Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 1,99 €
Produktdetails
  • Reclams Universal-Bibliothek 9635
  • Verlag: Reclam, Ditzingen
  • 1997.
  • Seitenzahl: 222
  • Deutsch
  • Abmessung: 11mm x 97mm x 149mm
  • Gewicht: 110g
  • ISBN-13: 9783150096352
  • ISBN-10: 3150096359
  • Artikelnr.: 06780637
Autorenporträt
Ekkehard Martens, geboren 1943, ist Professor für Didaktik der Philosophie und der Alten Sprachen an der Universität Hamburg. Von ihm gibt es verschiedene Veröffentlichungen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.09.1997

Andere Sachen, andere Sitten
Julian Nida-Rümelin bereichert die Ethik um die Bereichsethik, Ekkehard Martens verfremdet die Toten

Bei Hegel heißt es: "Die allgemeinen Worte von dem Wahren und Guten, der Weisheit und der Tugend sind wohl im allgemeinen erhebend, aber weil sie in der Tat zu keiner Ausbreitung des Inhalts kommen können, fangen sie bald an, Langeweile zu machen." Die Vertreter der "angewandten Ethik" heute dürfen, ihrem Widerwillen gegen diese Verwandtschaft zum Trotz, als geistige Enkel Hegels gelten; angeödet von der Langeweile des Allgemeinen, wollen sie das Gute wieder spannend machen. Was Spannung verspricht, ist - wie beim Fernsehen - die Wirklichkeit. Über das Gute soll nicht am Schreibtisch, sondern am lebendigen Objekt befunden werden; gewandt kommt die Ethik dieser Forderung nach, indem sie sich als "angewandte Ethik" deklariert.

Manchmal hat man den Eindruck, hinter diesem Etikett verberge sich eine Scheinfirma, die zu dem Zweck gegründet worden ist, die Fragen, die die Philosophie seit jeher umtreiben, mit dem modischen Zierat der Nützlichkeit zu versehen. Von einem Philosophen bliebe doch, wenn er auf die Bezugnahme auf das Leben verzichtete, nicht viel mehr übrig als von einem Arzt, der die Behandlung einstellte. Wenn aber die Ethik immer schon "angewandt" gewesen ist, ergibt es überhaupt keinen Sinn, sich heute damit zu brüsten. Solches Getue weckt dann eher den Verdacht, daß es den dienstfertigen Anwendern zwar um soziale Macht, aber nicht mehr um Philosophie gehe.

Es spricht freilich nichts gegen den Versuch, die Philosophie aus ihrer narzißtischen Versenkung in Grundfragen herauszuholen und sie zur Neugier nicht nur auf die Eigentümlichkeiten des Alltags, sondern auch auf die Ergebnisse anderer Wissenschaften anzustacheln. Als solcher Stachel soll ein "Handbuch" wirken, in dem der Göttinger Philosoph Julian Nida-Rümelin mit seinen Mitstreitern über "The State of the Art" der angewandten Ethik informiert. Die Welt ist so kompliziert, daß man sie nicht einfach im Griff hat; so teilt auch dieses Handbuch mit den meisten seiner jüngeren Namensvettern die Eigenart, unhandlich zu sein - fast 900 Seiten ist es dick.

Statt auf allgemeine Prinzipien setzt Nida-Rümelin auf eine "kohärentistische Methodologie": Der Ausdruck ist schlechter als die Sache, für die er steht. Demnach mögen zwar der Umgang mit Tieren und die Beziehung zwischen Staaten jeweils moralisch relevante Phänomene sein; mit identischen Prämissen ist ihnen aber nicht beizukommen. Wo Nida-Rümelin sich mit der Kohärenz von Verschiedenartigem begnügt, werden ihm die Einheitsapostel unter den Ethikern Kompromißlerei vorwerfen. Diesem Vorwurf entgegnet er gelassen: "Es könnte eben sein, daß die ethische Theorie, um adäquat zu sein, unterschiedliche Anwendungsbereiche normativen Urteils zu unterscheiden und für diese Anwendungsbereiche je spezielle Begrifflichkeiten und Kriterien zu entwickeln hat."

Siebzehn Einzelartikel stellen "Bereiche" des ethischen Urteils vor. Klassische Feldarbeit zur politischen Ethik, Rechtsethik und Technikethik findet sich neben eher abgelegenen Pflichtübungen etwa zur ethischen Beurteilung des Journalismus. Über die Auswahl läßt sich streiten. Ist es sinnvoll, Frauen und Tiere in "Bereichsethiken" nacheinander abzuhandeln? Wo bleiben die Kinder - ganz zu schweigen von den Männern? Vielleicht sind solche Einwände aber zweitrangig, vielleicht ist es legitim, daß sich die angewandte Ethik ohne ausgefeilte Systematik einfach um diverse Aspekte des Lebens kümmert; folgt man dieser Devise, dann stellt sich dieses Handbuch als gelungenes Unternehmen dar. Es verführt zum Blättern; sein Reiz besteht darin, daß Themen, Begriffe, Probleme in den verschiedenen "Bereichen" immer wieder verwandelt einen neuen Auftritt haben.

