Knapp zweieinhalb Millionen Frauen und Männer sind seit der Wiedervereinigung in den »wilden Osten« gegangen: aus beruflichen Gründen, der Liebe wegen oder aus purer Abenteuerlust. So wie Rainald Grebe, Kabarettist aus dem Rheinland, dem der Westen zu spießig war, wie Gertraud Huber aus Niederbayern, die in der Uckermark den beliebten »Huberhof« betreibt, oder wie Dirk Grotkopp, der als Landarzt in Mecklenburg gebraucht wird. Der Weg in die zweite Heimat ist lang, mitunter steinig und voller Überraschungen. Von der Faszination des Fremden, dem Anderssein und der Sehnsucht anzukommen, davon handeln diese lebensprallen, einfühlsam erzählten Porträts. Sie bieten einen neuen Blick auf die gesamtdeutsche Geschichte - 25 Jahre nach dem Mauerfall.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wie Westdeutsche im Osten eine neue Heimat gefunden und was sie dort erlebt haben, erfährt Cornelius Pollmer in diesem Buch des Journalisten Markus Decker, der hier auch seine eigene Geschichte erzählt. Dass der Autor nicht die üblichen bauernschlauen Geschäftsleute und Beamten begleitet, sondern eine Bischöfin mit missionarischem Ansinnen oder Menschen, die den Neonazis trotzen, imponiert dem Rezensenten. Die Unterschiedlichkeit der Wanderungsbewegungen wird in den Episoden und Biografien deutlich, schreibt er. Gegen das Fremdeln zwischen Ost und West, meint er, ist das von "ehrlichem Erkenntnisinteresse" geleitete Buch ein nützlicher Beitrag.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.02.2015Nach dem
Seitenwechsel
Markus Decker über das Leben
Westdeutscher in Ostdeutschland
Müsste man den Silberblick der Ost- und Westdeutschen aufeinander in einem Wort codieren, es wäre wohl dieses: rübermachen. In diesem Wort steckt die Sehnsucht nach dem Seitenwechsel. In dem Wort rübermachen steckt die Behauptung, dass es für den Seitenwechsel im Grunde nur eine gescheite Richtung geben kann. In den Zeugenstand sei der Duden zitiert und aus ihm ein Beispielsatz für die Verwendung des gerade eingeführten Verbs: „sie hatten schon vor dem Mauerbau [in den Westen] rübergemacht.“
Der Journalist Markus Decker hat 1992 und damit lange nach dem Mauerbau in den Osten rübergemacht. Er war dort zunächst Volontär bei der Mitteldeutschen Zeitung aus Halle (Saale), seit 2001 arbeitet er als Parlamentskorrespondent in Berlin. Decker hat also rübergemacht und er hat nun ein Buch über jene zweieinhalb Millionen Menschen geschrieben, die es ihm seit der Wiedervereinigung gleichgetan haben. So viele sind es, die aus unterschiedlichen Gründen den Seitenwechsel in den Osten gewagt haben. Der Liebe wegen, des Berufs wegen, aus purer Neugier. Darunter sind, natürlich, sehr viele Beamte. Sie kamen mit gutem Aufbauwillen oder sie kamen als bauernschlaue Dünnbrettbohrer, die ahnten, dass in der Not selbst mit bescheidenem Talent im Osten ein paar Sprossen mehr auf der Leiter zu nehmen waren als etwa in Baden-Württemberg.
Wer einen Spitzenbeamten aus der alten BRD betrachten will, der kann im Osten in eine beliebige Landesverwaltung spazieren – drei Viertel aller Leitungspositionen sind dort noch immer mit Westdeutschen besetzt. Markus Decker konzentriert sich in „Zweite Heimat – Westdeutsche im Osten“ nicht auf solche Hauptströme. Er arbeitet stattdessen und glücklicherweise die Unterschiedlichkeit der Wanderungsbewegungen heraus, indem er einige der Wanderer episodenhaft und biografisch vorstellt. Da ist die Bischöfin Ilse Junkermann aus Stuttgart, die im Osten neuen Glauben zu säen versucht. Da ist Jan Korte, ein Niedersachse, der für die Linkspartei im Bundestag sitzt und zum Teil in Bitterfeld-Wolfen lebt. Da sind auch Birgit und Horst Lohmeyer, die eine günstige Bleibe in Mecklenburg fanden und die blieben, als sie es mit den neuen Rechtsextremen zu tun bekamen.
Neulich wurde mal wieder eine Ost-West-Studie vorgestellt: Gemeinsamkeiten, Unterschiede, alles in Prozent gemessen, ach, hier, schau mal an. Dabei sind die strukturellen Gefälle zwischen West und Ost bekannt. Schneller verschwinden könnte das Immer-noch-Fremdeln der Menschen aus beiden Teilen. Das von ehrlichem Erkenntnisinteresse geleitete Buch von Markus Decker ist dazu ein beachtenswerter Beitrag. Den Auftrag an die Folgeforschung formuliert er gleich mit: Das Buch über Ostdeutsche im Westen müsse noch geschrieben werden.
