroffenen hinzurichten, wo immer sie auch sein mögen.“
In seinem autobiografischen Bericht über sein Leben unter der Drohung der Fatwa gibt es zur Verwandlung von Salman in „Satan Rushdie“ eine doppelte Gegenbewegung. Die eine hält der Titel des 2012 erschienenen Berichts fest: „Joseph Anton“. Das ist der Deckname, den Rushdie für sein Leben unter Polizeischutz wählte, seine aus den Vornamen von Joseph Conrad und Anton Tschechow verfertigte Tarnkappe. Ein Allerweltsname, in dem sich Portalfiguren der literarischen Moderne als Schutzheilige verbergen. Die zweite Gegenbewegung des Verteufelten geht aus dem Geschenk hervor, das ihm sein Vater Anis macht: seinem Nachnamen.
Diesen Namen, „Rushdie“, hat der Vater erfunden, der Großvater hieß noch Khawaja Muhammad Din Khaliqi Dehlavi. „Anis nannte sich in ,Rushdie‘ um aus Bewunderung für Ibn Ruschd, Averroes für den Westen, jenen spanisch-arabischen Philosophen des zwölften Jahrhunderts aus Córdoba, der zum quadi, Richter von Sevilla aufstieg, den Übersetzer und renommierten Kommentator der Werke von Aristoteles. Sein Sohn trug den Nachnamen zwei Jahrzehnte, ehe ihm aufging, dass sein Vater, ein wahrer Gelehrter des Islam, dem jeder religiöse Glaube abging, sich für diesen Namen entschied, weil er an Ibn Ruschd schätzte, dass er zu seiner Zeit an vorderster Front den rationalen Diskurs gegen eine allzu buchstabengetreue Koranauslegung geführt hatte“.
Mit dem Kapitel „Die Kinder des Ibn Ruschd“ beginnt der neue Roman von Salman Rushdie „Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte“. Der Philosoph, er ist in ein Dorf bei Córdoba verbannt, erhält darin Besuch von einem weiblichen Dschinn, einer Dschinnya. Sie kommt in Gestalt eines Mädchens aus einer der jüdischen Familien in sein Haus, „die nicht mehr sagen durften, dass sie Juden waren“. Als Dschinnya, die man sich als Schattenfrau aus feuerlosem Rauch vorzustellen hat, entstammt die junge Dunia zugleich der Welt der Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht. Sie wird die Geliebte des Philosophen, der mit ihr eine Vielzahl von Nachkommen zeugt. Sie heißen Duniazát, nach ihrer Mutter und zugleich nach der Schwester Scheherazades, und haben alle angewachsene Ohrläppchen.
In „Joseph Anton“ hat Salman Rushdie sein Leben als Leser und Autor aus dem zweiten Geschenk hervorgehen lassen, das er neben seinem Nachnamen dem Vater verdankt: aus der frühen Vertrautheit mit den Dschinns in Flaschen, fliegenden Teppichen und Wunderlampen aus Tausendundeiner Nacht, und ihren altindischen Gegenstücken, den Tierfabeln aus dem Panchatantra und den Erzählströmen des Kathasaritsagara. Seit den „Mitternachtskindern“ schöpft Rushdie aus diesem Reservoir, und nicht erst seit der Fatwa des Ayatollah Chomeini geht seine Einschmelzung der Mythen und Märchen in die moderne Literatur mit der resoluten Verteidigung der Rechte des säkularen Autors einher, mit der Berufung auf „Aufklärung“ und „Vernunft“, auf die „Befreiung der Philosophie und der Bildung von den Fesseln der Theologie“.
„Wenigstens ziehe ich mit dem passenden Namen in die Schlacht“, das war Rushdies Selbstbehauptungsformel gegen die Fatwa. Nun verwickelt er Ibn Ruschd in eine Liebesgeschichte mit dem Wunderbaren: zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte dauert diese Geschichte, das ist die mathematisch-kalendarische Verschlüsselung der magischen Zahl „1001“. Und zugleich verwickelt er Ibn Ruschd in eine Fehde mit seinem Widerpart al-Ghazali.
Mit den realen Philosophen des 12. Jahrhunderts sind sie nur lose verwandt, um im Roman eine klare Opposition repräsentieren zu können: Ibn Ruschd als Anwalt der Rationalität, der das kausale Denken, Wissenschaft und die Vernunft gegen die Allerklärungsansprüche der Religion zur Geltung bringt, al-Ghasali als konservativer Anwalt der islamischen Orthodoxie.
Es sind aber nicht die Philosophen selbst, die in diesem Roman ihren Widerstreit austragen. Das tun vielmehr die Dschinns, die hellen wie die dunklen, diejenigen, in denen der Geist der Lebenslust herrscht, und diejenigen, die als Agenten der Angst und des Schreckens agieren. Denn das ist in dieser Welt der Verzauberungen und Abenteuer seit dem ersten Auftreten Ibn Ruschds klar: Religion nährt sich von Angst. Sie ist die Rivalin aller Liebesgeschichten zwischen dem Wunderbaren und der Vernunft.
