In jedem Leben gibt es den Augenblick, wo das Glück an die Grenzen des Vorstellbaren stößt.
Nach einem Nomadenleben in Amerika, Südostasien und Osteuropa haben sie sich getrennt: Edith und Leonard, zwei Menschen, die nicht wieder zusammen finden und nicht voneinander lassen können. Was sie verbindet, ist ihr Sohn Gabriel und die Frage, was diesem in seiner Kindheit zugestoßen ist und ihn zum Außenseiter gemacht hat. In langen Briefen an den Ex-Mann, die sie freilich nie abschicken wird, versucht sich Edith noch einmal über ihr Leben und ihr Schicksal Klarheit zu verschaffen und darüber, woran ihre Liebe zerbrach - und ihr Glück.
Nach einem Nomadenleben in Amerika, Südostasien und Osteuropa haben sie sich getrennt: Edith und Leonard, zwei Menschen, die nicht wieder zusammen finden und nicht voneinander lassen können. Was sie verbindet, ist ihr Sohn Gabriel und das unablässige Grübeln darüber, was diesem in seiner Kindheit zugestoßen ist und ihn zum Außenseiter gemacht hat. Mit dem inzwischen erwachsenen Sohn kehrt Edith in das Haus ihrer Kindheit in Österreich zurück. Hier beginnt sie, Briefe an Leonard zu schreiben, in denen sie sich an die Jahre ihres Zusammenlebens erinnert - an Augenblicke des Glücks und der selbstzerstörerischen Kämpfe, an den Aufbruch in immer neue Länder, an Bedrohungen und Furcht in einem Leben ohne Netz und Zugehörigkeit. Sie fragt sich und Leonard, warum sie einander, obwohl sie sich liebten, doch immer verfehlten. Und sie fragt, ob sie Schuld tragen an dem Schicksal ihres Sohnes. In diesen Briefen denkt Edith aber auch über den großen Exzentriker der amerikanischen Literatur, Herman Melville, nach, für den sie und Leonard sich früh schon so rauschhaft begeistert hatten, dass sie gemeinsam ein Buch über das Leben des geheimnisvollen Außenseiters und sein Werk schreiben wollten - den unbehausten Reisenden, dessen Schicksal ihnen oft wie ein Schlüssel für ihr eigenes Leben vorgekommen war, für das Anderssein ihres Sohnes, für Gabriels Scheitern an der Welt.
Szenen einer Liebe, einer zerbrochenen Ehe und Stationen eines vorgezeichneten Weges, der Gabriel in ein grausames Ende führen wird, finden Spiegelungen und Gegenbilder in Episoden aus dem Leben und Werk des Dichters, der an seiner Zeit und dem Unverständnis seiner Zeitgenossen zerbrach. Nach "Haus der Kindheit" und "Familienfest" legt Anna Mitgutsch einen neuen virtuosen Roman vor, ein sprachliches Meisterwerk von ungewöhnlicher Dichte und Klarheit.
"Ich habe meine Erinnerungen immer wieder durchgespielt, sie einzeln betrachtet wie unter einer Lupe, Zentimeter für Zentimeter, und alle erdenklichen Bedeutungen aus ihnen herausgepresst. Ich weiß noch immer nicht, ob wir unsere Fehler hätten vermeiden können und ob wir die Gelegenheit ergriffen hätten, wenn uns klar gewesen wäre, dass einem das Glück nicht alle Tage einen Happen hin wirft."
Nach einem Nomadenleben in Amerika, Südostasien und Osteuropa haben sie sich getrennt: Edith und Leonard, zwei Menschen, die nicht wieder zusammen finden und nicht voneinander lassen können. Was sie verbindet, ist ihr Sohn Gabriel und die Frage, was diesem in seiner Kindheit zugestoßen ist und ihn zum Außenseiter gemacht hat. In langen Briefen an den Ex-Mann, die sie freilich nie abschicken wird, versucht sich Edith noch einmal über ihr Leben und ihr Schicksal Klarheit zu verschaffen und darüber, woran ihre Liebe zerbrach - und ihr Glück.
