Joseph Mitchells sechs lange Reportagen über New York und seine Hafengegend sind längst legendär. Auf seinen Wegen zwischen Hudson River und East River, Staten Island, Fischmarkt und Fährhafen begegnet er Außenseitern und Exzentrikern und lässt sich von den Gerüchen und den Geschmäckern des Hafens faszinieren. Umgetrieben von den Nischen und Lücken der allgemeinen Geschichtsschreibung, schreibt er von einem leerstehenden Hotel über einem geschäftigen Fischrestaurant, vom Leben der Ratten, die von den Schiffen in den Hafen strömen, vom Kapitän der größten Fischereiflotte der Region und von anderen Menschen, die auf die eine oder andere Weise alle mit dem New Yorker Hafenviertel verbunden sind.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2012Schalentiere
am East River
Endlich auch auf Deutsch zu lesen: Die Hafenreportagen
von Joseph Mitchell Von Andrian Kreye
Als Joseph Mitchell 1959 seine Sammlung mit sechs Geschichten rund um den Hafen von New York veröffentlichte, die er für die Wochenzeitschrift New Yorker geschrieben hatte, war das Buch schon ein Abgesang auf eine versinkende Welt. Die Austernfischer, Dockarbeiter und Wirtsleute sind bei ihm Zeitzeugen großer Epochen. Sie erinnern an die Jahre, als Amerika über die Küsten des Ostens erobert wurde, an die mythische Ära, als die Fischerei eine Industrie war, die das neue Land zur Wirtschaftsmacht aufsteigen ließ, an die Zeit nach der Sklaverei, als die Austernbänke in der Bucht zwischen New York und New Jersey den Befreiten eine sichere Einkunftsquelle war.
Es sind leise, bedächtige Geschichten, die sich deutlich von der elektrisierenden Energie abwenden, die sich auf der Insel Manhattan im Laufe des 20. Jahrhunderts zur Triebkraft der westlichen Welt steigert. Diese Abkehr vom eigentlichen Lauf der Dinge, um in der Ruhe der Nischen mit ihren Randfiguren und Exzentrikern nach Wahrheiten zu suchen, war immer schon Mitchells Methode gewesen, seit er 1938 den rasenden Arbeitsabläufen der Tageszeitungen den Rücken gekehrt und beim New Yorker angeheuert hatte. Einer Methode, mit der er die Grenze zwischen Journalismus und Literatur auflöste und so zum unerklärten Vater des New Journalism wurde.
In der im letzten Jahr auf deutsch erschienenen Anthologie „McSorley’s Wonderful Saloon“ findet man Mitchell in abseitigen Pinten, Ballsälen und Kramläden der Stadt. In „Zwischen den Flüssen“ lässt er den urbanen Kontext hinter sich, um an den Ufern der Bucht, des Hudson und des East River einer naturbelassenen Vergangenheit nachzuspüren. Immer wieder tauchen die Texte ab zu den Riffen und Meeresgründen, wo die Muscheln und Schalentiere leben.
