Literarische Rezensionen zu zeitgenössischen Schriftstellern und großen, von ihr neu gelesenen Autoren der Literaturgeschichte. Ein bei einem Zürich-Aufenthalt entstandenes literarisches Tagebuch. Und zuletzt Ansprachen, die im weiteren Sinn von der Literatur in unserer Gesellschaft handeln. Genauigkeit und Emphase - diese beiden Begriffe, die für Brigitte Kronauers Erzählstil charakteristisch sind, gelten auch für die Texte dieses Buchs. Sie zeigen die eminente Spannweite ihres Nachdenkens und Schreibens: Ein neuer Blick fällt auf die beiden Giganten der angelsächsischen Literatur, Melville und Conrad. Lou Andreas-Salomé wird einmal nicht als Gefährtin berühmter Männer, sondern als Schriftstellerin gewürdigt. Hofmannsthal und Nabokov werden neu gelesen; der Film, die Kunstgeschichte und der Comic haben Brigitte Kronauer beschäftigt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.12.2002Sanftäugige Weidekühe im Kolumnenformat
Besser als die Herren des Weltalls: Brigitte Kronauers geschliffene Kunst der Zweideutigkeit
Eine der hübschesten Dichter-Seilschaften unserer Zeit ist die zwischen Brigitte Kronauer und Eckhard Henscheid. Als letzterer in den 1987 publizierten „Sudelblättern” verkündete, die Kollegin tauge ihm als „erster lebender Beweis dafür, dass Frauen zumindest manche Künste besser können als wir, die Herren des Weltalls”, wog das Lob aus diesem sonst eher uncharmanten Munde doppelt schwer und sorgte dafür, dass man den Namen der „Romancière”, wie es in respektvollem Flötenton hieß, nicht mehr vergaß. Von ihr wiederum sind kluge Bemerkungen zum Schaffen Henscheids auf uns gekommen, so etwa die Einsicht, ein „wesentliches, menschenfreundliches Prinzip” seines Werkes sei der Versuch, „in der Welt als mysteriöse Fremde unbelehrbar eine überlebensnotwendige, kindlich anthropozentrische Ordnung und Schlüssigkeit herzustellen”. Wer genau hinschaut, entdeckt in diesem Satz schon die typisch Kronauersche Denkfigur, die ihrer neuen Textsammlung nun den Grundton und Titel gab: „Zweideutigkeit”.
Ambivalenz, Ambiguität, Zwielicht, Doppelsinn, Janusköpfigkeit – das sind Synonyme oder vielmehr Hilfsbegriffe für ein Phänomen, das Brigitte Kronauer als essentielle Eigenschaft von Literatur als Kunstform, ja von Kunst schlechthin erkannt hat, das sie essayistisch unermüdlich umkreist und in ihren Texten strukturell und motivisch verwirklicht, wo immer es sich anbietet. „Wechsel der Blickwinkel: ein welterweiternder Effekt”, lautet ein weiterer Bestimmungsversuch, notiert im Vortrag über „Die Zweideutigkeiten der Literatur”, gehalten 1997 im Rahmen der Heidelberger Poetikdozentur. Er schließt den jetzt erschienenen Band mit „Essays und Skizzen” aus dem letzten Jahrzehnt – Betrachtungen über „Bücher und Autoren”, Kolumnen aus der Zürcher „Weltwoche” und Reden zu verschiedenen Anlässen – ab, als sei er eigens dafür geschrieben.
Heroische Einsamkeit
Kann es, fragt man sich angesichts der Vorbemerkung, auch eine Last oder gar ein Fluch sein, mit derart geschärften Sinnen und glasklaren Gedanken durchs Leben zu wandeln, ständig bereit, sich überwältigen zu lassen vom Changieren der Perspektive, das noch die unscheinbarste Alltagssituation auszulösen vermag, und unablässig getrieben zur sprachlichen Durchleuchtung und formvollendeter Fixierung des Geschauten? Oberflächenglanz und virtuose Plauderei sind Kronauers Sache nicht, und bisweilen verraten ihre Texte etwas von der heroischen Einsamkeit derer, die damit geschlagen sind, den Dingen auf den Grund zu gehen. Offenkundiger jedoch ist das Vergnügen, das sie aus der „Ambivalenz der Bezüge jenseits aller infantil hermetischen Zweiweltenteilung” schöpft, aus einer Weltsicht, die ihr erlaubt, selbst in einer norddeutschen Waldlandschaft „gegenpolige Gleichzeitigkeiten auf Schritt und Tritt” zu entdecken, mithin „Dialektisches” – als Begriff ein wenig aus der Mode gekommen, für die Schriftstellerin gleichwohl „das, was ein Universum erst richtig lebendig und exemplarisch macht”.
