Alle Welt kocht. Dies suggerieren zumindest die dicht bestückten Regale jeder größeren Buchhandlung, in denen sich Kochbücher für die traditionelle, die regionale, die mediterrane, die vegetarische, die vegane, die Diät- oder Slow-Food-Küche, Kochbücher für den Single-Haushalt und Kochbücher, die von Landfrauen und den sozial engagierten "Tafeln" herausgegeben werden, aneinanderreihen, gefolgt von all den Veröffentlichungen, zu denen sich TV- und andere Starköche veranlasst sehen. Diese Bücher und ihre Autorinnen bzw. Autoren sind es jedoch nicht, die Birgit Jochens' Interesse geweckt haben. Ihr Blick ist auf historische Kochbücher gerichtet, insbesondere auf solche, die seit den Anfängen des Kochbuchbooms, also vom Ende des 18. Jahrhunderts an, publiziert wurden.Jede der zehn Berlinerinnen, die vorgestellt werden, hatte ihre eigenen Motive für das Schreiben eines Kochbuchs, darunter Lina Morgenstern, um 1870 international bekannt als Gründerin von Volksküchen, Hedwig Heyl, eine Fabrikbesitzerin und Protagonistin der Frauenbewegung, und Ottilie Palfy, Inhaberin einer privaten "Irren-Anstalt". Betrachtet werden auch Vertreterinnen aus den Anfängen weiblicher Kochbuch-Produktion, wie die Verlegerin Friederike Helene Unger und Sophie Wilhelmine Scheibler. Vorgestellt wird zudem Lilo Aureden, eine Bestseller-Autorin der 1950er-Jahre, und Ursula Winnington, die mit exotisch-erotischer Koch-Literatur die DDR-Küche aufmischte und seit der deutschen Wiedervereinigung auch den Westen verführt. Die porträtierten Frauen waren alle Pionierinnen in ihrem Metier und suchten sich zu profilieren, oft in der Auseinandersetzung mit tradierten Rollenbildern. Manchmal ist die Karriere abrupt gestoppt worden, etwa die von Ruth von Schüching, eine der produktivsten Drehbuchschreiberinnen des Stummfilms, die nach 1933 ihrer jüdischen Herkunft wegen zu emigrieren gezwungen war.Birgit Jochens macht mit Kochbuchautorinnen bekannt, die großenteils aus dem Blick geraten sind. Darüber hinaus entlockt sie den Kochbüchern ihrer Protagonistinnen, was diese über die Ernährungsgewohnheiten der jeweiligen Zeit verraten und garniert dies mit zeittypischen Rezepten. Mit kleinen Exkursen werden technische, wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen beschrieben, die den Rezeptsammlungen zugrunde liegen: Wie wurde in einer "Schwarzen Küche" gekocht? Wo konnte man in Alt-Berlin Lebensmittel kaufen? Welche Kinderkost hielt man für geeignet?
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.09.2021Unterschiedliche Anleitungen auf einem Feld der Wissenschaft und Kunst
Rezepte muss man nicht nachkochen, man kann aus ihrer Präsentation auch viel über die Zeit lernen: Birgit Jochens besichtigt die Karrieren Berliner Kochbuchautorinnen
"Niemand aber wird mißdeuten können, daß ich die unter uns überhandnehmenden Kochbücher oder Receptsammlungen nicht zu den Geisteswerken zähle, noch als einen Beweis anerkenne dafür, daß unsere Zeitgenossen auf eine verständige und würdige Weise sich mit der Kochkunst beschäftigen. Denn diese Bücher (. . .) sind sämmtlich entweder aus platter, unnachdenklicher Erfahrung, oder geradehin aus Compilation entstanden, und entbehren daher alles wissenschaftlichen Geistes."
Zweihundert Jahre ist es her, dass Carl Friedrich von Rumohr in der "Vorrede" zu seinem gastrosophischen Traktat "Geist der Kochkunst" seinen heiligen Zorn über die "halbhin brauchbaren" und, mehr noch, "die Masse der völlig unbrauchbaren" Kochbücher seiner Zeit ausgoss. Was hätte er erst zur schauderhaften Plattheit der unzähligen Kochshows im Fernsehen gesagt! Deren jüngste macht aus ihrer Geistlosigkeit nicht nur kein Hehl, sondern erhebt diese gleich zum Programm. Jan Böhmermann in der zweiten Folge seines Sommer-"Koch-Talks" "Böhmi brutzelt": "Ich wollte mal 'ne Sendung machen, wo man nicht den Kopf so anstrengt." Entwaffnend - und gekonnt umgesetzt!
Caroline Schelling, die Rumohr in seinen keineswegs verstiegenen, sondern im Gegenteil grundsoliden kulinarischen Ansichten beipflichtete, fand indes seinen missionarischen Eifer "langweilig und policinellenhaft". Es sei "abscheulich, einen Menschen über einen Seekrebs ebenso innig reden zu hören, wie über einen kleinen Jesus", schrieb sie am 16. September 1808 an Pauline Gotter. Doch über Elementares wie unsere Ernährung muss geredet werden. Denn es ist keineswegs egal, was und wie wir essen und trinken. Unsere tägliche kulinarische Praxis beeinflusst nicht nur unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit, sondern entscheidet auch über den Zustand hiesiger Landschaften wie anderer Weltgegenden.
Zur Standortbestimmung ist ein orientierender Blick zurück unabdingbar. Umso wertvoller ist deshalb inmitten des geschichtsvergessenen "Frisch drauflos!" eine kulturhistorische Arbeit wie "Zwischen Ambition und Rebellion", in der Birgit Jochens die Karrieren von zehn Berliner Kochbuchautorinnen nachzeichnet, allesamt Pionierinnen in ihrem Metier: von der schreibenden Verlegergattin und, nach dem Tod ihres Ehemanns 1804, tatkräftigen Verlagsleiterin Friederike Helene Unger (1751 bis 1813), deren 1785 erschienenes "Neuestes Berlinisches Kochbuch, oder Anweisung Speisen, Sauçen und Gebacknes schmackhaft zuzurichten" immerhin drei Auflagen erlebte, bis hin zu Lilo Aureden (geb. 1912), deren ganz den Geist der Fünfzigerjahre atmender Bestseller "Was Männern so gut schmeckt" sich bis heute großer Beliebtheit erfreut. Ging es Unger darum, ein ungeübtes "Frauenzimmer" zu unterweisen, das sich darauf vorbereitete, einem großen Haushalt mit Gesinde vorzustehen, so wandte sich Lilo Aureden augenzwinkernd an die "berufstätige Schnellköchin", die sich mit ihren fünfhundert Rezepten aus aller Herren Ländern an der Hand "als ewige Eva in immer reizender, verführerischer Verwandlung" beweisen können sollte.
Die Intentionen der Kochbuchschreiberinnen lagen schon bei Zeitgenossinnen weit auseinander. Lina Morgenstern (1830 bis 1909), die 1866 die erste Volksküche Berlins gründete, die Bedürftige mit nahrhaften Speisen zum Selbstkostenpreis versorgte, leiteten dabei nicht allein humanistische Motive. Sie sorgte sich ebenso sehr um den sozialen Frieden. Die brotlosen Proletarier seien "eine gefürchtete, gefahrdrohende Masse" geworden, die "in kritischen Zeiten allzu leicht zu politischen Bewegungen fortgerissen" würde. Die rührige Aktivistin und Initiatorin zahlreicher Wohlfahrtseinrichtungen war 1896 Mitorganisatorin des Internationalen Kongresses für Frauenwerke und Frauenbestrebungen im Roten Rathaus und trat dort energisch für die Frauenbewegung ein - für die bürgerliche wie für die proletarische. Hedwig Heyl (1850 bis 1943), deren in jeder Hinsicht ungemein modernes und gründliches "ABC der Küche" aus dem Unterricht im zweiten Pestalozzi-Fröbel-Haus in Schöneberg hervorging, sympathisierte zwar mit den Frauenrechtlerinnen ihrer Zeit, es war ihr aber darum zu tun, ihre Leserinnen zu "in Mütterlichkeit" kompetenten "Gefährtinnen des Mannes bei der Arbeit an der Menschheit" zu erziehen, und das auf dem "Feld ihrer Wissenschaft, ihrer Kunst". Julie Elias (1866 bis 1943) visierte die "moderne Dame" an, "die Sport treibt oder einen praktischen Beruf ausfüllt und nicht allzu viel Zeit für ihre Wirtschaft übrig hat".
Jochens trägt nicht nur entlegene biographische Informationen zusammen und charakterisiert die Kochbücher kundig in Repertoire und Gestus. Sie streut neben zahlreichen jeweils zeittypischen Rezepten auch zehn Exkurse ein, in denen sie einzelne technische, wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen der Ernährung in den Blick nimmt und damit die Küchen-Perspektive zur lebensweltlichen weitet. So handelt sie etwa über Lebens- und Genussmittelverfälschungen; über den Viktualienhandel und die Nahversorgung der Berliner Bevölkerung um 1800; über die Karriere der Erbswurst, mit der im Tornister die Deutschen 1870/71 den Krieg gegen die Franzosen gewannen.
Die (chronologisch) letzte im Bunde der vorgestellten Kochbuch-Pionierinnen ist Ursula Winnington (geb. 1928), die ab den Siebzigerjahren einen Hauch Weltläufigkeit in die verstockte Hausmacherkost der DDR brachte. Ihre Rezepte seien "eine lukullische Einladung zur Grenzüberschreitung" gewesen, "ein West-Visum für jedermann", "Republikflucht in der Bratpfanne", erinnerte sich Jutta Voigt in "Der Geschmack des Ostens. Vom Essen, Trinken und Leben in der DDR" (2005) - auch ein herausragendes Exemplar der raren Spezies "Diskursives Culinaricum". WALTER SCHÜBLER.
Birgit Jochens: "Zwischen Ambition und Rebellion". Karrieren Berliner Kochbuchautorinnen.
Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2021. 192 S., geb., Abb., 25,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rezepte muss man nicht nachkochen, man kann aus ihrer Präsentation auch viel über die Zeit lernen: Birgit Jochens besichtigt die Karrieren Berliner Kochbuchautorinnen
"Niemand aber wird mißdeuten können, daß ich die unter uns überhandnehmenden Kochbücher oder Receptsammlungen nicht zu den Geisteswerken zähle, noch als einen Beweis anerkenne dafür, daß unsere Zeitgenossen auf eine verständige und würdige Weise sich mit der Kochkunst beschäftigen. Denn diese Bücher (. . .) sind sämmtlich entweder aus platter, unnachdenklicher Erfahrung, oder geradehin aus Compilation entstanden, und entbehren daher alles wissenschaftlichen Geistes."
Zweihundert Jahre ist es her, dass Carl Friedrich von Rumohr in der "Vorrede" zu seinem gastrosophischen Traktat "Geist der Kochkunst" seinen heiligen Zorn über die "halbhin brauchbaren" und, mehr noch, "die Masse der völlig unbrauchbaren" Kochbücher seiner Zeit ausgoss. Was hätte er erst zur schauderhaften Plattheit der unzähligen Kochshows im Fernsehen gesagt! Deren jüngste macht aus ihrer Geistlosigkeit nicht nur kein Hehl, sondern erhebt diese gleich zum Programm. Jan Böhmermann in der zweiten Folge seines Sommer-"Koch-Talks" "Böhmi brutzelt": "Ich wollte mal 'ne Sendung machen, wo man nicht den Kopf so anstrengt." Entwaffnend - und gekonnt umgesetzt!
Caroline Schelling, die Rumohr in seinen keineswegs verstiegenen, sondern im Gegenteil grundsoliden kulinarischen Ansichten beipflichtete, fand indes seinen missionarischen Eifer "langweilig und policinellenhaft". Es sei "abscheulich, einen Menschen über einen Seekrebs ebenso innig reden zu hören, wie über einen kleinen Jesus", schrieb sie am 16. September 1808 an Pauline Gotter. Doch über Elementares wie unsere Ernährung muss geredet werden. Denn es ist keineswegs egal, was und wie wir essen und trinken. Unsere tägliche kulinarische Praxis beeinflusst nicht nur unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit, sondern entscheidet auch über den Zustand hiesiger Landschaften wie anderer Weltgegenden.
Zur Standortbestimmung ist ein orientierender Blick zurück unabdingbar. Umso wertvoller ist deshalb inmitten des geschichtsvergessenen "Frisch drauflos!" eine kulturhistorische Arbeit wie "Zwischen Ambition und Rebellion", in der Birgit Jochens die Karrieren von zehn Berliner Kochbuchautorinnen nachzeichnet, allesamt Pionierinnen in ihrem Metier: von der schreibenden Verlegergattin und, nach dem Tod ihres Ehemanns 1804, tatkräftigen Verlagsleiterin Friederike Helene Unger (1751 bis 1813), deren 1785 erschienenes "Neuestes Berlinisches Kochbuch, oder Anweisung Speisen, Sauçen und Gebacknes schmackhaft zuzurichten" immerhin drei Auflagen erlebte, bis hin zu Lilo Aureden (geb. 1912), deren ganz den Geist der Fünfzigerjahre atmender Bestseller "Was Männern so gut schmeckt" sich bis heute großer Beliebtheit erfreut. Ging es Unger darum, ein ungeübtes "Frauenzimmer" zu unterweisen, das sich darauf vorbereitete, einem großen Haushalt mit Gesinde vorzustehen, so wandte sich Lilo Aureden augenzwinkernd an die "berufstätige Schnellköchin", die sich mit ihren fünfhundert Rezepten aus aller Herren Ländern an der Hand "als ewige Eva in immer reizender, verführerischer Verwandlung" beweisen können sollte.