In den sechs Texten zeigt sich Mitchell deutlicher als in all seinen anderen Arbeiten als Romantiker. Aus seinem Widerwillen gegen das Neue, den Fortschritt, den Wandel, macht er keinen Hehl. Wenn er dann den Hafengrund beschreibt, sieht er die Zivilisation der Industriegesellschaft wie den Anbruch eines finsteren Urzeitalters: „An den meisten Stellen ist der Hafengrund mit einer dicken Schicht Schlick, Abwasserrückständen, Industrieabfällen und Ölklumpen bedeckt . . . In der Wallabout Bay, einer kleinen Bucht des East River, die zum Brooklyn Navy Yard gehört, wächst die Schlammschicht pro Jahr um einen knappen halben Meter. Bei Wärme fängt der Schlamm an zu faulen und dann steigen unablässig Gasblasen so groß wie Basketbälle an die Oberfläche.“
Umso schwärmerischer verliert er sich dann in den Details der Marktgänge, auf denen sich die Austernfischer von Staten Island in der Geschichte „Mr. Hunters Grab“ mit selbstgezüchteten Früchten ein wenig Geld dazuverdienen: „Zur Erdbeersaison verpackten die Leute ihre Erdbeeren und nahmen sie mit nach Rossville, von wo sie mit dem Dampfer zum Markt geliefert wurden. Auf jede Kiste legten sie ein paar Weinblätter, was die Erdbeeren erst so richtig hübsch aussehen ließ, das Grün gegen das Rot.“
„Mr. Hunters Grab“ gilt als eine der besten Reportagen in der Geschichte des amerikanischen Journalismus. Der Besuch bei dem alten Kirchenvorsteher der African Methodist Church in der Schwarzensiedlung Sandy Ground auf Staten Island komprimiert die Geschichte des schwarzen Amerika auf einen schläfrigen Sommernachmittag, der mit einer bittersüßen Pointe endet.
Es ist verwunderlich, dass Joseph Mitchells Texte erst jetzt auf deutsch erscheinen. Gerade weil sie in einer Zeit entstanden, in der die kulturellen Nischen Amerika noch nicht so deutlich prägten und die Sprachmuster noch nicht so vielschichtig waren. So ist Mitchells Sprache im Original von einer Klarheit, die hier kongenial übersetzbar ist. Es ist eine Sprache, die perfekt zu den altertümlichen Figuren passt, die jeden Handgriff genau bedenken, so wie Mitchell jede Wendung sehr bewusst formuliert.
Auf der anderen Seite ist nun vielleicht der perfekte Zeitpunkt, um sie zu veröffentlichen. Weil ja gerade die Texte in „Zwischen den Flüssen“ eine so stimmige Analogie auf den radikalen Wandel während eines Fortschrittschubes sind. Als Mitchell die Sammlung 1959 veröffentlichte, plante der Bankier David Rockefeller gerade einen radikalen Umbau der Stadt New York. Die Hafenanlagen und Manufakturen sollten in die Randbezirke weichen. New York sollte ein Zentrum der Finanz- und Medienwirtschaft werden. Der Beinahe-Bankrott der Stadt verzögerte die Umsetzung. Doch in den Neunziger Jahren wurde Rockefellers Vision vollendet. So ist Mitchells Buch heute kein Abgesang mehr, sondern eine Erinnerung an eine Welt, die es nun wirklich nicht mehr gibt.
Joseph Mitchell
Zwischen den Flüssen: New Yorker Hafengeschichten
Aus dem Englischen von Sven Koch und Andrea Stumpf. Diaphanes Verlag, Zürich 2012. 268 Seiten, 22,90 Euro.
Mitchell kehrt der Insel Manhattan den Rücken und spürt der Vergangenheit nach. Foto: Erich Hartmann / Magnum / Agentur Focus
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
am East River
Endlich auch auf Deutsch zu lesen: Die Hafenreportagen
von Joseph Mitchell Von Andrian Kreye
Als Joseph Mitchell 1959 seine Sammlung mit sechs Geschichten rund um den Hafen von New York veröffentlichte, die er für die Wochenzeitschrift New Yorker geschrieben hatte, war das Buch schon ein Abgesang auf eine versinkende Welt. Die Austernfischer, Dockarbeiter und Wirtsleute sind bei ihm Zeitzeugen großer Epochen. Sie erinnern an die Jahre, als Amerika über die Küsten des Ostens erobert wurde, an die mythische Ära, als die Fischerei eine Industrie war, die das neue Land zur Wirtschaftsmacht aufsteigen ließ, an die Zeit nach der Sklaverei, als die Austernbänke in der Bucht zwischen New York und New Jersey den Befreiten eine sichere Einkunftsquelle war.
Es sind leise, bedächtige Geschichten, die sich deutlich von der elektrisierenden Energie abwenden, die sich auf der Insel Manhattan im Laufe des 20. Jahrhunderts zur Triebkraft der westlichen Welt steigert. Diese Abkehr vom eigentlichen Lauf der Dinge, um in der Ruhe der Nischen mit ihren Randfiguren und Exzentrikern nach Wahrheiten zu suchen, war immer schon Mitchells Methode gewesen, seit er 1938 den rasenden Arbeitsabläufen der Tageszeitungen den Rücken gekehrt und beim New Yorker angeheuert hatte. Einer Methode, mit der er die Grenze zwischen Journalismus und Literatur auflöste und so zum unerklärten Vater des New Journalism wurde.
In der im letzten Jahr auf deutsch erschienenen Anthologie „McSorley’s Wonderful Saloon“ findet man Mitchell in abseitigen Pinten, Ballsälen und Kramläden der Stadt. In „Zwischen den Flüssen“ lässt er den urbanen Kontext hinter sich, um an den Ufern der Bucht, des Hudson und des East River einer naturbelassenen Vergangenheit nachzuspüren. Immer wieder tauchen die Texte ab zu den Riffen und Meeresgründen, wo die Muscheln und Schalentiere leben.
In den sechs Texten zeigt sich Mitchell deutlicher als in all seinen anderen Arbeiten als Romantiker. Aus seinem Widerwillen gegen das Neue, den Fortschritt, den Wandel, macht er keinen Hehl. Wenn er dann den Hafengrund beschreibt, sieht er die Zivilisation der Industriegesellschaft wie den Anbruch eines finsteren Urzeitalters: „An den meisten Stellen ist der Hafengrund mit einer dicken Schicht Schlick, Abwasserrückständen, Industrieabfällen und Ölklumpen bedeckt . . . In der Wallabout Bay, einer kleinen Bucht des East River, die zum Brooklyn Navy Yard gehört, wächst die Schlammschicht pro Jahr um einen knappen halben Meter. Bei Wärme fängt der Schlamm an zu faulen und dann steigen unablässig Gasblasen so groß wie Basketbälle an die Oberfläche.“
Umso schwärmerischer verliert er sich dann in den Details der Marktgänge, auf denen sich die Austernfischer von Staten Island in der Geschichte „Mr. Hunters Grab“ mit selbstgezüchteten Früchten ein wenig Geld dazuverdienen: „Zur Erdbeersaison verpackten die Leute ihre Erdbeeren und nahmen sie mit nach Rossville, von wo sie mit dem Dampfer zum Markt geliefert wurden. Auf jede Kiste legten sie ein paar Weinblätter, was die Erdbeeren erst so richtig hübsch aussehen ließ, das Grün gegen das Rot.“
„Mr. Hunters Grab“ gilt als eine der besten Reportagen in der Geschichte des amerikanischen Journalismus. Der Besuch bei dem alten Kirchenvorsteher der African Methodist Church in der Schwarzensiedlung Sandy Ground auf Staten Island komprimiert die Geschichte des schwarzen Amerika auf einen schläfrigen Sommernachmittag, der mit einer bittersüßen Pointe endet.
Es ist verwunderlich, dass Joseph Mitchells Texte erst jetzt auf deutsch erscheinen. Gerade weil sie in einer Zeit entstanden, in der die kulturellen Nischen Amerika noch nicht so deutlich prägten und die Sprachmuster noch nicht so vielschichtig waren. So ist Mitchells Sprache im Original von einer Klarheit, die hier kongenial übersetzbar ist. Es ist eine Sprache, die perfekt zu den altertümlichen Figuren passt, die jeden Handgriff genau bedenken, so wie Mitchell jede Wendung sehr bewusst formuliert.
Auf der anderen Seite ist nun vielleicht der perfekte Zeitpunkt, um sie zu veröffentlichen. Weil ja gerade die Texte in „Zwischen den Flüssen“ eine so stimmige Analogie auf den radikalen Wandel während eines Fortschrittschubes sind. Als Mitchell die Sammlung 1959 veröffentlichte, plante der Bankier David Rockefeller gerade einen radikalen Umbau der Stadt New York. Die Hafenanlagen und Manufakturen sollten in die Randbezirke weichen. New York sollte ein Zentrum der Finanz- und Medienwirtschaft werden. Der Beinahe-Bankrott der Stadt verzögerte die Umsetzung. Doch in den Neunziger Jahren wurde Rockefellers Vision vollendet. So ist Mitchells Buch heute kein Abgesang mehr, sondern eine Erinnerung an eine Welt, die es nun wirklich nicht mehr gibt.
Joseph Mitchell
Zwischen den Flüssen: New Yorker Hafengeschichten
Aus dem Englischen von Sven Koch und Andrea Stumpf. Diaphanes Verlag, Zürich 2012. 268 Seiten, 22,90 Euro.
Mitchell kehrt der Insel Manhattan den Rücken und spürt der Vergangenheit nach. Foto: Erich Hartmann / Magnum / Agentur Focus
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Endlich sind auch Joseph Mitchells zwischen 1944 und 1959 im "New Yorker" veröffentlichte Hafengeschichten unter dem Titel "Zwischen den Flüssen" auf Deutsch erschienen, freut sich Rezensentin Verena Lueken. Sie liest hier nicht nur melancholische Erzählungen aus dem Milieu der Alkoholiker, Barmänner und Herumtreiber, deren Sprechweisen Mitchell bewundernswert nachahmt, sondern ist auch ganz fasziniert von Mitchells außergewöhnlicher botanischer und biologischer Kenntnis. So erhält die Kritikerin Einblick in die weiten Verzweigungen innerhalb der Rattenpopulation oder erfährt einiges über die Organismen, die ein Schiffswrack überwuchern. Diesem "großartigen" Autor wünscht die Rezensentin definitiv mehr Bekanntheit.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.04.2012Leben an den Rändern der Stadt
Die New Yorker Geschichten von Joseph Mitchell sind bei uns nahezu unbekannt. Sie erzählen von denen, die der Fortschritt links liegenließ: von Trinkern, Fischern und dem König der Zigeuner.
Die Zeit der riesigen Austernbänke im Hafen von New York war längst vorbei, als Joseph Mitchell begann, am Wasser herumzustreunen. Das war in den vierziger Jahren, am Ende der Depressionszeit und vor dem großen Krieg, und es gab im New Yorker Hafenbecken, an den Rändern der Inseln und den Ufern der Flüsse noch eine Vielfalt von Fischarten, die den Fischern ins Netz gingen, und auch Muscheln konnten noch geerntet werden, wenn auch ausschließlich auf einem klitzekleinen Gebiet, das nur teilweise zum Staat New York gehörte. Den Rest beanspruchte New Jersey.
Heute ist auch das vorbei. Und weil Mitchell wusste, dass New York niemals lange dieselbe Stadt bleibt, und weil er ahnte, dass eigentlich alles, an dem sein Blick haften blieb, bereits im Verschwinden begriffen war, als er darüber schrieb, liegt eine unverhohlene Melancholie über seinen Geschichten aus der Stadt zwischen dem Hudson und dem East River. Die Hafengeschichten erschienen zwischen 1944 und 1959 im "New Yorker", als Buch gesammelt unter dem Titel "The Bottom of the Harbor" erstmals 1959, waren dann lange vergriffen, bis sie in dem großen Erzählband von Joseph Mitchell, "Up in the Old Hotel", gemeinsam mit fast allen anderen seiner Geschichten 1992 wiederaufgelegt wurden. In Deutschland allerdings dauerte es bis zum vergangenen Jahr, dass sich ein Verlag entschloss, den Autor auch bei uns vorzustellen: Der Schweizer Verlag Diaphanes brachte als ersten Band einer kleinen Mitchell-Reihe 2011 "McSorley's Wonderful Saloon" heraus, eine Sammlung von wahren und fiktiven Reportagen, und jetzt die Übersetzung der Hafengeschichten unter dem Titel "Zwischen den Flüssen".