Kronauers Kunst ist es, ihre geschliffene, kaum jemals den „springenden Punkt” verfehlende Sprache in den Dienst dieser Lebendigkeit zu stellen, das Glück des trübungsfreien Denkens als eine Art Sinnenfreude fühlbar zu machen. Ihre kraftvoll ausbalancierten, doch nicht abgezirkelten Satzgebilde, ihre anmutigen geistigen Gratwanderungen ziehen uns an den schönsten Stellen mitten hinein in die „schwebende Doppelsinnigkeit”, die sie großer Literatur und Kunst bescheinigt – und die zuweilen auch auf dem spielerischen Erkenntnisweg der Essayistik sich ereignet. Der Gegenstand, der Auslöser des Gedankengangs ist dabei von marginaler Bedeutung: Es kann Marlon Brando sein oder ein Stieglitz, der Botanische Garten in Hamburg-Flottbek oder eine Kindheitserinnerung an weiße Wäsche im Wind. Sanftäugige Weidekühe im Kolumnenformat behaupten sich mühelos neben Darstellungen der Maria lactans, denen eine profunde kunsthistorische Abhandlung gewidmet ist, und die „sublime Schweiz”, deren Bewohner „das Doppel- und Zweideutige” nach Kronauers Erfahrung nicht sehr schätzen, erscheint in ihren Reiseschilderungen als Musterland der Ambiguität, gipfelnd im Doppelgesicht des lautmalerischen Namens Svizzera: „Vorn pfeift der Nordwind hoch zum Alpenhauptkamm des doppelten Z, um danach hinab ins offene Italienische zu gleiten.”
Brigitte Kronauer kokettiert nicht mit solchen Trouvaillen, bei ihr greifen Reflexion und Anschauung elegant ineinander, ohne dass man die Fugen knarren hört. Die schöne Selbstverständlichkeit des Gleichgewichts zwischen analytischer Schärfe und sinnlicher Einfühlung prägt auch ihre Begegnung mit den Werken anderer Schriftsteller, der lebenden und der toten. Wer hätte uns je so verführerisch auf die Erzählkunst eines Joseph Conrad aufmerksam gemacht, auf das Schillern und Schwanken, Flackern und Changieren der Dinge und Figuren in seinen Romanen? Auch hier läuft es auf ein Wesentliches hinaus: „Um die unendliche Vieldeutigkeit der Welt, des Realen, der Natur überhaupt darstellen zu können, verkürzt und zwingt Joseph Conrad sie systematisch ins Muster der Zweideutigkeit.” Im Porträt der Lou Andreas-Salomé wiederum ist die Leserin Kronauer der „nicht unterdrückbar dialektischen Struktur ihres Charakters, ihrer Rede- und Denkbewegungen” auf der Spur, dem „Hin- und Herwenden der Medaille der eigenen Existenz”. Und selbst in Franz Grillparzers Halbmond-Gedicht findet sie noch den Schwebetrick, nach dem sie allenthalben fahndet, das Kunststück nämlich, „im letzten Moment mit einem genau gewählten Wort die Schwere leichtfüßig zu machen, was das Poem zu seiner widersprüchlichen, sowohl finsteren wie glänzenden Vollendung bringt”.
Dass ein großes Wirkungsgeheimnis aller Kunst im „sowohl als auch” zu suchen sei, ist eine ebenso alte wie fundamentale Erkenntnis, die wegen ihrer scheinbaren Simplizität im Wortschwall der ästhetischen Diskurse unterzugehen droht. Brigitte Kronauer holt sie in ihren Essays mit souveränem Eigensinn wieder ans Licht.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
BRIGITTE KRONAUER: Zweideutigkeit. Essays und Skizzen. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2002. 320 S., 22 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Besser als die Herren des Weltalls: Brigitte Kronauers geschliffene Kunst der Zweideutigkeit
Eine der hübschesten Dichter-Seilschaften unserer Zeit ist die zwischen Brigitte Kronauer und Eckhard Henscheid. Als letzterer in den 1987 publizierten „Sudelblättern” verkündete, die Kollegin tauge ihm als „erster lebender Beweis dafür, dass Frauen zumindest manche Künste besser können als wir, die Herren des Weltalls”, wog das Lob aus diesem sonst eher uncharmanten Munde doppelt schwer und sorgte dafür, dass man den Namen der „Romancière”, wie es in respektvollem Flötenton hieß, nicht mehr vergaß. Von ihr wiederum sind kluge Bemerkungen zum Schaffen Henscheids auf uns gekommen, so etwa die Einsicht, ein „wesentliches, menschenfreundliches Prinzip” seines Werkes sei der Versuch, „in der Welt als mysteriöse Fremde unbelehrbar eine überlebensnotwendige, kindlich anthropozentrische Ordnung und Schlüssigkeit herzustellen”. Wer genau hinschaut, entdeckt in diesem Satz schon die typisch Kronauersche Denkfigur, die ihrer neuen Textsammlung nun den Grundton und Titel gab: „Zweideutigkeit”.
Ambivalenz, Ambiguität, Zwielicht, Doppelsinn, Janusköpfigkeit – das sind Synonyme oder vielmehr Hilfsbegriffe für ein Phänomen, das Brigitte Kronauer als essentielle Eigenschaft von Literatur als Kunstform, ja von Kunst schlechthin erkannt hat, das sie essayistisch unermüdlich umkreist und in ihren Texten strukturell und motivisch verwirklicht, wo immer es sich anbietet. „Wechsel der Blickwinkel: ein welterweiternder Effekt”, lautet ein weiterer Bestimmungsversuch, notiert im Vortrag über „Die Zweideutigkeiten der Literatur”, gehalten 1997 im Rahmen der Heidelberger Poetikdozentur. Er schließt den jetzt erschienenen Band mit „Essays und Skizzen” aus dem letzten Jahrzehnt – Betrachtungen über „Bücher und Autoren”, Kolumnen aus der Zürcher „Weltwoche” und Reden zu verschiedenen Anlässen – ab, als sei er eigens dafür geschrieben.
Heroische Einsamkeit
Kann es, fragt man sich angesichts der Vorbemerkung, auch eine Last oder gar ein Fluch sein, mit derart geschärften Sinnen und glasklaren Gedanken durchs Leben zu wandeln, ständig bereit, sich überwältigen zu lassen vom Changieren der Perspektive, das noch die unscheinbarste Alltagssituation auszulösen vermag, und unablässig getrieben zur sprachlichen Durchleuchtung und formvollendeter Fixierung des Geschauten? Oberflächenglanz und virtuose Plauderei sind Kronauers Sache nicht, und bisweilen verraten ihre Texte etwas von der heroischen Einsamkeit derer, die damit geschlagen sind, den Dingen auf den Grund zu gehen. Offenkundiger jedoch ist das Vergnügen, das sie aus der „Ambivalenz der Bezüge jenseits aller infantil hermetischen Zweiweltenteilung” schöpft, aus einer Weltsicht, die ihr erlaubt, selbst in einer norddeutschen Waldlandschaft „gegenpolige Gleichzeitigkeiten auf Schritt und Tritt” zu entdecken, mithin „Dialektisches” – als Begriff ein wenig aus der Mode gekommen, für die Schriftstellerin gleichwohl „das, was ein Universum erst richtig lebendig und exemplarisch macht”.
