1978, 1982: Zweimal Juni, zweimal Fußballweltmeisterschaft, und beide Male verliert Argentinien knapp gegen Italien. Auf die erste Niederlage, in Buenos Aires, folgt dennoch der Titelgewinn und der propagandistische Triumph der Militärjunta. Die zweite Niederlage, in Spanien, führt nicht nur zum Ausscheiden der Nationalmannschaft - sie wird begleitet vom katastrophal gescheiterten Falklandkrieg, der das Ende der Schreckensherrschaft einleitet.Und doch gibt es selbst in solchen Zeiten immer auch Leute, die es ganz gut getroffen haben. Etwa der junge Rekrut, der zunächst bei einem Militärarzt als Fahrer arbeitet und später als Medizinstudent den Krieg in der Zeitung verfolgt. Als er aber auf einer Gefallenenliste einen Namen bemerkt, der ihm bekannt vorkommt, entspinnen sich seine Erinnerungen, die an ein grauenhaftes Ereignis rühren. Mit dieser scheinbar unbeteiligten Stimme eines Mitläufers macht der Roman den Leser zum Komplizen und gewinnt eine Drastik und Intensität, die einemden Atem raubt. Martín Kohan schrieb mit Zweimal Juni den maßgeblichen Roman über die traumatischen Ereignisse der letzten Militärdiktatur.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.04.2009Argentinische Todesfuge
Wer sich fangen lässt, ist tot: Martín Kohan enthüllt in seinem verstörenden Roman die Moral des Massakrierens unter der Militärdiktatur - und rührt an ein Tabu.
Ab wie viel Jahren kann man ein Kind folltern?": Kurz nach seiner Einberufung zum Wehrdienst im Juni 1978 stößt der Rekrut des argentinischen Heeres, fast selbst noch ein Kind, auf diese Frage des Feldwebels im Benachrichtigungsbuch seiner Einheit. Die Lektüre verursacht in ihm Ekel und Unbehagen. Denn solch einen Satz bringt ein zivilisierter Mensch nicht zu Papier. Ein zivilisierter Mensch schreibt "foltern" nicht mit doppeltem "l". Und in einem Akt der heimlichen Insubordination korrigiert der junge Soldat den Fehler des Vorgesetzten mit feiner Feder. So dass nachfolgende Leser der Folter von Kindern in ihrer orthographisch korrekten Einfachheit begegnen können.
Ganz am Anfang von Martín Kohans Roman "Zweimal Juni" steht diese Episode. In vollem Maße begreifbar wird ihre Ungeheuerlichkeit jedoch erst am Ende. Denn dann ist unweigerlich klar, dass in dieser spontanen Reaktion des Ich-Erzählers bereits das gesamte Buch in seiner Essenz wiedergegeben ist. "Zweimal Juni" ist das genaue Gegenteil eines pädagogisch wertvollen Entwicklungsromans, in dem der Held von einem anfänglichen, mehr ahnungslosen als böswilligen Mitläufertum zur Einsicht in die menschenverachtenden Mechanismen der Videla-Diktatur geläutert würde: in ein System, das um die 30 000 Mitbürger zum "Verschwinden" brachte.
Dabei böten sich dem Rekruten doch sämtliche genretypischen Erlebnisse, die ihn, begonnen mit seinem schrecklichen Eingangsfund, zu ethischer Bewusstseinsbildung treiben könnten. So wird er Zeuge eines "Fachgesprächs" zwischen seinen vorgesetzten Militärärzten über besagten Fall. Die Experten kommen zu dem Ergebnis: Die Frage ist falsch gestellt. Ausschlaggebend für die Folterbarkeit eines Menschen ist nicht das Alter, sondern das Körpergewicht. Und da die Waage des Arztzimmers erst Gewichte ab fünf Kilogramm anzeigt, so die Folgerung, sei eine Folter des Säuglings wohl nicht sinnvoll. Selbst wenn sie die einzige Chance böte, dessen bereits fast totgemarterte Mutter noch zu einer Aussage zu bewegen.