CORNELIUS POLLMER
Markus Decker: Zweite Heimat – Westdeutsche im Osten. Ch. Links Verlag, 2015. 240 S., 16,90 Euro.
Sie zogen in den Osten: der
Liebe wegen, des Berufs wegen
oder aus purer Neugier
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Seitenwechsel
Markus Decker über das Leben
Westdeutscher in Ostdeutschland
Müsste man den Silberblick der Ost- und Westdeutschen aufeinander in einem Wort codieren, es wäre wohl dieses: rübermachen. In diesem Wort steckt die Sehnsucht nach dem Seitenwechsel. In dem Wort rübermachen steckt die Behauptung, dass es für den Seitenwechsel im Grunde nur eine gescheite Richtung geben kann. In den Zeugenstand sei der Duden zitiert und aus ihm ein Beispielsatz für die Verwendung des gerade eingeführten Verbs: „sie hatten schon vor dem Mauerbau [in den Westen] rübergemacht.“
Der Journalist Markus Decker hat 1992 und damit lange nach dem Mauerbau in den Osten rübergemacht. Er war dort zunächst Volontär bei der Mitteldeutschen Zeitung aus Halle (Saale), seit 2001 arbeitet er als Parlamentskorrespondent in Berlin. Decker hat also rübergemacht und er hat nun ein Buch über jene zweieinhalb Millionen Menschen geschrieben, die es ihm seit der Wiedervereinigung gleichgetan haben. So viele sind es, die aus unterschiedlichen Gründen den Seitenwechsel in den Osten gewagt haben. Der Liebe wegen, des Berufs wegen, aus purer Neugier. Darunter sind, natürlich, sehr viele Beamte. Sie kamen mit gutem Aufbauwillen oder sie kamen als bauernschlaue Dünnbrettbohrer, die ahnten, dass in der Not selbst mit bescheidenem Talent im Osten ein paar Sprossen mehr auf der Leiter zu nehmen waren als etwa in Baden-Württemberg.
Wer einen Spitzenbeamten aus der alten BRD betrachten will, der kann im Osten in eine beliebige Landesverwaltung spazieren – drei Viertel aller Leitungspositionen sind dort noch immer mit Westdeutschen besetzt. Markus Decker konzentriert sich in „Zweite Heimat – Westdeutsche im Osten“ nicht auf solche Hauptströme. Er arbeitet stattdessen und glücklicherweise die Unterschiedlichkeit der Wanderungsbewegungen heraus, indem er einige der Wanderer episodenhaft und biografisch vorstellt. Da ist die Bischöfin Ilse Junkermann aus Stuttgart, die im Osten neuen Glauben zu säen versucht. Da ist Jan Korte, ein Niedersachse, der für die Linkspartei im Bundestag sitzt und zum Teil in Bitterfeld-Wolfen lebt. Da sind auch Birgit und Horst Lohmeyer, die eine günstige Bleibe in Mecklenburg fanden und die blieben, als sie es mit den neuen Rechtsextremen zu tun bekamen.
Neulich wurde mal wieder eine Ost-West-Studie vorgestellt: Gemeinsamkeiten, Unterschiede, alles in Prozent gemessen, ach, hier, schau mal an. Dabei sind die strukturellen Gefälle zwischen West und Ost bekannt. Schneller verschwinden könnte das Immer-noch-Fremdeln der Menschen aus beiden Teilen. Das von ehrlichem Erkenntnisinteresse geleitete Buch von Markus Decker ist dazu ein beachtenswerter Beitrag. Den Auftrag an die Folgeforschung formuliert er gleich mit: Das Buch über Ostdeutsche im Westen müsse noch geschrieben werden.
CORNELIUS POLLMER
Markus Decker: Zweite Heimat – Westdeutsche im Osten. Ch. Links Verlag, 2015. 240 S., 16,90 Euro.
Sie zogen in den Osten: der
Liebe wegen, des Berufs wegen
oder aus purer Neugier
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Was dieses Buch so lesenswert macht, sind die offenherzig dargestellten Geschichten der Protagonisten. (...) In erfrischendem Reportage-Stil schreibt Decker über Erwartungen, erfüllte wie unerfüllte, Begeisterung über das neue Leben, aber auch Enttäuschungen und die Erkenntnis, dass das "Abenteuer Ost" nicht zwangsläufig glücklich enden muss." Das Parlament Deckers Buch, das viele einzelne Erfahrungen aus Ost und West versammelt, ist ein Zeitzeugnis - dafür, dass die Deutschen wenigstens versuchen, ein Volk zu werden. titel, thesen, temperamente (ARD)