Nach einem Nomadenleben in Amerika, Südostasien und Osteuropa haben sie sich getrennt: Edith und Leonard, zwei Menschen, die nicht wieder zusammen finden und nicht voneinander lassen können. Was sie verbindet, ist ihr Sohn Gabriel und das unablässige Grübeln darüber, was diesem in seiner Kindheit zugestoßen ist und ihn zum Außenseiter gemacht hat. Mit dem inzwischen erwachsenen Sohn kehrt Edith in das Haus ihrer Kindheit in Österreich zurück. Hier beginnt sie, Briefe an Leonard zu schreiben, in denen sie sich an die Jahre ihres Zusammenlebens erinnert - an Augenblicke des Glücks und der selbstzerstörerischen Kämpfe, an den Aufbruch in immer neue Länder, an Bedrohungen und Furcht in einem Leben ohne Netz und Zugehörigkeit. Sie fragt sich und Leonard, warum sie einander, obwohl sie sich liebten, doch immer verfehlten. Und sie fragt, ob sie Schuld tragen an dem Schicksal ihres Sohnes. In diesen Briefen denkt Edith aber auch über den großen Exzentriker der amerikanischen Literatur, Herman Melville, nach, für den sie und Leonard sich früh schon so rauschhaft begeistert hatten, dass sie gemeinsam ein Buch über das Leben des geheimnisvollen Außenseiters und sein Werk schreiben wollten - den unbehausten Reisenden, dessen Schicksal ihnen oft wie ein Schlüssel für ihr eigenes Leben vorgekommen war, für das Anderssein ihres Sohnes, für Gabriels Scheitern an der Welt.
Szenen einer Liebe, einer zerbrochenen Ehe und Stationen eines vorgezeichneten Weges, der Gabriel in ein grausames Ende führen wird, finden Spiegelungen und Gegenbilder in Episoden aus dem Leben und Werk des Dichters, der an seiner Zeit und dem Unverständnis seiner Zeitgenossen zerbrach. Nach "Haus der Kindheit" und "Familienfest" legt Anna Mitgutsch einen neuen virtuosen Roman vor, ein sprachliches Meisterwerk von ungewöhnlicher Dichte und Klarheit.
"Ich habe meine Erinnerungen immer wieder durchgespielt, sie einzeln betrachtet wie unter einer Lupe, Zentimeter für Zentimeter, und alle erdenklichen Bedeutungen aus ihnen herausgepresst. Ich weiß noch immer nicht, ob wir unsere Fehler hätten vermeiden können und ob wir die Gelegenheit ergriffen hätten, wenn uns klar gewesen wäre, dass einem das Glück nicht alle Tage einen Happen hin wirft."
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.08.2007Parzival und die Putzhilfe
Melville als Medium: Anna Mitgutsch erzählt von Außenseitern
Zwischen Romanfiktion und historischem Sachbuch: Die österreichische Schriftstellerin Anna Mitgutsch spiegelt das unglückliche Leben ihrer Hauptfigur in der penibel recherchierten Biographie Herman Melvilles.
Es ist eine alte Erfahrung, dass aus dem Unglück der Menschen mitunter die interessantesten Bücher entstehen können. Anna Mitgutsch hat sich ihren Ruf in der österreichischen Literatur nicht zuletzt durch ihre Anteilnahme an den Schicksalen der Unglücklichen erworben, und ihr neuer Roman, der achte, macht keine Ausnahme davon. Denn Unglück häuft sich da gleich in drei parallelen Handlungssträngen, alles bedrückende Geschichten vom Scheitern. Aber multipliziert sich dadurch auch das Fesselnde der Literatur?