Auf dem Höhepunkt des Romans scheint die Chance zu einer Umkehr greifbar nahe: als die halb ohnmächtige Frau den Rekruten um Mithilfe bittet. Ihn anfleht, ihrem Anwalt mitzuteilen, wo sie sich aufhält. Das wäre vielleicht bereits genug, um Mutter und Kind zu retten - ohne Gefahr für ihn selbst, ganz anonym, von einem öffentlichen Telefon aus. "Lass dich nicht reinziehen, du bist keiner von ihnen", stachelt sie sein Gewissen an. Er wehrt sich, beschimpft sie, kann von ihrer Stimme dennoch nicht lassen, lauscht ihr weiter. Und doch, so ist zu ahnen, bleibt seine Hilfe letztlich aus. "Wer sich fangen lässt, ist tot": Dieser Satz seines Vorgesetzten Dr. Mesiano, gültig für die eigenen Gefangenen wie für die des angeblichen Feindes der Nation, scheint auch dem Erzähler Naturgesetz.
Die Ereignisse um ihn herum werden von ihm unbeteiligt registriert, wenn sie nicht gerade in einem gemeinsamen Bordellbesuch mit dem Vorgesetzten bestehen, was als einziges Erlebnis in ihm nachhaltigen Eindruck bis in die Gegenwart hinterlässt. Befehle werden unhinterfragt ausgeführt - so dass die berichtete Romanhandlung stellenweise auch für den Leser schleierhaft wird. Was steckt hinter all den ominösen Aufträgen, dem ständigen Pendeln zwischen Buenos Aires und einer Garnison des Provinzorts Quilmes in Dr. Mesianos Ford Falcon? Auch wenn die sich hier verbergenden Greuel unschwer zu erahnen sind, interessiert man sich in diesem Juni 1978 mehr für das Schicksal der argentinischen Fußballnationalmannschaft als für das der Verfolgten. Mehr für Elfmeterschießen als für Elektroschocks bei jener Weltmeisterschaft, die die gesamte Welt trotz der Verbrechen des Regimes widerspruchslos in Argentinien feierte und zum größten Propagandacoup der Diktatur werden ließ.
Die Unterstützung der eigenen Mannschaft ist ein Dienst am Vaterland. Die Abgrenzung von "Terroristen" und "Extremisten" eine moralische Pflicht. "Die Moral befindet sich im Niedergang", "wir müssen die Pflicht erfüllen", tönen die massakrierenden Mediziner immer wieder stereotyp. Dabei empfinden sie sich durchaus als Feingeister, ja, als Retter des intellektuellen Diskurses. Denn: "Das Problem hierzulande ist die Ignoranz der Studierten, der Leute, die eigentlich etwas wissen müssen." Wenn die Denker ihrer gesellschaftlichen Pflicht nicht nachkommen, dient die Folter als Volksbildungsmittel.
Martín Kohan gelingt durch die Zeichnung dieser gleichermaßen grotesken wie banalen Figuren eine eindrucksvolle Antwort auf die Frage nach der Motivation der Schergen und der Tatenlosigkeit der Mitläufer. Erstere handeln nicht etwa als sadistisch mordende Monster, sondern als selbsternannte Verteidiger einer moralischen Instanz, eines Zivilisationsmodells; und Letztere einfach aus stupidem Gehorsam. Damit bricht Kohan in eine gesellschaftliche Tabuzone ein, die trotz der Aufarbeitung der letzten Jahre in Argentinien noch immer weitaus heikler ist als etwa die Verbrechen der Nazis. Auch jüdische Autoren wie Kohan spüren eingestandenermaßen diese Hemmung: "Der Holocaust ist etwas, worüber selbst wir Juden bereits Witze machen. Von der Diktatur dagegen kann man noch immer nicht mit Ironie sprechen."