Die Intentionen der Kochbuchschreiberinnen lagen schon bei Zeitgenossinnen weit auseinander. Lina Morgenstern (1830 bis 1909), die 1866 die erste Volksküche Berlins gründete, die Bedürftige mit nahrhaften Speisen zum Selbstkostenpreis versorgte, leiteten dabei nicht allein humanistische Motive. Sie sorgte sich ebenso sehr um den sozialen Frieden. Die brotlosen Proletarier seien "eine gefürchtete, gefahrdrohende Masse" geworden, die "in kritischen Zeiten allzu leicht zu politischen Bewegungen fortgerissen" würde. Die rührige Aktivistin und Initiatorin zahlreicher Wohlfahrtseinrichtungen war 1896 Mitorganisatorin des Internationalen Kongresses für Frauenwerke und Frauenbestrebungen im Roten Rathaus und trat dort energisch für die Frauenbewegung ein - für die bürgerliche wie für die proletarische. Hedwig Heyl (1850 bis 1943), deren in jeder Hinsicht ungemein modernes und gründliches "ABC der Küche" aus dem Unterricht im zweiten Pestalozzi-Fröbel-Haus in Schöneberg hervorging, sympathisierte zwar mit den Frauenrechtlerinnen ihrer Zeit, es war ihr aber darum zu tun, ihre Leserinnen zu "in Mütterlichkeit" kompetenten "Gefährtinnen des Mannes bei der Arbeit an der Menschheit" zu erziehen, und das auf dem "Feld ihrer Wissenschaft, ihrer Kunst". Julie Elias (1866 bis 1943) visierte die "moderne Dame" an, "die Sport treibt oder einen praktischen Beruf ausfüllt und nicht allzu viel Zeit für ihre Wirtschaft übrig hat".
Jochens trägt nicht nur entlegene biographische Informationen zusammen und charakterisiert die Kochbücher kundig in Repertoire und Gestus. Sie streut neben zahlreichen jeweils zeittypischen Rezepten auch zehn Exkurse ein, in denen sie einzelne technische, wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen der Ernährung in den Blick nimmt und damit die Küchen-Perspektive zur lebensweltlichen weitet. So handelt sie etwa über Lebens- und Genussmittelverfälschungen; über den Viktualienhandel und die Nahversorgung der Berliner Bevölkerung um 1800; über die Karriere der Erbswurst, mit der im Tornister die Deutschen 1870/71 den Krieg gegen die Franzosen gewannen.
Die (chronologisch) letzte im Bunde der vorgestellten Kochbuch-Pionierinnen ist Ursula Winnington (geb. 1928), die ab den Siebzigerjahren einen Hauch Weltläufigkeit in die verstockte Hausmacherkost der DDR brachte. Ihre Rezepte seien "eine lukullische Einladung zur Grenzüberschreitung" gewesen, "ein West-Visum für jedermann", "Republikflucht in der Bratpfanne", erinnerte sich Jutta Voigt in "Der Geschmack des Ostens. Vom Essen, Trinken und Leben in der DDR" (2005) - auch ein herausragendes Exemplar der raren Spezies "Diskursives Culinaricum". WALTER SCHÜBLER.
Birgit Jochens: "Zwischen Ambition und Rebellion". Karrieren Berliner Kochbuchautorinnen.
Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2021. 192 S., geb., Abb., 25,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Walter Schübler läuft nicht unbedingt das Wasser im Mund zusammen beim Lesen von Birgit Jochens' Porträt von zehn Berliner Kochbuchpionierinnen - kulturhistorische Erkenntnisse bekommt er aber gleich löffelweise serviert. Etwa über Lilo Aureden und ihr Fünzigerjahre-Kochbuch für Männergaumen, Lina Morgensterns Volksküche oder Ursula Winnington, die internationale Düfte in die DDR-Küche brachte. Rezepte und Biografisches garniert die Autorin laut Schübler gekonnt mit den zeitgenössischen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen des Kochens und Essens.
© Perlentaucher Medien GmbH
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