Da ist zunächst die Liebesgeschichte zwischen der Österreicherin Edith und dem Amerikaner Leonard. Das Paar lernt sich in einer Kunstgalerie in der Nähe des Hudson River kennen, zieht bald aber in exotischere Gefilde, nach Südkorea und Malaysia, wo es einem Jungen namens Gabriel das Leben schenkt. Leonard, promovierter Literaturwissenschaftler, teilt das Schicksal vieler moderner akademischer Nomaden: Er reist den Arbeitsmöglichkeiten hinterher, und so richtet er denn mit unglücklicher Hand eine fernöstliche Universitätsbibliothek nach der anderen ein, allerdings ohne dauerhafte Anerkennung zu finden. Auch das Familienleben verläuft in der exotischen Umgebung nicht glücklich; Edith kann das andauernde Gefühl der Fremdheit nicht überwinden, und der dreijährige Gabriel wird nur unzureichend medizinisch behandelt, als ihn ein schweres Fieber ereilt, was dann vermutlich Folgen zeitigt hinsichtlich seines Unvermögens, sich in der Welt zurechtzufinden.
Jahrzehnte später sinnt noch Edith diesen Zusammenhängen in langen Briefen nach, die sie, inzwischen selbst unheilbar erkrankt, an ihren Mann schreibt, von dem sie längst geschieden ist und der mit seiner neuen Frau in die Nähe Budapests an die Donau gezogen ist, weil ihn der Fluss an den heimatlichen Hudson erinnert. Freilich schickt Edith diese Briefe nie ab, und so entsteht ein langer klagender Monolog, der das erzählerische Gerüst des Buches bildet. In immer neuen, mitunter etwas ermüdenden Anläufen seziert Edith die Geschichte ihrer Ehe, rekapituliert die Seitensprünge ihres Mannes wie ihr eigenes wirtschaftliches Ungeschick und beschreibt in hingebungsvoller Liebe das Aufwachsen ihres Sohnes. Der aber entwickelt sich anders als seine Altersgenossen und verharrt überall in der Position eines schwerfälligen Außenseiters. Möglicherweise ist es eine Form von Autismus, die den Jungen, der nicht lügen kann, von seiner Umwelt isoliert. Schon in ihrem Roman "Die Ausgrenzung" (1989) hatte sie ein engagiertes Plädoyer für die Normalität des vermeintlich behinderten Protagonisten geführt.
In diesem Buch nun spiegelt die Erzählerin Edith das Schicksal ihrer Familie in dem eines anderen, berühmten Außenseiters der Weltliteratur. Herman Melville, der Autor des "Moby Dick", ist den Ehepartnern so vertraut wie ein enges Familienmitglied. Eine Biographie hatte das Paar über den amerikanischen Schriftsteller schreiben wollen und dafür jahrelang Material gesammelt, aber auch dieser Plan ist gescheitert. Stattdessen verwebt Edith ihre gesammelten Kenntnisse nun in die Briefe an ihren Mann, und so entwirft sie unter der Hand schließlich doch noch eine ausführliche Biographie Melvilles.
Romanfiktion und historisches Sachbuch gehen dabei eine seltsame Verbindung ein. Denn zweifellos hat Anna Mitgutsch, selbst promovierte Anglistin, für die Melville-Passagen gewissenhafte Recherchen unternommen; die wichtigsten Quellen nennt sie im Anhang. Dazu kann sie einfühlsam aus dem Leben Melvilles erzählen, der 1819 als Sohn einer hochangesehenen amerikanischen Familie geboren wurde, früh zur See fuhr und mit seinem Schreiben vergeblich Geld zu verdienen versuchte, zum Kummer seiner Angehörigen. Anschaulich lässt Mitgutsch Melvilles Lebenslauf vor ihrer Leserschaft entstehen, ohne sich dabei freilich solche Freiheiten im Spiel der Fiktion zu erlauben, wie etwa ein Daniel Kehlmann. Mitgutsch zeichnet detailliert Melvilles vergebliche Versuche nach, in der Gesellschaft Neuenglands Anerkennung zu finden. Vor allem aber erweckt sie Melvilles Romanfiguren zu neuem Leben. Ihre Zuneigung gilt auch hier den Außenseitern, allem voran dem scheuen Schreiber Bartleby und dem engelgleichen Billy Budd, der sich gegen die tödlichen Intrigen seiner Schiffskameraden nicht zur Wehr setzen kann.