Welch nervöses Rumoren sich hinter der scheinbar apathisch-linearen Geschichte seines Ich-Erzählers verbirgt, wird bei Kohan ganz besonders durch die ungewöhnliche Form der Erzählung manifest. Sie setzt sich hektisch aus verschiedenen Realitätsfragmenten zusammen, in kleinen, manchmal nur zeilenlangen Kapitelchen, die akribisch durchnumeriert sind. Fußball und Vaterlandswahn, Medizin und Folter, Krieg und Sex - alles wird von Kohan in einem fast maschinellen Springen der Perspektiven ineinandergeflochten wie von einem mechanischen Webstuhl. In dieser atemberaubenden Geschwindigkeit, die zur Reflexion kaum Zeit lässt, gewinnt der Erzählfluss aber zugleich den Charakter eines Musikstücks. Die Kunst der Folter als Kunst der Fuge. Eine Todesfuge, die Kohan mit stilistischer Meisterschaft spielt. Und doch ist die penible numerische Ordnung nur Illusion.
Auch die Hauptkapitel tragen Nummern. Aber sie gehen völlig ungeordnet durcheinander, sind eine Art albtraumhafter Reflex auf Ereignisse der Handlung. Selbst der verheißungsvolle Titel des Romans, "Zweimal Juni", erweist sich letztlich als fußballphilosophische Banalität der Folterer: als Produkt eines Geschichtspessimismus, bei dem Maradona im Mittelfeld spielt. Bei zwei Weltmeisterschaften im Juni, 1978 und 1982, verlor Argentinien ein entscheidendes Spiel gegen Italien. Während 1978 daraus aber doch noch ein Triumph resultierte, ist im Juni 1982 alles verloren: der Fußball, der Falkland-Krieg, die Regierung - und daher auch die Nation.
Bewusst unternimmt Kohan im Epilog seines Romans diesen Sprung von 1978 nach 1982. Schweigend übergeht er das dazwischen Geschehene - um wieder zu seinem Ich-Erzähler zurückzukehren. Dem fiel nach seinen Erfahrungen mit den weißbekittelten Folterknechten der Diktatur nichts Besseres ein, als selbst Medizin zu studieren. Eine Mitleidsregung empfindet er erstmals, als er auf der Liste der Kriegstoten den Sohn Dr. Mesianos findet. Der Kondolenzbesuch wird zum Wiedersehen zwischen alten Freunden. Stupide wiegt sich dazu die Gattin vor dem Fernseher, inzwischen ein debiler Pflegefall. Ob der Schmerz über den Verlust des Sohnes daran schuld ist, wird verschwiegen. Es ist eine spießige, miefige Vorstadtidylle, in der selbst der eigene Trauerfall verdrängt wird. Von Schuldgefühl oder Reue keine Spur. Die Täter büßen nicht, träumen nicht schlecht. Sie gießen Blumen und streuen Ameisengift im Vorgarten.
FLORIAN BORCHMEYER
Martín Kohan: "Zweimal Juni". Roman. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 183 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wer sich fangen lässt, ist tot: Martín Kohan enthüllt in seinem verstörenden Roman die Moral des Massakrierens unter der Militärdiktatur - und rührt an ein Tabu.
Ab wie viel Jahren kann man ein Kind folltern?": Kurz nach seiner Einberufung zum Wehrdienst im Juni 1978 stößt der Rekrut des argentinischen Heeres, fast selbst noch ein Kind, auf diese Frage des Feldwebels im Benachrichtigungsbuch seiner Einheit. Die Lektüre verursacht in ihm Ekel und Unbehagen. Denn solch einen Satz bringt ein zivilisierter Mensch nicht zu Papier. Ein zivilisierter Mensch schreibt "foltern" nicht mit doppeltem "l". Und in einem Akt der heimlichen Insubordination korrigiert der junge Soldat den Fehler des Vorgesetzten mit feiner Feder. So dass nachfolgende Leser der Folter von Kindern in ihrer orthographisch korrekten Einfachheit begegnen können.
Ganz am Anfang von Martín Kohans Roman "Zweimal Juni" steht diese Episode. In vollem Maße begreifbar wird ihre Ungeheuerlichkeit jedoch erst am Ende. Denn dann ist unweigerlich klar, dass in dieser spontanen Reaktion des Ich-Erzählers bereits das gesamte Buch in seiner Essenz wiedergegeben ist. "Zweimal Juni" ist das genaue Gegenteil eines pädagogisch wertvollen Entwicklungsromans, in dem der Held von einem anfänglichen, mehr ahnungslosen als böswilligen Mitläufertum zur Einsicht in die menschenverachtenden Mechanismen der Videla-Diktatur geläutert würde: in ein System, das um die 30 000 Mitbürger zum "Verschwinden" brachte.
Dabei böten sich dem Rekruten doch sämtliche genretypischen Erlebnisse, die ihn, begonnen mit seinem schrecklichen Eingangsfund, zu ethischer Bewusstseinsbildung treiben könnten. So wird er Zeuge eines "Fachgesprächs" zwischen seinen vorgesetzten Militärärzten über besagten Fall. Die Experten kommen zu dem Ergebnis: Die Frage ist falsch gestellt. Ausschlaggebend für die Folterbarkeit eines Menschen ist nicht das Alter, sondern das Körpergewicht. Und da die Waage des Arztzimmers erst Gewichte ab fünf Kilogramm anzeigt, so die Folgerung, sei eine Folter des Säuglings wohl nicht sinnvoll. Selbst wenn sie die einzige Chance böte, dessen bereits fast totgemarterte Mutter noch zu einer Aussage zu bewegen.
Auf dem Höhepunkt des Romans scheint die Chance zu einer Umkehr greifbar nahe: als die halb ohnmächtige Frau den Rekruten um Mithilfe bittet. Ihn anfleht, ihrem Anwalt mitzuteilen, wo sie sich aufhält. Das wäre vielleicht bereits genug, um Mutter und Kind zu retten - ohne Gefahr für ihn selbst, ganz anonym, von einem öffentlichen Telefon aus. "Lass dich nicht reinziehen, du bist keiner von ihnen", stachelt sie sein Gewissen an. Er wehrt sich, beschimpft sie, kann von ihrer Stimme dennoch nicht lassen, lauscht ihr weiter. Und doch, so ist zu ahnen, bleibt seine Hilfe letztlich aus. "Wer sich fangen lässt, ist tot": Dieser Satz seines Vorgesetzten Dr. Mesiano, gültig für die eigenen Gefangenen wie für die des angeblichen Feindes der Nation, scheint auch dem Erzähler Naturgesetz.
Die Ereignisse um ihn herum werden von ihm unbeteiligt registriert, wenn sie nicht gerade in einem gemeinsamen Bordellbesuch mit dem Vorgesetzten bestehen, was als einziges Erlebnis in ihm nachhaltigen Eindruck bis in die Gegenwart hinterlässt. Befehle werden unhinterfragt ausgeführt - so dass die berichtete Romanhandlung stellenweise auch für den Leser schleierhaft wird. Was steckt hinter all den ominösen Aufträgen, dem ständigen Pendeln zwischen Buenos Aires und einer Garnison des Provinzorts Quilmes in Dr. Mesianos Ford Falcon? Auch wenn die sich hier verbergenden Greuel unschwer zu erahnen sind, interessiert man sich in diesem Juni 1978 mehr für das Schicksal der argentinischen Fußballnationalmannschaft als für das der Verfolgten. Mehr für Elfmeterschießen als für Elektroschocks bei jener Weltmeisterschaft, die die gesamte Welt trotz der Verbrechen des Regimes widerspruchslos in Argentinien feierte und zum größten Propagandacoup der Diktatur werden ließ.
Die Unterstützung der eigenen Mannschaft ist ein Dienst am Vaterland. Die Abgrenzung von "Terroristen" und "Extremisten" eine moralische Pflicht. "Die Moral befindet sich im Niedergang", "wir müssen die Pflicht erfüllen", tönen die massakrierenden Mediziner immer wieder stereotyp. Dabei empfinden sie sich durchaus als Feingeister, ja, als Retter des intellektuellen Diskurses. Denn: "Das Problem hierzulande ist die Ignoranz der Studierten, der Leute, die eigentlich etwas wissen müssen." Wenn die Denker ihrer gesellschaftlichen Pflicht nicht nachkommen, dient die Folter als Volksbildungsmittel.
