Siebenbürgen in den 1940er-Jahren: Eli und Luli sind neun Jahre alt und unzertrennlich.Selbst als Eli plötzlich schwer krank wird, bleibt Luli an seiner Seite. Kaum ist er genesen,muss Luli ihrem Vater nach Amerika folgen. Eli bleibt voller Sehnsucht zurück, doch seinLeben geht weiter. Er feiert seine Bar-Mizwa und wird erwachsen. Der Zweite Weltkriegbricht aus, Juden müssen einen Stern tragen, werden aus ihren Häusern vertrieben undnach Auschwitz deportiert. So auch Eli. Er überlebt - in seinen Gedanken immer bei Luli.Als Eli nach dem Krieg nach Schweden kommt, ist er zunächst ohne Perspektive. Dochdann erreicht ihn ein lang ersehnter Brief aus New York ...Mit "Zwei von jedem" ist Rose Lagercrantz ein Meisterwerk gelungen: Die Geschichte einerKinderfreundschaft, aus der Liebe wird, und die tief berührt. "Zwei von jedem" ist tief in RoseLagercrantz' Familiengeschichte verwurzelt und durch die Illustrationen ihrer Tochter Rebeckaein Familienprojekt, das schon Kinder ab 9 in seinenBann ziehen wird.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.08.2021Verlass dich auf mich
Rose Lagercrantz erzählt von der Judenverfolgung
Wenn er nur nicht von dem spricht, was er erlebt hat, dann ist alles gut, auch wenn ihn nachts mitunter Albträume plagen: Am Ende von "Zwei von jedem", einem kleinen, großen Buch der schwedischen Kinderbuchautorin Rose Lagercrantz, wehrt sich Eli gegen das Erinnern. Seine Kinder bitten ihn, von seinen Erlebnissen zu erzählen. Seine Frau redet ihm aus, dass sie nichts von dem verstünden, was er ihnen erzählen müsste. Schließlich bringt sie ihn dazu, wenigstens aufzuschreiben, wovon er nicht sprechen kann, und Eli schreibt - das Buch, auf dessen letzten Seiten seine Leser gerade angekommen sind.
Eine solche erzählerische Schleife ist nichts Ungewöhnliches, in "Zwei von jedem" hat sie etwas Zwingendes. Immerhin führt das Buch Kinder im frühen Selbstlesealter an einen der schrecklichsten Orte überhaupt, an die Grenzen ihrer Vorstellungskraft, zu einer Verunsicherung in ihrem Glauben an das Geschütztsein des Guten: Davor hätte Eli nicht nur seine Tochter Golda gern bewahrt, auch dann noch, als sie ihn nicht mehr aus eigener Neugier fragt, sondern weil es Thema in ihrem Schulunterricht geworden ist. Eli hat Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt, er hat seine Mutter im Vernichtungslager verloren, er lag selbst beinahe im Sterben, als sie endlich befreit wurden.
Ein Thema für ein Kinderbuch? Wer weiß, wie behutsam, liebevoll und klar Rose Lagercrantz zum Beispiel in ihren sieben Bänden über die kindliche Heldin Dunne auch von Ängsten und Verlust erzählen kann, ohne den Horizont junger Leser aus dem Blick zu verlieren, traut der zwei Jahre nach dem Krieg geborenen Tochter einer Mutter, die selbst die Lager Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt hatte, das Wagnis zu. Gerade einmal zwei Kapitel, gerade einmal zwölf der hundert in großer Schrift gesetzten, mit zahlreichen feinen Aquarellen der Tochter der Autorin illustrierten Seiten handeln von der Judenverfolgung der Nationalsozialisten. "Ich verstand nicht, wie die Menschen dachten, die jetzt an der Macht waren", schreibt Eli, als der Krieg, von dem der alte Isaak bislang nur in der Zeitung gelesen hat, auch nach Siebenbürgen kommt und der Alte gezwungen wird, seinen Stoffladen aufzugeben. "Wovon sollten wir leben? Heute ist mir klar, was sie im Sinn hatten. Wir sollten nicht länger leben."