Diese beiden Geschöpfe Melvilles erscheinen mehr und mehr als Parallelfiguren zu Ediths Sohn Gabriel, der den plakativen Namen eines Erzengels trägt und im Zentrum des dritten Handlungsstranges steht. In sechs Kapiteln, die den Fluss der monologischen Briefe unterbrechen, erzählt Mitgutsch von dem letzten Tag im Leben des knapp Dreißigjährigen. Rein und töricht wie ein moderner Parzival bricht er aus dem Haus seiner inzwischen verstorbenen Mutter auf, weil er zusammen mit seiner Freundin, einer unscheinbaren Putzhilfe, zu seinem Vater reisen will, der mittlerweile an den Hudson zurückgekehrt ist. Dort aber kommt Gabriel niemals an, denn schon auf dem Weg zum Bahnhof macht er arglos die Bekanntschaft eines Drogendealers. Dieser finstere Kerl entspricht jedem Klischee eines Halbweltkriminellen, das man sich nur ausmalen kann; Melville hätte ihn in seinen schwächsten Erzählungen nicht holzschnitthafter zeichnen können. So läuft Gabriels Geschichte denn auch rasant auf ein düsteres Finale zu - am Ende liegt der junge Mann erschlagen in einer Pfütze. Von seiner Freundin aber heißt es bedeutungsschwer, dass ihr "geschändeter Körper wie gekreuzigt auf die Böschung hingestreckt" war.
Mit dieser Christusallegorie endet der Roman, und es bleibt die Frage, was die Verfasserin zu diesem Arrangement veranlasst haben mag, das an die Gewaltimaginationen trivialer Genres erinnert. Sollte aus der Vergewaltigung einer magersüchtigen jungen Frau tatsächlich neue Hoffnung, gar Erlösung von dem vielfältigen Leid entstehen, das dieser Roman schildert? Oder ist das Schlussbild ein bitteres Emblem der Ausweglosigkeit allen menschlichen Strebens? Anna Mitgutsch hält keine Antwort bereit, und diese Zurückhaltung ist symptomatisch für das gesamte Buch, dessen disparate Teile nicht wirklich zu einem Ganzen zusammenfinden. Aus gedoppelten, ja vervielfachten Lebens- und Leidensgeschichten, die zwischen zwei Buchdeckeln aneinandergereiht werden, entstehen eben doch nicht zwangsläufig die besseren Romane.
SABINE DOERING.
Anna Mitgutsch: "Zwei Leben und ein Tag". Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2007. 350 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Melville als Medium: Anna Mitgutsch erzählt von Außenseitern
Zwischen Romanfiktion und historischem Sachbuch: Die österreichische Schriftstellerin Anna Mitgutsch spiegelt das unglückliche Leben ihrer Hauptfigur in der penibel recherchierten Biographie Herman Melvilles.
Es ist eine alte Erfahrung, dass aus dem Unglück der Menschen mitunter die interessantesten Bücher entstehen können. Anna Mitgutsch hat sich ihren Ruf in der österreichischen Literatur nicht zuletzt durch ihre Anteilnahme an den Schicksalen der Unglücklichen erworben, und ihr neuer Roman, der achte, macht keine Ausnahme davon. Denn Unglück häuft sich da gleich in drei parallelen Handlungssträngen, alles bedrückende Geschichten vom Scheitern. Aber multipliziert sich dadurch auch das Fesselnde der Literatur?