Martín Kohan gelingt durch die Zeichnung dieser gleichermaßen grotesken wie banalen Figuren eine eindrucksvolle Antwort auf die Frage nach der Motivation der Schergen und der Tatenlosigkeit der Mitläufer. Erstere handeln nicht etwa als sadistisch mordende Monster, sondern als selbsternannte Verteidiger einer moralischen Instanz, eines Zivilisationsmodells; und Letztere einfach aus stupidem Gehorsam. Damit bricht Kohan in eine gesellschaftliche Tabuzone ein, die trotz der Aufarbeitung der letzten Jahre in Argentinien noch immer weitaus heikler ist als etwa die Verbrechen der Nazis. Auch jüdische Autoren wie Kohan spüren eingestandenermaßen diese Hemmung: "Der Holocaust ist etwas, worüber selbst wir Juden bereits Witze machen. Von der Diktatur dagegen kann man noch immer nicht mit Ironie sprechen."
Welch nervöses Rumoren sich hinter der scheinbar apathisch-linearen Geschichte seines Ich-Erzählers verbirgt, wird bei Kohan ganz besonders durch die ungewöhnliche Form der Erzählung manifest. Sie setzt sich hektisch aus verschiedenen Realitätsfragmenten zusammen, in kleinen, manchmal nur zeilenlangen Kapitelchen, die akribisch durchnumeriert sind. Fußball und Vaterlandswahn, Medizin und Folter, Krieg und Sex - alles wird von Kohan in einem fast maschinellen Springen der Perspektiven ineinandergeflochten wie von einem mechanischen Webstuhl. In dieser atemberaubenden Geschwindigkeit, die zur Reflexion kaum Zeit lässt, gewinnt der Erzählfluss aber zugleich den Charakter eines Musikstücks. Die Kunst der Folter als Kunst der Fuge. Eine Todesfuge, die Kohan mit stilistischer Meisterschaft spielt. Und doch ist die penible numerische Ordnung nur Illusion.
Auch die Hauptkapitel tragen Nummern. Aber sie gehen völlig ungeordnet durcheinander, sind eine Art albtraumhafter Reflex auf Ereignisse der Handlung. Selbst der verheißungsvolle Titel des Romans, "Zweimal Juni", erweist sich letztlich als fußballphilosophische Banalität der Folterer: als Produkt eines Geschichtspessimismus, bei dem Maradona im Mittelfeld spielt. Bei zwei Weltmeisterschaften im Juni, 1978 und 1982, verlor Argentinien ein entscheidendes Spiel gegen Italien. Während 1978 daraus aber doch noch ein Triumph resultierte, ist im Juni 1982 alles verloren: der Fußball, der Falkland-Krieg, die Regierung - und daher auch die Nation.
Bewusst unternimmt Kohan im Epilog seines Romans diesen Sprung von 1978 nach 1982. Schweigend übergeht er das dazwischen Geschehene - um wieder zu seinem Ich-Erzähler zurückzukehren. Dem fiel nach seinen Erfahrungen mit den weißbekittelten Folterknechten der Diktatur nichts Besseres ein, als selbst Medizin zu studieren. Eine Mitleidsregung empfindet er erstmals, als er auf der Liste der Kriegstoten den Sohn Dr. Mesianos findet. Der Kondolenzbesuch wird zum Wiedersehen zwischen alten Freunden. Stupide wiegt sich dazu die Gattin vor dem Fernseher, inzwischen ein debiler Pflegefall. Ob der Schmerz über den Verlust des Sohnes daran schuld ist, wird verschwiegen. Es ist eine spießige, miefige Vorstadtidylle, in der selbst der eigene Trauerfall verdrängt wird. Von Schuldgefühl oder Reue keine Spur. Die Täter büßen nicht, träumen nicht schlecht. Sie gießen Blumen und streuen Ameisengift im Vorgarten.