Zu den wahren Geschichten aus dem erstgenannten Band gehört "Professor Möwe". Am 12. Dezember 1942 im "New Yorker" erschienen, erzählt sie von einem Obdachlosen mit Namen Joe Gould, der dreißig Jahre lang durch New York strich und jedem, auch Mitchell, von einer umfassenden "Oral History of Civilization" berichtete, an der er unermüdlich arbeite. Mitchell hat diesen Mann mit einem Harvard-Abschluss, der einer wohlhabenden Familie aus Neuengland entstammte, lange begleitet, ihn immer wieder getroffen, ausführlich mit ihm gesprochen. Joe Gould konnte täuschend echt den Schrei einer Möwe nachahmen, daher sein Spitzname, und er war außerordentlich eloquent. Erst 1964, sieben Jahre nach Goulds Tod, enthüllte Mitchell wiederum im "New Yorker" dessen Geheimnis: dass es nämlich diese mündliche Geschichte der Zivilisationen, die Gould angeblich seit 1917 aufgesammelt hatte und von der es im Nachruf auf Gould in der "New York Times" noch hieß, sie hätte bereits 1934 mehr als sieben Millionen Wörter umfasst, nie gegeben hat. "Joe Gould's Secret" hieß diese wahrscheinlich bekannteste Geschichte Mitchells, die später in Buchform erschien und auch verfilmt wurde - und deren deutsche Übersetzung noch bevorsteht. Berühmt wurde sie auch, weil Mitchell seitdem nichts mehr veröffentlicht hat. Er ging zwar nach wie vor in sein Büro in der Redaktion des "New Yorker", aber er vernichtete abends alles, was er tagsüber geschrieben hatte. Zweiunddreißig Jahre ging das so, bis auch Mitchell starb, am 24. Mai 1996.
Er stammte aus North Carolina, kam 1929 nach New York, arbeitete als Reporter bei verschiedenen Zeitungen und fasste 1938 beim "New Yorker" Fuß, wo seine Reportagen in unregelmäßigen, manchmal langen Abständen erschienen. Ihn interessierte nicht die glamouröse Seite New Yorks, nicht die höhere Gesellschaft, die Kunst oder das Geld. Ihn interessierten die, die stolz ihre Arbeit taten, falls sie eine hatten, und die, die es zu nichts brachten, die Säufer, die Heimatlosen und jene Menschen wie die Kinobesitzerin Mazie aus der gleichnamigen Geschichte, die sich um sie kümmerte, mit Essens- und kleinen Geldgaben und harten Sprüchen.
Und ihn interessierte die Natur. In den Reportagen aus dem Band "Zwischen den Flüssen" breitet er nebenbei eine immense botanische und biologische Kenntnis aus, die, nicht verwunderlich angesichts seiner anderen Vorlieben, auch die Verzweigungen innerhalb der Rattenpopulation umfasst, vielleicht die einzige Artenvielfalt, die sich in der Stadt bis heute erhalten hat. Während er in seinen Reportagen aus den Bars und von der Bowery die mannigfachen Sprechweisen der Alkoholiker, Barmänner, Zigeuner und Herumtreiber bewahrt (Mitchell hat ein großes Talent für die wörtliche Rede, die er häufig einsetzt), sind es in den Reportagen aus dem Hafen die verschiedenen Pflanzen und Organismen, denen er seine ganze Aufmerksamkeit schenkt: den Überwucherungen von Schiffswracks mit einem "dicken, pelzartigen Bewuchs aus Algen, Knorpeltang, Röhrenwürmern, Rankenfußkrebsen, Pferdemuscheln, Seeanemonen, Seescheiden, Seehausen, Meeresschnecken". Ihm entgeht nichts, als sei er der Letzte, der sehen könnte, was noch ist, und immer wieder schweift er in die Geschichte ab, deren Spuren auch er nicht immer mehr entdecken, nur erzählerisch rekonstruieren kann.
Kein Wunder, das Mitchell zur Entspannung auf den Friedhof ging. "Wenn mir alles zu viel wird, stecke ich ein Wildpflanzenbuch und zwei Sandwiches ein, fahre zur South Shore auf Staten Island und spaziere eine Weile auf einem der Friedhöfe dort herum." So beginnt seine Geschichte "Mr. Hunters Grab", und einige Absätze weiter schreibt er: "Wenn ich eine Zeitlang auf einem dieser Friedhöfe war und die Grabsteine betrachtet, die Inschriften gelesen, Wildblumen bestimmt, Kaninchen aufgeschreckt und über das mir und uns allen bevorstehende Ende sinniert habe, hebt sich meine Stimmung aus Gründen, die ich nicht kenne und gar nicht kennen will, und ich werde ganz heiter und unternehme einen ausgedehnten Spaziergang."
Mitchells Gang über die Gräber ist der Beginn einer perfekten Reportage. Zufällig trifft er den Pfarrer, der ihm erzählt, wo das Kraut, an dem Mitchell interessiert ist, wächst, was ihn zu einem alten Schwarzen und dem Friedhof einer frühen Siedlung freier Sklaven führt, wobei er über die Backkünste des Alten einiges erfährt, über die Lebensläufe der Toten und darüber, dass auch dieser Friedhof demnächst verschwinden wird. Denn die Friedhöfe, auf denen Mitchell herumspaziert, sind selbstverständlich keine geschützten wie der Père Lachaise in Paris oder der Hamburger Friedhof in Ohlsdorf, wo die berühmten Menschen liegen und der Besucher nach den Namen großer Männer oder Frauen Ausschau halten kann. Nein, Mitchell geht zwischen den Gräbern jener Menschen spazieren, die gern "kleine Leute" genannt werden. Wenn Mitchell das hörte, soll er immer geantwortet haben: "Sie sind so groß wie du, wer auch immer du sein magst." Er war eben nicht nur ein großartiger Schreiber, sondern auch ein großer Moralist. Auch deswegen sollten wir ihn heute unbedingt wieder lesen.
VERENA LUEKEN.
Joseph Mitchell: "McSorley's Wonderful Saloon". New Yorker Geschichten.
Aus dem Englischen von Sven Koch und Andrea Stumpf. Diaphanes Verlag, Berlin/Zürich 2011. 416 S., geb., 22,90 [Euro].
Joseph Mitchell: "Zwischen den Flüssen". New Yorker Hafengeschichten.
Aus dem Englischen von Sven Koch und Andrea Stumpf. Diaphanes Verlag, Berlin/Zürich 2012. 268 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die New Yorker Geschichten von Joseph Mitchell sind bei uns nahezu unbekannt. Sie erzählen von denen, die der Fortschritt links liegenließ: von Trinkern, Fischern und dem König der Zigeuner.
Die Zeit der riesigen Austernbänke im Hafen von New York war längst vorbei, als Joseph Mitchell begann, am Wasser herumzustreunen. Das war in den vierziger Jahren, am Ende der Depressionszeit und vor dem großen Krieg, und es gab im New Yorker Hafenbecken, an den Rändern der Inseln und den Ufern der Flüsse noch eine Vielfalt von Fischarten, die den Fischern ins Netz gingen, und auch Muscheln konnten noch geerntet werden, wenn auch ausschließlich auf einem klitzekleinen Gebiet, das nur teilweise zum Staat New York gehörte. Den Rest beanspruchte New Jersey.