Kronauers Kunst ist es, ihre geschliffene, kaum jemals den „springenden Punkt” verfehlende Sprache in den Dienst dieser Lebendigkeit zu stellen, das Glück des trübungsfreien Denkens als eine Art Sinnenfreude fühlbar zu machen. Ihre kraftvoll ausbalancierten, doch nicht abgezirkelten Satzgebilde, ihre anmutigen geistigen Gratwanderungen ziehen uns an den schönsten Stellen mitten hinein in die „schwebende Doppelsinnigkeit”, die sie großer Literatur und Kunst bescheinigt – und die zuweilen auch auf dem spielerischen Erkenntnisweg der Essayistik sich ereignet. Der Gegenstand, der Auslöser des Gedankengangs ist dabei von marginaler Bedeutung: Es kann Marlon Brando sein oder ein Stieglitz, der Botanische Garten in Hamburg-Flottbek oder eine Kindheitserinnerung an weiße Wäsche im Wind. Sanftäugige Weidekühe im Kolumnenformat behaupten sich mühelos neben Darstellungen der Maria lactans, denen eine profunde kunsthistorische Abhandlung gewidmet ist, und die „sublime Schweiz”, deren Bewohner „das Doppel- und Zweideutige” nach Kronauers Erfahrung nicht sehr schätzen, erscheint in ihren Reiseschilderungen als Musterland der Ambiguität, gipfelnd im Doppelgesicht des lautmalerischen Namens Svizzera: „Vorn pfeift der Nordwind hoch zum Alpenhauptkamm des doppelten Z, um danach hinab ins offene Italienische zu gleiten.”
Brigitte Kronauer kokettiert nicht mit solchen Trouvaillen, bei ihr greifen Reflexion und Anschauung elegant ineinander, ohne dass man die Fugen knarren hört. Die schöne Selbstverständlichkeit des Gleichgewichts zwischen analytischer Schärfe und sinnlicher Einfühlung prägt auch ihre Begegnung mit den Werken anderer Schriftsteller, der lebenden und der toten. Wer hätte uns je so verführerisch auf die Erzählkunst eines Joseph Conrad aufmerksam gemacht, auf das Schillern und Schwanken, Flackern und Changieren der Dinge und Figuren in seinen Romanen? Auch hier läuft es auf ein Wesentliches hinaus: „Um die unendliche Vieldeutigkeit der Welt, des Realen, der Natur überhaupt darstellen zu können, verkürzt und zwingt Joseph Conrad sie systematisch ins Muster der Zweideutigkeit.” Im Porträt der Lou Andreas-Salomé wiederum ist die Leserin Kronauer der „nicht unterdrückbar dialektischen Struktur ihres Charakters, ihrer Rede- und Denkbewegungen” auf der Spur, dem „Hin- und Herwenden der Medaille der eigenen Existenz”. Und selbst in Franz Grillparzers Halbmond-Gedicht findet sie noch den Schwebetrick, nach dem sie allenthalben fahndet, das Kunststück nämlich, „im letzten Moment mit einem genau gewählten Wort die Schwere leichtfüßig zu machen, was das Poem zu seiner widersprüchlichen, sowohl finsteren wie glänzenden Vollendung bringt”.
Dass ein großes Wirkungsgeheimnis aller Kunst im „sowohl als auch” zu suchen sei, ist eine ebenso alte wie fundamentale Erkenntnis, die wegen ihrer scheinbaren Simplizität im Wortschwall der ästhetischen Diskurse unterzugehen droht. Brigitte Kronauer holt sie in ihren Essays mit souveränem Eigensinn wieder ans Licht.
KRISTINA MAIDT-ZINKE
BRIGITTE KRONAUER: Zweideutigkeit. Essays und Skizzen. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2002. 320 S., 22 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.12.2002Ochs und Esel im Blick
Löwenzahnsamen: Essays und Skizzen von Brigitte Kronauer
"Gelegenheitstexte" heißt der erste der vier Teile, aus denen diese Sammlung von Essays und Skizzen zusammengesetzt ist. Die Überschrift könnte über dem ganzen Buch stehen. Hier finden sich die hübschen Tagebuch-Glossen versammelt, die Brigitte Kronauer zwischen 1997 und 1998 für die "Zürcher Weltwoche" schrieb, ein erstmals gedrucktes, witziges Impromptu über das Verhältnis von Geist und Geld, liebevolle Bemerkungen über deutsche Dichtung, alte Gemälde und neue botanische Gärten, ambitionierte Essays zur Literatur und bildenden Kunst neben kleinen und kleinsten Gelegenheitsarbeiten, Dankreden und Nebensachen.
In der Summe der Gelegenheiten soll sich, wie das Vorwort andeutet, eine Art Credo abzeichnen, sollen Kunst und Literatur als Spiel mit einer unauflöslichen Zweideutigkeit vorgeführt werden, einer Sinngebung, die in der Schwebe bleibt. Ausführlich entwickelt wird dieser Gedanke in einem Essay über Joseph Conrad, in dem der titelgebende Begriff aber überraschenderweise als Ergebnis nicht etwa zarter Verunklarung, sondern eines Strebens nach Vereinfachung erscheint. Die "unendliche Vieldeutigkeit der Welt" habe Conrad "systematisch ins Muster der Zweideutigkeit" zu zwingen versucht - aber auch keinen Schritt weiter. Ambivalenz, so lautet die Coda, erweise sich "nicht nur als Signum moderner Literatur, sie ist es, wenigstens unterschwellig, von Literatur schlechthin". Abgesehen von diesem Ergebnissatz - der immer vager wird, je länger man ihn ansieht -, bezeichnet Zweideutigkeit hier etwas Spezifischeres als im landläufigen Sprachgebrauch: ein Drittes zwischen einer Kapitulation angesichts des Kosmos und dem Bedürfnis nach "dezidierter Gestaltsetzung", deren Notwendigkeit und Gefährdungen die Autorin in einem späteren Text an sich selbst beobachtet. Die "Verblüffung über die Erscheinungen" lebendig zu erhalten, ohne an ihrer Überfülle zugrunde zu gehen: das erst ist die existentielle Spannung, in der sich die Kronauersche "Zweideutigkeit" hält.
Von ihr handelt freilich nur ein Teil dieser Gelegenheitsarbeiten, und ohne den Titel hätte man sie streckenweise fast wieder vergessen. Das macht aber auch nichts, weil man von einer Autorin wie dieser eigentlich alles lesen möchte. Doch leider gehört es zu den Risiken eines solchen Sammelbandes, daß sich manches, was als Einzeltext gewinnend war, in der Häufung als Marotte oder Kniff verrät. Für die auf Dauer etwas forcierte Munterkeit könnte das gelten und für die Neigung zum Putzigen, Kessen und Kecken. Auch kann derselbe Text ganz unterschiedliche Gesichter ziehen, je nachdem ob er als Glosse in der Zeitung zu lesen ist oder als Essay im Buch. Im letzteren Falle dürfte sich der Leser beispielsweise zu Überschriften wie "Was ich mir unter Deutschland denke" oder "Zu Vladimir Nabokov" etwas mehr wünschen als die je viereinhalb Seiten, nach denen das Thema gerade angetippt und der Text, hoppla, schon wieder zu Ende ist; aber das fällt nicht ins Gewicht.
Daß es etwas zuviel ist und zu unredigiert auch, das kann man ja blätternd und auswählend kompensieren. Aber daß dann neben dem Zauberhaften plötzlich das Läppische steht, neben dem Glanzstück das Mißglückte, das ist kaum begreiflich. Tatsächlich ähnelt das Ganze einer Berg-und-Talbahn mit Aufschwüngen des Entzückens und jähen Abstürzen in stilistische Lapsus, die man bei dieser Schriftstellerin zuletzt erwartet hätte.
Mit schöner Leidenschaft schreibt Kronauer etwa über Lou Andreas-Salomé, die sie mit allem Recht als Schriftstellerin wahr- und ernst nimmt, und nicht nur als Freundin berühmter Männer. Man liest es mit dankbarer Neugier, bis man jählings an dem Satz hängenbleibt, daß in Lous Russischem Tagebuch die Ikone "als roter Faden und wörtlicher Stein des Anstoßes fungiert", und zwar "durch alle Polarisierungen" hindurch; und nichts gibt irgendeinen Anlaß, diese Potenzierung schiefer Bilder für irgendwie ironisch zu halten. Geist und Kindlichkeit sind "die zwei fundamentalen Pole" ihres Wesens, sie ist eine Meisterin des "sich wechselseitig befruchtenden und kritisierenden Hin- und Herspringens", und ihre Intellektualität ist, so steht es tatsächlich da, nicht "für verzichtbar zu halten". Man möchte das Buch an die Wand werfen bei solchen Stellen, damit der Frosch nur rasch wieder zum Prinzen werde - und siehe da, schon steht da wirklich das prägnante Bild, Lou lesend habe man das Gefühl, "auf nicht endenden, elektrisch brennenden Gehirnkorridoren und Wendeltreppen mit immer wieder verblüffenden Kehren zu gehen".
So geht es auf und ab. Wenn Brigitte Kronauer die Lektüre von Hans Boeschs Romanen empfiehlt, versichert sie im schauerlichsten Proseminarstil, "das oben angeführte Zitat" sei "für mich der Einstieg in seine Literatur" gewesen. Und als Verfasser des "berühmten ,Der Mond ist aufgegangen'" erscheint gar der brav heimatdichtende Hermann Claudius. Bei geringeren Autoren würden man derlei Mißgriffe achselzuckend übergehen. Bei ihr aber, der Meisterin des Details und der sprachlichen Nuance, schmerzen sie wie kleine Nadelstiche des Häßlichen. Manchmal ist es auch bloß eine Geschmacksfrage, ob man den scherzhaften Grundton angemessen findet oder nicht. Den Zauberberg zum Beispiel muß man nicht mögen. Über diesen "bürokratisch pedantischen" Roman aber zu behaupten, Thomas Mann lasse es "sich nicht nehmen, die Schneebedrängnisse seines Helden gemütlich metaphyselnd zu befabeln", finde ich weder scharf noch sinnig, sondern bloß doof.
Die extremen Ambivalenzen dieses Buches machen seinem Titel bedenklich viel Ehre. Zu ihnen gehört auch, daß bis zum Schluß, plötzlich und unerwartet, im Nebel des Nachlässigen diese wunderbaren Kronauerschen Einzelheiten aufleuchten können: diese zarten und genauen Tierbeobachtungen zum Beispiel, vom irdischen und himmlischen Stieglitz bis zu Ochs und Esel, oder diese Lautpoesie, zum Schmelzen schön. Warum ist "Svizzera" ein buchstäblich malerischer Name für dieses Land? Weil er das Land ist: "Vorn pfeift der Nordwind hoch zum Alpenhauptkamm des doppelten Z, um danach hinab ins offene Italienische zu gleiten." Und dann stellt sie, mitten in die Leserwut hinein, so entwaffnende Fragen wie diese: "Wo sind sie hin, die müßiggängerischen Nachmittage, an denen bei hohem Himmel, nach dem Vorbild sanft dahintreibender Wolken und ausschwärmender Löwenzahnsamen, die Wiese unter ihren Wäschesegeln, den träumerisch geblähten und immer leichter flatternden, die Anker lichtete?" Da verflattert dann aller Ärger, und es bleiben Zauber, Staunen, Dankbarkeit, diese drei.
HEINRICH DETERING.
Brigitte Kronauer: "Zweideutigkeit". Essays und Skizzen. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2002. 320 S., geb., 21,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Löwenzahnsamen: Essays und Skizzen von Brigitte Kronauer
"Gelegenheitstexte" heißt der erste der vier Teile, aus denen diese Sammlung von Essays und Skizzen zusammengesetzt ist. Die Überschrift könnte über dem ganzen Buch stehen. Hier finden sich die hübschen Tagebuch-Glossen versammelt, die Brigitte Kronauer zwischen 1997 und 1998 für die "Zürcher Weltwoche" schrieb, ein erstmals gedrucktes, witziges Impromptu über das Verhältnis von Geist und Geld, liebevolle Bemerkungen über deutsche Dichtung, alte Gemälde und neue botanische Gärten, ambitionierte Essays zur Literatur und bildenden Kunst neben kleinen und kleinsten Gelegenheitsarbeiten, Dankreden und Nebensachen.
In der Summe der Gelegenheiten soll sich, wie das Vorwort andeutet, eine Art Credo abzeichnen, sollen Kunst und Literatur als Spiel mit einer unauflöslichen Zweideutigkeit vorgeführt werden, einer Sinngebung, die in der Schwebe bleibt. Ausführlich entwickelt wird dieser Gedanke in einem Essay über Joseph Conrad, in dem der titelgebende Begriff aber überraschenderweise als Ergebnis nicht etwa zarter Verunklarung, sondern eines Strebens nach Vereinfachung erscheint. Die "unendliche Vieldeutigkeit der Welt" habe Conrad "systematisch ins Muster der Zweideutigkeit" zu zwingen versucht - aber auch keinen Schritt weiter. Ambivalenz, so lautet die Coda, erweise sich "nicht nur als Signum moderner Literatur, sie ist es, wenigstens unterschwellig, von Literatur schlechthin". Abgesehen von diesem Ergebnissatz - der immer vager wird, je länger man ihn ansieht -, bezeichnet Zweideutigkeit hier etwas Spezifischeres als im landläufigen Sprachgebrauch: ein Drittes zwischen einer Kapitulation angesichts des Kosmos und dem Bedürfnis nach "dezidierter Gestaltsetzung", deren Notwendigkeit und Gefährdungen die Autorin in einem späteren Text an sich selbst beobachtet. Die "Verblüffung über die Erscheinungen" lebendig zu erhalten, ohne an ihrer Überfülle zugrunde zu gehen: das erst ist die existentielle Spannung, in der sich die Kronauersche "Zweideutigkeit" hält.
Von ihr handelt freilich nur ein Teil dieser Gelegenheitsarbeiten, und ohne den Titel hätte man sie streckenweise fast wieder vergessen. Das macht aber auch nichts, weil man von einer Autorin wie dieser eigentlich alles lesen möchte. Doch leider gehört es zu den Risiken eines solchen Sammelbandes, daß sich manches, was als Einzeltext gewinnend war, in der Häufung als Marotte oder Kniff verrät. Für die auf Dauer etwas forcierte Munterkeit könnte das gelten und für die Neigung zum Putzigen, Kessen und Kecken. Auch kann derselbe Text ganz unterschiedliche Gesichter ziehen, je nachdem ob er als Glosse in der Zeitung zu lesen ist oder als Essay im Buch. Im letzteren Falle dürfte sich der Leser beispielsweise zu Überschriften wie "Was ich mir unter Deutschland denke" oder "Zu Vladimir Nabokov" etwas mehr wünschen als die je viereinhalb Seiten, nach denen das Thema gerade angetippt und der Text, hoppla, schon wieder zu Ende ist; aber das fällt nicht ins Gewicht.
Daß es etwas zuviel ist und zu unredigiert auch, das kann man ja blätternd und auswählend kompensieren. Aber daß dann neben dem Zauberhaften plötzlich das Läppische steht, neben dem Glanzstück das Mißglückte, das ist kaum begreiflich. Tatsächlich ähnelt das Ganze einer Berg-und-Talbahn mit Aufschwüngen des Entzückens und jähen Abstürzen in stilistische Lapsus, die man bei dieser Schriftstellerin zuletzt erwartet hätte.
Mit schöner Leidenschaft schreibt Kronauer etwa über Lou Andreas-Salomé, die sie mit allem Recht als Schriftstellerin wahr- und ernst nimmt, und nicht nur als Freundin berühmter Männer. Man liest es mit dankbarer Neugier, bis man jählings an dem Satz hängenbleibt, daß in Lous Russischem Tagebuch die Ikone "als roter Faden und wörtlicher Stein des Anstoßes fungiert", und zwar "durch alle Polarisierungen" hindurch; und nichts gibt irgendeinen Anlaß, diese Potenzierung schiefer Bilder für irgendwie ironisch zu halten. Geist und Kindlichkeit sind "die zwei fundamentalen Pole" ihres Wesens, sie ist eine Meisterin des "sich wechselseitig befruchtenden und kritisierenden Hin- und Herspringens", und ihre Intellektualität ist, so steht es tatsächlich da, nicht "für verzichtbar zu halten". Man möchte das Buch an die Wand werfen bei solchen Stellen, damit der Frosch nur rasch wieder zum Prinzen werde - und siehe da, schon steht da wirklich das prägnante Bild, Lou lesend habe man das Gefühl, "auf nicht endenden, elektrisch brennenden Gehirnkorridoren und Wendeltreppen mit immer wieder verblüffenden Kehren zu gehen".