FLORIAN BORCHMEYER
Martín Kohan: "Zweimal Juni". Roman. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 183 S., geb., 19,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.05.2009Doktor Mesiano und sein harmloser Chauffeur
Martín Kohans Roman „Zweimal Juni” über die Militärdiktatur in Argentinien und die Fußball-Weltmeisterschaften von 1978 und 1982
Sechshundertvierzig bedeutet „Heer”, und dem Vater stehen die Tränen in den Augen vor Rührung und Stolz. Zu Zeiten der Militärdiktatur war die Wehrpflicht in Argentinien in Form einer Lotterie organisiert. Die einzuberufenden Jahrgänge wurden in einer an den Nummern der Personalausweise orientierten Verlosung den drei Bereichen Heer, Luftwaffe oder Marine zugeteilt. Die Ergebnisse wurden dann im Rahmen einer stundenlangen Radioübertragung landesweit bekannt gegeben. So sitzt also auch der junge Ich-Erzähler von Martín Kohans Roman „Zweimal Juni” im Jahr 1978 mit seiner Familie vor dem Radio. Als die Entscheidung feststeht, dass der Sohn beim Heer einrücken wird, gibt der Vater ihm eine Menge Ratschläge mit auf den Weg, die allesamt nach strengem Gehorsam und männerbündlerischer Treue klingen. Man denkt, so viel steht schon früh fest, nicht selbst in dieser Familie.
Die drei Wochen der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land, inszeniert als ein großes propagandistisches Spektakel, bei dem am Ende Argentinien gegen die Niederlande gewinnt, bilden den zeitlichen Rahmen von Kohans in kurzen, manchmal nur wenigen Zeilen umfassenden Episoden erzähltem Roman. Zu Beginn sind zwei Perspektiven gegeneinander geschnitten, die des Ich-Erzählers und die einer hochschwangeren jungen Frau, deren Sohn unter merkwürdigen Umständen auf die Welt kommt. Nach und nach zeigt sich erst, wie alles zusammen gehört – so auch der Zettel auf dem Tisch im Dienstzimmer, den der junge Rekrut vorfindet und auf dem (in drastisch falscher Orthographie) die Frage aufgeworfen wird, ab welchem Alter ein Kind wirkungsvoll gefoltert werden kann.
Der Erzähler ist der klassische Typus des tumben Mitläufers, der alles sieht, wenig begreift und den Rest verdrängt. Er steigt zum Chauffeur einer geradezu diabolischen Figur auf: Doktor Mesiano, ein Arzt, der den sonntäglichen Kirchgang selten verpasst (auch wenn er die Nacht zuvor mit Prostituierten verbracht hat) und der offensichtlich im Escuela de Mecánica de la Armada, einem der berüchtigten Folterzentren der Diktatur, das Sagen hat. So schließt sich der Kreis zu der jungen Mutter im Anfangskapitel. „,Die Guerrilleras lassen sich extra schwängern’, sagte Doktor Mesiano. ,Sie glauben, wenn sie schwanger sind, tun wir ihnen nichts.’ Er kurbelte das Fenster hinunter und spuckte energisch aufs Pflaster. Das war eigentlich nicht seine Art, aber kein Mensch benimmt sich immer so, wie es normalerweise seine Art ist.”
Ein permanentes Relativieren und Herabmoderieren des augenblicklichen Geschehens vor sich selbst bestimmt den Standpunkt des Erzählers. Das lässt „Zweimal Juni” in seinen starken Passagen so unheimlich werden. Die Selbstverständlichkeit, mit der ein Gewaltsystem in den Alltag integriert worden ist, geht einher mit einem gut funktionierenden Verdrängungsmechanismus. Als der junge Rekrut eines Tages in einem langen Gang auf seinen Vorgesetzten wartet und aus einer Zelle heraus im Detail über dessen Foltermethoden unterrichtet wird, brüllt er die Stimme nieder: „Schluss jetzt, Drecksfotze, du bist tot, merkst du das nicht?” Danach wird nie wieder die Rede davon sein.
„Zweimal Juni” ist eine bemerkenswerte Darstellung dessen, wie sich Normalität in einer Diktatur ausdrückt – in einem unauffälligen und selbstverständlichen Darinaufgehen; im stillen, von Erziehung geprägtem Gehorsam des jungen Soldaten und der perfiden Intelligenz der Führungselite. Ein wenig zu verspielt gerät Kohans Roman hin und wieder, etwa dann, wenn er die Aufstellung der argentinischen Mannschaft leitmotivisch in den Roman integriert, jeweils nach unterschiedlichen Kriterien wie Körpergröße, Gewicht oder Geburtsdatum sortiert.