Als Eli mit seiner Familie und dem Stoffhändler in Auschwitz ankommt und ein Soldat ihn von seiner Mutter wegreißt, ist es das letzte Mal, dass er sie sieht. "Wenn ich das begriffen hätte, ich hätte den Verstand verloren", schreibt Rose Lagercrantz dazu. "Ein Teil der Menschen wurde direkt in den Tod geschickt, während andere am Leben gelassen wurden, solange sie noch Kraft hatten zu arbeiten", heißt es schlicht über das System der Vernichtungslager. Das ist genug für Kinder im Lesealter von neun Jahren.
Im Nachwort erzählt Rose Lagercrantz, wie sie der Bitte des schwedischen Rundfunks, für Kinder über die Judenverfolgung zu schreiben, überhaupt hatte nachkommen können: in dem Versuch, wie in manchen Märchen ein Gegengewicht zu finden zu den entsetzlichen Dingen, um die es geht. Indem sie nicht nur vom Schrecken erzählt, sondern auch von der Liebe.
"Zwei von jedem" ist ein ausgesprochen liebevolles Buch geworden. Rose Lagercrantz lässt ihren Eli von seiner Luli erzählen, dem einzigen Kind, das in der Schule genau so schnell rennen konnte wie er: vom gemeinsamen Laufen, von seinem Schulbrot, das er ihr immer mitbrachte, weil Luli mit ihrer großen Schwester bei einer Tante wohnte, die sich nicht um sie kümmern konnte, und nur darauf wartete, dass ihr Vater aus Amerika die Fahrkarten schickt, mit denen sie ihm endlich nachreisen können. "Verlass dich auf mich" waren ihre Abschiedsworte, als es endlich losging.
Als er einmal sehr krank war, hat Luli Eli eine Flasche mit Heilwasser gebracht. Als er im Konzentrationslager zu sterben drohte, stand ihm ihr Gesicht vor Augen. Als der Krieg vorbei war, hat sie herausgefunden, dass er in Schweden lebte, und ihn zu sich nach New York geholt, wo dieses Märchen endlich gut ausgehen konnte. Das Erzählen mag für Eli etwas Heilsames gehabt haben, stellt man sich als Leser vor. Wie Jahrzehnte zuvor die Flasche Wasser ihre Heilkräfte durch das bekam, was seine Luli ihm davon erzählte. FRIDTJOF KÜCHEMANN.
Rose Lagercrantz: "Zwei von jedem" Illustriert von Rebecka Lagercrantz. Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch. Moritz Verlag, Frankfurt 2021. 120 S., geb., 14,- Euro. Ab 9 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rose Lagercrantz erzählt von der Judenverfolgung
Wenn er nur nicht von dem spricht, was er erlebt hat, dann ist alles gut, auch wenn ihn nachts mitunter Albträume plagen: Am Ende von "Zwei von jedem", einem kleinen, großen Buch der schwedischen Kinderbuchautorin Rose Lagercrantz, wehrt sich Eli gegen das Erinnern. Seine Kinder bitten ihn, von seinen Erlebnissen zu erzählen. Seine Frau redet ihm aus, dass sie nichts von dem verstünden, was er ihnen erzählen müsste. Schließlich bringt sie ihn dazu, wenigstens aufzuschreiben, wovon er nicht sprechen kann, und Eli schreibt - das Buch, auf dessen letzten Seiten seine Leser gerade angekommen sind.
Eine solche erzählerische Schleife ist nichts Ungewöhnliches, in "Zwei von jedem" hat sie etwas Zwingendes. Immerhin führt das Buch Kinder im frühen Selbstlesealter an einen der schrecklichsten Orte überhaupt, an die Grenzen ihrer Vorstellungskraft, zu einer Verunsicherung in ihrem Glauben an das Geschütztsein des Guten: Davor hätte Eli nicht nur seine Tochter Golda gern bewahrt, auch dann noch, als sie ihn nicht mehr aus eigener Neugier fragt, sondern weil es Thema in ihrem Schulunterricht geworden ist. Eli hat Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt, er hat seine Mutter im Vernichtungslager verloren, er lag selbst beinahe im Sterben, als sie endlich befreit wurden.
Ein Thema für ein Kinderbuch? Wer weiß, wie behutsam, liebevoll und klar Rose Lagercrantz zum Beispiel in ihren sieben Bänden über die kindliche Heldin Dunne auch von Ängsten und Verlust erzählen kann, ohne den Horizont junger Leser aus dem Blick zu verlieren, traut der zwei Jahre nach dem Krieg geborenen Tochter einer Mutter, die selbst die Lager Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt hatte, das Wagnis zu. Gerade einmal zwei Kapitel, gerade einmal zwölf der hundert in großer Schrift gesetzten, mit zahlreichen feinen Aquarellen der Tochter der Autorin illustrierten Seiten handeln von der Judenverfolgung der Nationalsozialisten. "Ich verstand nicht, wie die Menschen dachten, die jetzt an der Macht waren", schreibt Eli, als der Krieg, von dem der alte Isaak bislang nur in der Zeitung gelesen hat, auch nach Siebenbürgen kommt und der Alte gezwungen wird, seinen Stoffladen aufzugeben. "Wovon sollten wir leben? Heute ist mir klar, was sie im Sinn hatten. Wir sollten nicht länger leben."
Als Eli mit seiner Familie und dem Stoffhändler in Auschwitz ankommt und ein Soldat ihn von seiner Mutter wegreißt, ist es das letzte Mal, dass er sie sieht. "Wenn ich das begriffen hätte, ich hätte den Verstand verloren", schreibt Rose Lagercrantz dazu. "Ein Teil der Menschen wurde direkt in den Tod geschickt, während andere am Leben gelassen wurden, solange sie noch Kraft hatten zu arbeiten", heißt es schlicht über das System der Vernichtungslager. Das ist genug für Kinder im Lesealter von neun Jahren.
Im Nachwort erzählt Rose Lagercrantz, wie sie der Bitte des schwedischen Rundfunks, für Kinder über die Judenverfolgung zu schreiben, überhaupt hatte nachkommen können: in dem Versuch, wie in manchen Märchen ein Gegengewicht zu finden zu den entsetzlichen Dingen, um die es geht. Indem sie nicht nur vom Schrecken erzählt, sondern auch von der Liebe.
"Zwei von jedem" ist ein ausgesprochen liebevolles Buch geworden. Rose Lagercrantz lässt ihren Eli von seiner Luli erzählen, dem einzigen Kind, das in der Schule genau so schnell rennen konnte wie er: vom gemeinsamen Laufen, von seinem Schulbrot, das er ihr immer mitbrachte, weil Luli mit ihrer großen Schwester bei einer Tante wohnte, die sich nicht um sie kümmern konnte, und nur darauf wartete, dass ihr Vater aus Amerika die Fahrkarten schickt, mit denen sie ihm endlich nachreisen können. "Verlass dich auf mich" waren ihre Abschiedsworte, als es endlich losging.
Als er einmal sehr krank war, hat Luli Eli eine Flasche mit Heilwasser gebracht. Als er im Konzentrationslager zu sterben drohte, stand ihm ihr Gesicht vor Augen. Als der Krieg vorbei war, hat sie herausgefunden, dass er in Schweden lebte, und ihn zu sich nach New York geholt, wo dieses Märchen endlich gut ausgehen konnte. Das Erzählen mag für Eli etwas Heilsames gehabt haben, stellt man sich als Leser vor. Wie Jahrzehnte zuvor die Flasche Wasser ihre Heilkräfte durch das bekam, was seine Luli ihm davon erzählte. FRIDTJOF KÜCHEMANN.
Rose Lagercrantz: "Zwei von jedem" Illustriert von Rebecka Lagercrantz. Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch. Moritz Verlag, Frankfurt 2021. 120 S., geb., 14,- Euro. Ab 9 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Die Thematik und Umsetzung des neuen Kinderbuchs von Rose Lagercrantz findet Rezensent Fridtjof Küchemann bewegend. "Zwei von jedem" behandelt kindesgerecht den Holocaust aus der Perspektive des überlebenden Vaters Eli, der in einem der Vernichtungslager seine Mutter und beinahe sein eigenes Leben verloren hätte, informiert Küchemann. Die schwierige Aufgabe, ein so dunkles Geschichtskapitel zu einem Kinderbuch zu verarbeiten ist Lagercrantz laut Rezensenten gut gelungen, die Thematik sei sorgsam, charmant und deutlich erzählt, weiß aber auch, wo die Informationsgrenzen für Kinder liegt, wie bereits in vorigen von Verlust handelnden Büchern der Autorin. Untermalt ist das alles dann noch mit vielen sorgfältig gemalten Aquarellen ihrer Tochter. Ein "ausgesprochen liebevolles Buch", dass auch die Liebe nicht zu kurz kommen lässt, resümiert Küchemann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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