Auf drei Zeitebenen hat Rushdie seinen Roman angesiedelt. Im zwölften Jahrhundert nimmt er seinen großen Anlauf, um dann über mehr als 800 Jahre hinweg in die nähere Zukunft der Gegenwart zu springen, nach New York, das von einem großen verheerenden Sturm heimgesucht wird, dem Auftakt zu einem zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte währenden „Kampf der Welten“, in dem die Dschinns ihren Streit statt in ihrer Welt, dem Märchenland Peristan, in der Welt der Menschen austragen. Die dritte Schicht ist das Off, aus dem heraus ein kollektives „Wir“ erzählt, fast ein Millennium später auf die ausgestandenen Kämpfe zurückblickend, befreit vom Schrecken, aber auch von der Fähigkeit zu träumen. Das letzte Wort des Romans aber ist das nicht, es lautet vielmehr: „Manchmal sehnen wir uns nach Albträumen.“
Salman Rushdie, immer schon ein Freund der unreinen Mischungen von Genres und Stilen, setzt eine Gesamtentfesselung aller Medien des Wunderbaren und Fantastischen ins Werk, ehe am Ende die Einsicht steht, dass ohne die Albträume der Roman an Entzugserscheinungen leiden würde. Wenn im Sturm, der über New York hereinbricht, der dunkle Dschinn ein ganzes Boot der South Ferry verschlingt, rivalisiert er mit dem Katastrophenfilm. Ein eher erfolgloser Comiczeichner wird selber zum Helden einer Endlosserie, als ihm durch eines der Löcher, die sich in New York zur Welt der Dschinns auftun, eine seiner eigenen Figuren gegenübertritt.
Im Showdown zwischen der Dschinnya, die über den Blitz gebietet, und ihren dunklen Widersachern, geht aus Zaubersprüchen die ganz große Action hervor. Spott, Slang, drastische Wortwahl und hohe Pointendichte säumen die abschüssige Bahn, auf der die Regeln des normalen Alltags und die Gesetze der Natur außer Kraft gesetzt werden. Und ein schmales Mietshaus in einem schmalen Block im Abseits New Yorks heißt „Bagdad“. Hier in „Aladin City“ erzählt Blue Yasmeen, Künstlerin für Performance, Installation und Graffiti, Lügengeschichten.
Im „Bagdad“ wohnt Mr. Geronimo, die heimliche Hauptfigur des Romans, der zugunsten der Geisterbahnfahrt durch alle Genres darauf verzichtet, eine Hauptfigur zu haben. Mr. Geronimo ist der Gegenpol zur Hektik und Actionparodie, mit der es Mr. Rushdie gelegentlich bis zum Leerlauf übertreibt. Er wird als stille Figur der Unruhe in die Kämpfe der Dschinns, die Liebesgeschichten und Katastrophen hineingezogen. Von ihm heißt es in einem jener Sätze, mit denen große Erzählungen beginnen: „Am Mittwoch nach dem großen Sturm bemerkte Mr. Geronimo zum ersten Mal, dass seine Füße den Boden nicht mehr berührten.“ Mr. Geronimo wird von der Aufhebung der Gravitation befallen wie von einer Krankheit. Seine Levitation ist Ausdruck des Zerfalls der gewohnten Ordnung. Er wird geheilt werden, aber sein Schweben über dem Erdboden (und über dem Bett, was die Komik seiner Liebesgeschichte befördert,) prägt sich ein, weil er der Erde verbunden ist. Er ist Gärtner, Rushdie hat sich ihn beim „Candide“ Voltaires ausgeliehen, dessen Schlusssatz Mr. Geronimo auf seine Weise beherzigt: il faut cultiver son jardin, man muss seinen Garten bestellen.
Allzu leicht verbinden wir Feenwelten, Träume, Zauberer und 1oo1 Nacht mit der literarischen Romantik. Das Feenmärchen war aber eine Paradedisziplin der Aufklärung, nicht zuletzt ihrer Neigung zu Libertinage und Frivolität (auch davon zehrt Rushdie). Voltaire spottete gelegentlich über 1001 Nacht, las darin aber hingebungsvoll und schrieb Erzählungen voller orientalischem Personal.
Rushdie streut in die Turbulenzen seines „Kriegs der Welten“ Warnungen vor dem „Heranziehen der Religion als Rechtfertigung für Unterdrückung, Verbreitung von Angst, Tyrannei und Verübung von Gräueltaten“ ein. Manche Passagen, in denen dunkle Dschinns „Orgien von Enthauptungen, Kreuzigungen und Steinigungen“ feiern, wirken wie direkt aus den Nachrichten in den Roman kopiert. Sie illustrieren die Skepsis Rushdies gegenüber aller Religion, deren Ansprüchen auf die Innenwelt der Menschen er mit Voltaire das Bündnis der Vernunft mit dem Wunderbaren entgegensetzt. Mr. Geronimo begnügt sich nicht damit, etwas zu illustrieren. Er bleibt selber als Bild haften.
Salman Rushdie: Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte. Roman. Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier. C. Bertelsmann Verlag, München 2015. 380 Seiten, 19,99 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Am Mittwoch
nach dem großen
Sturm bemerkte
Mr. Geronimo
zum ersten Mal,
dass seine Füße
den Boden
nicht mehr
berührten.
Der Religion setzt Rushdie
das Bündnis der Vernunft mit
dem Wunderbaren entgegen
Sein neues Buch umspannt 800 Jahre – und ist ganz große Action: Salman Rushdie.
Foto: Mauritius Images
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"Gebt Salman Rushdie den Nobelpreis! Sein _uvre könnte aktueller nicht sein, obwohl es sich jeder vordergründigen Aktualität entzieht - sich dafür jedoch gewiss sein darf, zu den bleibenden Manifestationen unserer Gegenwartsliteratur zu gehören." Frankfurter Allgemeine Zeitung