Zum Ende hin wird es aber noch einmal ernst: Vier Jahre später, im Juni 1982 ist erneut Weltmeisterschaft, Argentinien scheidet in Spanien gegen Italien vorzeitig aus und die Nation versinkt nach der Fernsehübertragung in stummer Trauer, exakt vierzehn Tage nach der Kapitulation im Falkland-Krieg . Der Erzähler, mittlerweile Medizinstudent, liest den Namen Mesiano in der Zeitung und macht sich noch einmal auf zu seinem alten Gönner.
So verknüpft Kohan schließlich alle Handlungsfäden auf geschickte Weise miteinander, ohne dadurch den verbliebenen Rest eines zuvor entstandenen Gefühls zu tilgen - eines Unbehagens darüber, dass das menschlich Abgründige stets im Gewand des Durchschnittlichen daherkommt. CHRISTOPH SCHRÖDER
MARTÍN KOHAN: Zweimal Juni. Roman. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 184 Seiten, 19,80 Euro.
1978: General Jorge Videla überreicht den WM-Pokal an die argentinische Mannschaft. Foto: picture alliance / dpa
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Martín Kohans Roman „Zweimal Juni” über die Militärdiktatur in Argentinien und die Fußball-Weltmeisterschaften von 1978 und 1982
Sechshundertvierzig bedeutet „Heer”, und dem Vater stehen die Tränen in den Augen vor Rührung und Stolz. Zu Zeiten der Militärdiktatur war die Wehrpflicht in Argentinien in Form einer Lotterie organisiert. Die einzuberufenden Jahrgänge wurden in einer an den Nummern der Personalausweise orientierten Verlosung den drei Bereichen Heer, Luftwaffe oder Marine zugeteilt. Die Ergebnisse wurden dann im Rahmen einer stundenlangen Radioübertragung landesweit bekannt gegeben. So sitzt also auch der junge Ich-Erzähler von Martín Kohans Roman „Zweimal Juni” im Jahr 1978 mit seiner Familie vor dem Radio. Als die Entscheidung feststeht, dass der Sohn beim Heer einrücken wird, gibt der Vater ihm eine Menge Ratschläge mit auf den Weg, die allesamt nach strengem Gehorsam und männerbündlerischer Treue klingen. Man denkt, so viel steht schon früh fest, nicht selbst in dieser Familie.
Die drei Wochen der Fußballweltmeisterschaft im eigenen Land, inszeniert als ein großes propagandistisches Spektakel, bei dem am Ende Argentinien gegen die Niederlande gewinnt, bilden den zeitlichen Rahmen von Kohans in kurzen, manchmal nur wenigen Zeilen umfassenden Episoden erzähltem Roman. Zu Beginn sind zwei Perspektiven gegeneinander geschnitten, die des Ich-Erzählers und die einer hochschwangeren jungen Frau, deren Sohn unter merkwürdigen Umständen auf die Welt kommt. Nach und nach zeigt sich erst, wie alles zusammen gehört – so auch der Zettel auf dem Tisch im Dienstzimmer, den der junge Rekrut vorfindet und auf dem (in drastisch falscher Orthographie) die Frage aufgeworfen wird, ab welchem Alter ein Kind wirkungsvoll gefoltert werden kann.
Der Erzähler ist der klassische Typus des tumben Mitläufers, der alles sieht, wenig begreift und den Rest verdrängt. Er steigt zum Chauffeur einer geradezu diabolischen Figur auf: Doktor Mesiano, ein Arzt, der den sonntäglichen Kirchgang selten verpasst (auch wenn er die Nacht zuvor mit Prostituierten verbracht hat) und der offensichtlich im Escuela de Mecánica de la Armada, einem der berüchtigten Folterzentren der Diktatur, das Sagen hat. So schließt sich der Kreis zu der jungen Mutter im Anfangskapitel. „,Die Guerrilleras lassen sich extra schwängern’, sagte Doktor Mesiano. ,Sie glauben, wenn sie schwanger sind, tun wir ihnen nichts.’ Er kurbelte das Fenster hinunter und spuckte energisch aufs Pflaster. Das war eigentlich nicht seine Art, aber kein Mensch benimmt sich immer so, wie es normalerweise seine Art ist.”
Ein permanentes Relativieren und Herabmoderieren des augenblicklichen Geschehens vor sich selbst bestimmt den Standpunkt des Erzählers. Das lässt „Zweimal Juni” in seinen starken Passagen so unheimlich werden. Die Selbstverständlichkeit, mit der ein Gewaltsystem in den Alltag integriert worden ist, geht einher mit einem gut funktionierenden Verdrängungsmechanismus. Als der junge Rekrut eines Tages in einem langen Gang auf seinen Vorgesetzten wartet und aus einer Zelle heraus im Detail über dessen Foltermethoden unterrichtet wird, brüllt er die Stimme nieder: „Schluss jetzt, Drecksfotze, du bist tot, merkst du das nicht?” Danach wird nie wieder die Rede davon sein.
„Zweimal Juni” ist eine bemerkenswerte Darstellung dessen, wie sich Normalität in einer Diktatur ausdrückt – in einem unauffälligen und selbstverständlichen Darinaufgehen; im stillen, von Erziehung geprägtem Gehorsam des jungen Soldaten und der perfiden Intelligenz der Führungselite. Ein wenig zu verspielt gerät Kohans Roman hin und wieder, etwa dann, wenn er die Aufstellung der argentinischen Mannschaft leitmotivisch in den Roman integriert, jeweils nach unterschiedlichen Kriterien wie Körpergröße, Gewicht oder Geburtsdatum sortiert.
Zum Ende hin wird es aber noch einmal ernst: Vier Jahre später, im Juni 1982 ist erneut Weltmeisterschaft, Argentinien scheidet in Spanien gegen Italien vorzeitig aus und die Nation versinkt nach der Fernsehübertragung in stummer Trauer, exakt vierzehn Tage nach der Kapitulation im Falkland-Krieg . Der Erzähler, mittlerweile Medizinstudent, liest den Namen Mesiano in der Zeitung und macht sich noch einmal auf zu seinem alten Gönner.
So verknüpft Kohan schließlich alle Handlungsfäden auf geschickte Weise miteinander, ohne dadurch den verbliebenen Rest eines zuvor entstandenen Gefühls zu tilgen - eines Unbehagens darüber, dass das menschlich Abgründige stets im Gewand des Durchschnittlichen daherkommt. CHRISTOPH SCHRÖDER
MARTÍN KOHAN: Zweimal Juni. Roman. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009. 184 Seiten, 19,80 Euro.
1978: General Jorge Videla überreicht den WM-Pokal an die argentinische Mannschaft. Foto: picture alliance / dpa
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Es ist ein Roman über die Zeit der Militärdiktatur in Argentinien, aber er ist mit seinem finsteren Thema – Folter – so klug gebaut, dass man ihn zugleich als Roman über das Wesen des Politischen lesen sollte, meint der Schriftsteller Raul Zelik in seiner bewundernden Kritik des Buchs. Folter wurde in Argentinien wie später in Guantanamo durch Mediziner "wissenschaftlich" begleitet und legitimiert. Ein solcher Mediziner steht im Mittelpunkt des Romans, und dabei wird es dem Leser laut Zelik keineswegs durch Gesinnungskitsch einfach gemacht, ihn zu verabscheuen. Das ganze wird außerdem noch kontrastiert durch die Stimmungen der Fußball-WM von 1978, als Argentinien zur Freude der Generäle Weltmeister wurde, und 1982, als der Falklandkrieg das Ende des Regimes einleitete. Zelik empfiehlt "Zweimal Juni" als "großen Roman über das emotionale Gleichgewicht politischer Herrschaft".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Ein großer Roman über das emotionale Gleichgewicht politischer Herrschaft.« Raul Zelik DIE ZEIT 20090520