Ein Wechselbad wird etwa dem Begriff der "Person" zuteil. Im Blick auf "Ethik und Geschlechterdifferenz" (Herlinde Pauer-Studer) werden Zweifel bekundet, ob Frauen - und Männer - derart unparteiliche, über die Lebenswelt erhabene "Personen" seien, wie sie der politische Liberalismus unterstellt; im Rahmen der "Ethik der politischen Institutionen" (Nida-Rümelin) werden die Kontroversen um das "Ideal der Person" zwischen Selbstbestimmung und Verantwortung erörtert und die "Loyalitätsbindungen" der Personen in der Bürgerschaft betont.

Die "Ethik der Internationalen Beziehungen" (Christine Chwaszcza) muß den Eingriff von außen, mit dem man sich für die Menschenrechte individueller Personen einsetzen mag, ein Verhältnis zur kulturellen Eigenart und politischen Eigenständigkeit eines Landes setzen. In der "Wirtschaftsethik" (Zimmerli/Aßländer) wird die Differenz zwischen ethisch handelnden "Personen" einerseits, Akteuren mit Eigeninteresse andererseits erkundet, und so belehrt kann man sich gleich an dem Eigeninteresse stoßen, mit dem im folgenden Literaturverzeichnis auf zahllose Aufsätze Zimmerlis verwiesen wird.

In "Ökologischer Ethik" (Anton Leist, Angelika Krebs) und "Tierethik" (Dietmar von der Pfordten, Nida-Rümelin) wird mit der Tradition gebrochen, Menschen als "Personen" in der Moral zu isolieren; umsichtig inszenieren Leist und Krebs ihre Kontroverse, ob alle leidensfähigen Lebewesen oder die Menschen im Mittelpunkt der Moral zu stehen hätten. Die "Medizinethik" (Bettina Schöne-Seifert) befaßt sich dann mit der Frage, wann eigentlich ein Mensch aufhört, eine Person zu sein. Beim "Wert des Lebens" (Nida-Rümelin) schließlich stößt man auf die Merkwürdigkeit, daß das Leben zwar um der Personen willen ein überragendes Gut darstellt, diese selbst sich aber unter bestimmten Umständen nicht davon abhalten lassen, eine Entscheidung gegen ihr eigenes Leben zu fällen.

Die Zurückhaltung bei exponierten Thesen, die bei einem Handbuch typisch ist, pflegt auch Ekkehard Martens in seinem Buch "Zwischen Gut und Böse", das "elementaren Fragen angewandter Philosophie" nachgeht. Der erste Teil ist allgemeinen Fragen wie "Warum soll ich gut sein?" oder "Kann ein anderer wissen, was mich glücklich macht?" gewidmet; hier verläßt sich Martens weitgehend auf Argumentationsgänge aus den Dialogen Platons. Der zweite Teil ist aktuellen Fragen wie der Abtreibung oder dem Verhältnis zu Computern gewidmet. Ihm kann man in Ergänzung zu Nida-Rümelins Handbuch manche Pointe einer weltzugewandten Philosophie entnehmen - etwa zum Umgang mit den "Fremden".

Als Prüfstein hierfür erweist sich nach Martens nämlich der Umgang mit den Toten, die "noch fremder als irgendein lebender Anderer für uns" sind. Demnach lassen sich Kierkegaards und Adornos Spekulationen über die Liebe zu den Dahingeschiedenen als Vorbild für den uneigennützigen Umgang mit den Fremden nehmen: Hier wie dort kommt man an die Grenzen selbstbezogener Lebensoptimierung. Für Umwege wie diese, bei denen ein fremder Blick auf scheinbar bekannte Phänomene fällt, ist die Philosophie berüchtigt; daß die Neigung zu solchen Umwegen auch in Büchern lebendig bleibt, die sich der "Anwendung" verschrieben haben, wirkt beruhigend auf diejenigen, denen bei dem Wort "Anwendung" zuallererst Kurpackungen und - bezogen auf die Philosophie - Mogelpackungen einfallen. DIETER THOMÄ

Julian Nida-Rümelin (Hrsg.): "Angewandte Ethik". Die Bereichsethiken und ihre theoretische Fundierung. Ein Handbuch. Kröner Verlag, Stuttgart 1996. 883 S., geb., 98,- DM.

Ekkehard Martens: "Zwischen Gut und Böse". Elementare Fragen angewandter Philosophie. Reclam Verlag, Stuttgart 1997. 222 S., br., 9,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr