Rückblickend erscheint heute der Alltag in einem DDR-Betrieb zuweilen im besten Licht. Aus den Erinnerungen sind Herrschaft und Unterdrückung ebenso verschwunden wie Mangel und Desorganisation oder die im Rahmen des sozialistischen Wettbewerbs alltäglich praktizierten Rituale. In diesem Band wird die vergessene Seite des betrieblichen Alltags wieder entdeckt und in Beziehung zu den tatsächlichen Einflussmöglichkeiten der Beschäftigten auf das Geschehen im Betrieb gesetzt. Am Beispiel des gewerkschaftlichen Vertrauensmannes, einer ehrenamtlichen Funktion, verfolgt Renate Hürtgen eine Entwicklung, in der selbst die vom Staat geforderte Partizipation und Interessiertheit der Beschäftigten nicht hergestellt werden konnte. Am Ende war der DDR-Betrieb ein Ort, an dem keine Konflikte offen ausgetragen wurden, die Belegschaft ihre Interessen immer weniger durchsetzen konnte und die sozialen Kompetenzen qualifizierter Arbeiter brachlagen. Nachdrücklich formuliert die Autorin die Bedeutung dieser Defizite für das Scheitern der DDR-Gesellschaft.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Aufschlussreich findet Rudolf Walther diese Studie über FDGB-Vertrauensleute in DDR-Betrieben, die Renate Hürtgen nun vorgelegt hat. Er hebt lobend hervor, dass die Berliner Sozialwissenschaftlerin mit ihrer Analyse des betrieblichen Alltags der DDR die gängigen Sichtweisen durchbricht, die DDR entweder aus ideologischen Gründen schlecht zu machen oder als gemütliche Diktatur zu verklären. Gestützt auf umfangreiches Material schildere die Autorin, wie sich im Laufe der Zeit die Funktion der gewerkschaftlichen Vertrauensleute stark veränderte: Anfangs für Disziplinierung in den Betrieben zuständig, sorgten sie mit zunehmenden Machtverlust des FDGB für Ausgleich, Harmonie und, eher marginal, ideologische Schulung. Hürtgen zeige nicht nur, dass den oft weiblichen Vertrauensleuten eine wichtige Moderatorenfunktion in den Betrieben zukam. Sie weise auch detailliert nach, dass die FDGB-Vertrauensleute nur selten zu Informanten der Staatssicherheit wurden, da diese sich stärker mit der Leitungsebene in den Betrieben beschäftigte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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