So geht es auf und ab. Wenn Brigitte Kronauer die Lektüre von Hans Boeschs Romanen empfiehlt, versichert sie im schauerlichsten Proseminarstil, "das oben angeführte Zitat" sei "für mich der Einstieg in seine Literatur" gewesen. Und als Verfasser des "berühmten ,Der Mond ist aufgegangen'" erscheint gar der brav heimatdichtende Hermann Claudius. Bei geringeren Autoren würden man derlei Mißgriffe achselzuckend übergehen. Bei ihr aber, der Meisterin des Details und der sprachlichen Nuance, schmerzen sie wie kleine Nadelstiche des Häßlichen. Manchmal ist es auch bloß eine Geschmacksfrage, ob man den scherzhaften Grundton angemessen findet oder nicht. Den Zauberberg zum Beispiel muß man nicht mögen. Über diesen "bürokratisch pedantischen" Roman aber zu behaupten, Thomas Mann lasse es "sich nicht nehmen, die Schneebedrängnisse seines Helden gemütlich metaphyselnd zu befabeln", finde ich weder scharf noch sinnig, sondern bloß doof.
Die extremen Ambivalenzen dieses Buches machen seinem Titel bedenklich viel Ehre. Zu ihnen gehört auch, daß bis zum Schluß, plötzlich und unerwartet, im Nebel des Nachlässigen diese wunderbaren Kronauerschen Einzelheiten aufleuchten können: diese zarten und genauen Tierbeobachtungen zum Beispiel, vom irdischen und himmlischen Stieglitz bis zu Ochs und Esel, oder diese Lautpoesie, zum Schmelzen schön. Warum ist "Svizzera" ein buchstäblich malerischer Name für dieses Land? Weil er das Land ist: "Vorn pfeift der Nordwind hoch zum Alpenhauptkamm des doppelten Z, um danach hinab ins offene Italienische zu gleiten." Und dann stellt sie, mitten in die Leserwut hinein, so entwaffnende Fragen wie diese: "Wo sind sie hin, die müßiggängerischen Nachmittage, an denen bei hohem Himmel, nach dem Vorbild sanft dahintreibender Wolken und ausschwärmender Löwenzahnsamen, die Wiese unter ihren Wäschesegeln, den träumerisch geblähten und immer leichter flatternden, die Anker lichtete?" Da verflattert dann aller Ärger, und es bleiben Zauber, Staunen, Dankbarkeit, diese drei.
HEINRICH DETERING.
Brigitte Kronauer: "Zweideutigkeit". Essays und Skizzen. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2002. 320 S., geb., 21,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Zorn, Staunen, Ärger, Dankbarkeit - Heinrich Detering hat beim Lesen viel durchgemacht. Er warnt in seiner Rezension vor "den Risiken eines solchen Sammelbandes", wo "sich manches, was als Einzeltext gewinnend war, in der Häufung als Marotte und Kniff verrät". Der Band, informiert er uns, bestehe vor allem aus Artikeln, die Brigitte Kronauer in der "Zürcher Woche" veröffentlicht hat, aber auch aus Texten einiger anderer Autoren. Dass Kronauer nicht einen großen Teil ihrer schlechteren Texte weggelassen hat, ist dem Rezensenten unbegreiflich. So aber schicke Kronauer den Leser auf eine Berg- und Talfahrt bei der "neben dem Zauberhaften plötzlich das Läppische steht, neben dem Glanzstück das Missglückte". Der Rezensent leidet an den Schwachstellen, weil er Kronauer, die "Meisterin des Details und der sprachlichen Nuance" sehr schätzt: Er räumt zwar ein, dass in den vierseitigen Artikeln kaum Platz bleibt, einen Gedanken vernünftig auszubreiten, aber die handwerklichen Mängel und die vielen "schiefen Bilder" entschuldigt er nicht: "Man möchte das Buch an die Wand werfen bei solchen Stellen, damit der Frosch nur rasch wieder zum Prinzen werden."
© Perlentaucher Medien GmbH
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