Heute ist auch das vorbei. Und weil Mitchell wusste, dass New York niemals lange dieselbe Stadt bleibt, und weil er ahnte, dass eigentlich alles, an dem sein Blick haften blieb, bereits im Verschwinden begriffen war, als er darüber schrieb, liegt eine unverhohlene Melancholie über seinen Geschichten aus der Stadt zwischen dem Hudson und dem East River. Die Hafengeschichten erschienen zwischen 1944 und 1959 im "New Yorker", als Buch gesammelt unter dem Titel "The Bottom of the Harbor" erstmals 1959, waren dann lange vergriffen, bis sie in dem großen Erzählband von Joseph Mitchell, "Up in the Old Hotel", gemeinsam mit fast allen anderen seiner Geschichten 1992 wiederaufgelegt wurden. In Deutschland allerdings dauerte es bis zum vergangenen Jahr, dass sich ein Verlag entschloss, den Autor auch bei uns vorzustellen: Der Schweizer Verlag Diaphanes brachte als ersten Band einer kleinen Mitchell-Reihe 2011 "McSorley's Wonderful Saloon" heraus, eine Sammlung von wahren und fiktiven Reportagen, und jetzt die Übersetzung der Hafengeschichten unter dem Titel "Zwischen den Flüssen".
Zu den wahren Geschichten aus dem erstgenannten Band gehört "Professor Möwe". Am 12. Dezember 1942 im "New Yorker" erschienen, erzählt sie von einem Obdachlosen mit Namen Joe Gould, der dreißig Jahre lang durch New York strich und jedem, auch Mitchell, von einer umfassenden "Oral History of Civilization" berichtete, an der er unermüdlich arbeite. Mitchell hat diesen Mann mit einem Harvard-Abschluss, der einer wohlhabenden Familie aus Neuengland entstammte, lange begleitet, ihn immer wieder getroffen, ausführlich mit ihm gesprochen. Joe Gould konnte täuschend echt den Schrei einer Möwe nachahmen, daher sein Spitzname, und er war außerordentlich eloquent. Erst 1964, sieben Jahre nach Goulds Tod, enthüllte Mitchell wiederum im "New Yorker" dessen Geheimnis: dass es nämlich diese mündliche Geschichte der Zivilisationen, die Gould angeblich seit 1917 aufgesammelt hatte und von der es im Nachruf auf Gould in der "New York Times" noch hieß, sie hätte bereits 1934 mehr als sieben Millionen Wörter umfasst, nie gegeben hat. "Joe Gould's Secret" hieß diese wahrscheinlich bekannteste Geschichte Mitchells, die später in Buchform erschien und auch verfilmt wurde - und deren deutsche Übersetzung noch bevorsteht. Berühmt wurde sie auch, weil Mitchell seitdem nichts mehr veröffentlicht hat. Er ging zwar nach wie vor in sein Büro in der Redaktion des "New Yorker", aber er vernichtete abends alles, was er tagsüber geschrieben hatte. Zweiunddreißig Jahre ging das so, bis auch Mitchell starb, am 24. Mai 1996.
Er stammte aus North Carolina, kam 1929 nach New York, arbeitete als Reporter bei verschiedenen Zeitungen und fasste 1938 beim "New Yorker" Fuß, wo seine Reportagen in unregelmäßigen, manchmal langen Abständen erschienen. Ihn interessierte nicht die glamouröse Seite New Yorks, nicht die höhere Gesellschaft, die Kunst oder das Geld. Ihn interessierten die, die stolz ihre Arbeit taten, falls sie eine hatten, und die, die es zu nichts brachten, die Säufer, die Heimatlosen und jene Menschen wie die Kinobesitzerin Mazie aus der gleichnamigen Geschichte, die sich um sie kümmerte, mit Essens- und kleinen Geldgaben und harten Sprüchen.