Da ist zunächst die Liebesgeschichte zwischen der Österreicherin Edith und dem Amerikaner Leonard. Das Paar lernt sich in einer Kunstgalerie in der Nähe des Hudson River kennen, zieht bald aber in exotischere Gefilde, nach Südkorea und Malaysia, wo es einem Jungen namens Gabriel das Leben schenkt. Leonard, promovierter Literaturwissenschaftler, teilt das Schicksal vieler moderner akademischer Nomaden: Er reist den Arbeitsmöglichkeiten hinterher, und so richtet er denn mit unglücklicher Hand eine fernöstliche Universitätsbibliothek nach der anderen ein, allerdings ohne dauerhafte Anerkennung zu finden. Auch das Familienleben verläuft in der exotischen Umgebung nicht glücklich; Edith kann das andauernde Gefühl der Fremdheit nicht überwinden, und der dreijährige Gabriel wird nur unzureichend medizinisch behandelt, als ihn ein schweres Fieber ereilt, was dann vermutlich Folgen zeitigt hinsichtlich seines Unvermögens, sich in der Welt zurechtzufinden.
Jahrzehnte später sinnt noch Edith diesen Zusammenhängen in langen Briefen nach, die sie, inzwischen selbst unheilbar erkrankt, an ihren Mann schreibt, von dem sie längst geschieden ist und der mit seiner neuen Frau in die Nähe Budapests an die Donau gezogen ist, weil ihn der Fluss an den heimatlichen Hudson erinnert. Freilich schickt Edith diese Briefe nie ab, und so entsteht ein langer klagender Monolog, der das erzählerische Gerüst des Buches bildet. In immer neuen, mitunter etwas ermüdenden Anläufen seziert Edith die Geschichte ihrer Ehe, rekapituliert die Seitensprünge ihres Mannes wie ihr eigenes wirtschaftliches Ungeschick und beschreibt in hingebungsvoller Liebe das Aufwachsen ihres Sohnes. Der aber entwickelt sich anders als seine Altersgenossen und verharrt überall in der Position eines schwerfälligen Außenseiters. Möglicherweise ist es eine Form von Autismus, die den Jungen, der nicht lügen kann, von seiner Umwelt isoliert. Schon in ihrem Roman "Die Ausgrenzung" (1989) hatte sie ein engagiertes Plädoyer für die Normalität des vermeintlich behinderten Protagonisten geführt.
In diesem Buch nun spiegelt die Erzählerin Edith das Schicksal ihrer Familie in dem eines anderen, berühmten Außenseiters der Weltliteratur. Herman Melville, der Autor des "Moby Dick", ist den Ehepartnern so vertraut wie ein enges Familienmitglied. Eine Biographie hatte das Paar über den amerikanischen Schriftsteller schreiben wollen und dafür jahrelang Material gesammelt, aber auch dieser Plan ist gescheitert. Stattdessen verwebt Edith ihre gesammelten Kenntnisse nun in die Briefe an ihren Mann, und so entwirft sie unter der Hand schließlich doch noch eine ausführliche Biographie Melvilles.
Romanfiktion und historisches Sachbuch gehen dabei eine seltsame Verbindung ein. Denn zweifellos hat Anna Mitgutsch, selbst promovierte Anglistin, für die Melville-Passagen gewissenhafte Recherchen unternommen; die wichtigsten Quellen nennt sie im Anhang. Dazu kann sie einfühlsam aus dem Leben Melvilles erzählen, der 1819 als Sohn einer hochangesehenen amerikanischen Familie geboren wurde, früh zur See fuhr und mit seinem Schreiben vergeblich Geld zu verdienen versuchte, zum Kummer seiner Angehörigen. Anschaulich lässt Mitgutsch Melvilles Lebenslauf vor ihrer Leserschaft entstehen, ohne sich dabei freilich solche Freiheiten im Spiel der Fiktion zu erlauben, wie etwa ein Daniel Kehlmann. Mitgutsch zeichnet detailliert Melvilles vergebliche Versuche nach, in der Gesellschaft Neuenglands Anerkennung zu finden. Vor allem aber erweckt sie Melvilles Romanfiguren zu neuem Leben. Ihre Zuneigung gilt auch hier den Außenseitern, allem voran dem scheuen Schreiber Bartleby und dem engelgleichen Billy Budd, der sich gegen die tödlichen Intrigen seiner Schiffskameraden nicht zur Wehr setzen kann.