Und ihn interessierte die Natur. In den Reportagen aus dem Band "Zwischen den Flüssen" breitet er nebenbei eine immense botanische und biologische Kenntnis aus, die, nicht verwunderlich angesichts seiner anderen Vorlieben, auch die Verzweigungen innerhalb der Rattenpopulation umfasst, vielleicht die einzige Artenvielfalt, die sich in der Stadt bis heute erhalten hat. Während er in seinen Reportagen aus den Bars und von der Bowery die mannigfachen Sprechweisen der Alkoholiker, Barmänner, Zigeuner und Herumtreiber bewahrt (Mitchell hat ein großes Talent für die wörtliche Rede, die er häufig einsetzt), sind es in den Reportagen aus dem Hafen die verschiedenen Pflanzen und Organismen, denen er seine ganze Aufmerksamkeit schenkt: den Überwucherungen von Schiffswracks mit einem "dicken, pelzartigen Bewuchs aus Algen, Knorpeltang, Röhrenwürmern, Rankenfußkrebsen, Pferdemuscheln, Seeanemonen, Seescheiden, Seehausen, Meeresschnecken". Ihm entgeht nichts, als sei er der Letzte, der sehen könnte, was noch ist, und immer wieder schweift er in die Geschichte ab, deren Spuren auch er nicht immer mehr entdecken, nur erzählerisch rekonstruieren kann.
Kein Wunder, das Mitchell zur Entspannung auf den Friedhof ging. "Wenn mir alles zu viel wird, stecke ich ein Wildpflanzenbuch und zwei Sandwiches ein, fahre zur South Shore auf Staten Island und spaziere eine Weile auf einem der Friedhöfe dort herum." So beginnt seine Geschichte "Mr. Hunters Grab", und einige Absätze weiter schreibt er: "Wenn ich eine Zeitlang auf einem dieser Friedhöfe war und die Grabsteine betrachtet, die Inschriften gelesen, Wildblumen bestimmt, Kaninchen aufgeschreckt und über das mir und uns allen bevorstehende Ende sinniert habe, hebt sich meine Stimmung aus Gründen, die ich nicht kenne und gar nicht kennen will, und ich werde ganz heiter und unternehme einen ausgedehnten Spaziergang."
Mitchells Gang über die Gräber ist der Beginn einer perfekten Reportage. Zufällig trifft er den Pfarrer, der ihm erzählt, wo das Kraut, an dem Mitchell interessiert ist, wächst, was ihn zu einem alten Schwarzen und dem Friedhof einer frühen Siedlung freier Sklaven führt, wobei er über die Backkünste des Alten einiges erfährt, über die Lebensläufe der Toten und darüber, dass auch dieser Friedhof demnächst verschwinden wird. Denn die Friedhöfe, auf denen Mitchell herumspaziert, sind selbstverständlich keine geschützten wie der Père Lachaise in Paris oder der Hamburger Friedhof in Ohlsdorf, wo die berühmten Menschen liegen und der Besucher nach den Namen großer Männer oder Frauen Ausschau halten kann. Nein, Mitchell geht zwischen den Gräbern jener Menschen spazieren, die gern "kleine Leute" genannt werden. Wenn Mitchell das hörte, soll er immer geantwortet haben: "Sie sind so groß wie du, wer auch immer du sein magst." Er war eben nicht nur ein großartiger Schreiber, sondern auch ein großer Moralist. Auch deswegen sollten wir ihn heute unbedingt wieder lesen.
VERENA LUEKEN.
Joseph Mitchell: "McSorley's Wonderful Saloon". New Yorker Geschichten.
Aus dem Englischen von Sven Koch und Andrea Stumpf. Diaphanes Verlag, Berlin/Zürich 2011. 416 S., geb., 22,90 [Euro].
Joseph Mitchell: "Zwischen den Flüssen". New Yorker Hafengeschichten.
Aus dem Englischen von Sven Koch und Andrea Stumpf. Diaphanes Verlag, Berlin/Zürich 2012. 268 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Die Typen und Menschenschläge verändern sich nicht. Sonst aber alles: Diese Reportagen sind Anker im Fluss der Zeit, die das Alte für die Nachwelt festhalten wollen.« Thomas Andre, Hamburger Abendblatt