Diese beiden Geschöpfe Melvilles erscheinen mehr und mehr als Parallelfiguren zu Ediths Sohn Gabriel, der den plakativen Namen eines Erzengels trägt und im Zentrum des dritten Handlungsstranges steht. In sechs Kapiteln, die den Fluss der monologischen Briefe unterbrechen, erzählt Mitgutsch von dem letzten Tag im Leben des knapp Dreißigjährigen. Rein und töricht wie ein moderner Parzival bricht er aus dem Haus seiner inzwischen verstorbenen Mutter auf, weil er zusammen mit seiner Freundin, einer unscheinbaren Putzhilfe, zu seinem Vater reisen will, der mittlerweile an den Hudson zurückgekehrt ist. Dort aber kommt Gabriel niemals an, denn schon auf dem Weg zum Bahnhof macht er arglos die Bekanntschaft eines Drogendealers. Dieser finstere Kerl entspricht jedem Klischee eines Halbweltkriminellen, das man sich nur ausmalen kann; Melville hätte ihn in seinen schwächsten Erzählungen nicht holzschnitthafter zeichnen können. So läuft Gabriels Geschichte denn auch rasant auf ein düsteres Finale zu - am Ende liegt der junge Mann erschlagen in einer Pfütze. Von seiner Freundin aber heißt es bedeutungsschwer, dass ihr "geschändeter Körper wie gekreuzigt auf die Böschung hingestreckt" war.
Mit dieser Christusallegorie endet der Roman, und es bleibt die Frage, was die Verfasserin zu diesem Arrangement veranlasst haben mag, das an die Gewaltimaginationen trivialer Genres erinnert. Sollte aus der Vergewaltigung einer magersüchtigen jungen Frau tatsächlich neue Hoffnung, gar Erlösung von dem vielfältigen Leid entstehen, das dieser Roman schildert? Oder ist das Schlussbild ein bitteres Emblem der Ausweglosigkeit allen menschlichen Strebens? Anna Mitgutsch hält keine Antwort bereit, und diese Zurückhaltung ist symptomatisch für das gesamte Buch, dessen disparate Teile nicht wirklich zu einem Ganzen zusammenfinden. Aus gedoppelten, ja vervielfachten Lebens- und Leidensgeschichten, die zwischen zwei Buchdeckeln aneinandergereiht werden, entstehen eben doch nicht zwangsläufig die besseren Romane.
SABINE DOERING.
Anna Mitgutsch: "Zwei Leben und ein Tag". Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2007. 350 S., geb., 19,80 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Gelungen, allerdings nicht durchgehend, findet Rezensent Leopold Feldmair Anna Mitgutschs neuen Roman, der sich seinen Informationen zufolge mit dem Thema Schuld befasst und für den Rezensenten insofern als Rückkehr zum "Ursprungsgestus des Erzählens" nach all den plaudernden popliterarischen Erklärungen vom Ende der Schuld sehr willkommen ist. Im Zentrum stehen nie abgeschickte Briefe einer Frau an ihren Exmann, worin sie nach ihrer Schuld am Scheitern der Beziehung fragt. Diese Ehegeschichte ist für Feldmair von "rührender Schlichtheit" und bietet dabei manche literarisch hochklassige Passage. Nicht unbedingt zum Vorteil des Romans verwebt die Autorin zu Feldmairs Bedauern ihre Geschichte dann aber mit zwei weiteren Erzählsträngen, die sich mit zwei Romanfiguren Herman Melvilles auseinandersetzen. Hier wäre für den Rezensenten wohl weniger mehr gewesen. Auch das "holzschnittartige" Ende des Romans findet er enttäuschend.
© Perlentaucher Medien GmbH
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