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Produktdetails
  • Verlag: Schöningh
  • ISBN-13: 9783506707857
  • Artikelnr.: 26843602
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.08.1998

Freddy und der Mehrwert
Unsere Studenten blasen nicht mehr: Die Weltreise der Mundharmonika

Ein Buch, das auf sechshundert engbedruckten Seiten über eine Mundharmonikafabrik aus dem württembergischen Trossingen handelt, erlaubt zu fragen: warum soll das interessieren? Gängige Unternehmensgeschichten halten hierauf nach bewährtem Schema eine entweder monumentale, kritische oder antiquarische Antwort bereit. Sie bieten die monumentale Bekanntschaft mit jenen Firmenetagen an, die von schumpeterschen Wagnisunternehmern und Verantwortungsträgern bevölkert werden. Oder sie üben sich kritisch im Versuch, den Arbeiterinnen und Angestellten an Geschichte und Kultur zurückzugeben, was ihnen die Chefs an Mehrwert vermeintlich abgezogen haben. Häufig aber holen sie einfach nur die abgestaubten Kassenbücher aus den Archiven und berichten von ihnen aus einem einzigen Grund - weil es sie eben gibt.

Die vorliegende Arbeit enthält sich solcher Motive. Berghoff will zeigen, daß die Geschichte eines Unternehmens nur als Geschichte der Wechselwirkung von Markt, Organisation und lokalem Umfeld zu schreiben ist. Und dies alles weder "von oben" noch "von unten", sondern aus der Mitte ihrer wirtschaftlichen Sachbezüge: ihrem Standort, den Arbeitsabläufen und finanzwirtschaftlichen Bedingungen, ihren Beschaffungsmärkten und Absatzwegen, den Beziehungen der Firma zur Lokalpolitik und zur Konkurrenz, ihrem Marketing und ihrer weltwirtschaftlichen Einbettung. In einer immensen Fülle an Beschreibungen macht der Autor deutlich, daß es vom Verständnis der makro- und mikroökonomischen Lage abhängt, ob eine Unternehmenschronik eher als Kultur-, Finanz- oder Technikergeschichte zu akzentuieren ist. Je nach historischer Situation läßt er deshalb mit großem ökonomischen Gespür eher Probleme der Produktion, des Verkaufs oder der Industriepolitik als die betriebswirtschaftlichen Schlüsselfragen hervortreten.

Die Hohner-Werke sind für Berghoff doppelt exemplarisch. Zum einen stehen sie für jenen Konsumgüterexport, der wesentlich zur "nachholenden Entwicklung" Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert beitrug. Die Wahl eines Unternehmens aus dem ländlichen Raum korrigiert das Vorurteil, die Industrialisierung habe sich nur im urbanen Zusammenhang vollzogen. Am Ende der Kaiserzeit lebte das Gros der Industriebeschäftigten außerhalb der Städte. Württemberg gibt das klassische Beispiel. Ein enger Binnenmarkt nötigte zum Export. Das Erbrecht erzwang von der Landbevölkerung gewerbliche Nebenarbeit. Der industriellen Entwicklung wiederum kam es zugute, daß die Arbeiter nicht völlig auf die Fabrik angewiesen waren. Bei Engpässen ließ sich die Lohnzahlung schon einmal kurzfristig aufschieben, ohne sofort Hungerkrisen auszulösen. Auch daß viele Trossinger als "Wirtschaftsflüchtlinge" in die Vereinigten Staaten emigrierten, erwies sich später als Entwicklungsvorteil. Als es um den Aufbau überseeischer Handelsbeziehungen ging, konnte Hohner auf ein Bekanntschafts-Netzwerk aus Familienbanden zurückgreifen. Die Württemberger waren die Chinesen des neunzehnten Jahrhunderts.

Exemplarisch sind die Hohner-Werke aber auch, weil an ihrer hundertfünfzigjährigen Geschichte die Stärken und Schwächen einer für Deutschland typischen "Organisationskultur" hervortreten. Gemeint ist der paternalistisch geführte Familienbetrieb. Matthias Hohner war, wie die Junghans, Kienzle oder Scheufelen, ein "self-made man" aus engen Verhältnissen. Industrielle Konkurrenz hatte um 1850 das lokale Uhrmacherhandwerk ausgetrocknet. Aus Wien wurde die Geschäftsidee mit den Mundharmonikas importiert. Ursprünglich als Hilfsmittel zum Stimmen von Klavieren verwendet, kam ihre komplizierte Herstellung den feinmechanischen Fertigkeiten der Trossinger zupaß. Ein "Geheimgewerbe" entstand, das alles tat, um sein "Know-how" zu verbergen. Am liebsten wurde Verwandtschaft beschäftigt. Im Rahmen einer dualen Ökonomie flossen die Profite noch lange in den Ankauf landwirtschaftlicher Nutzflächen, schuf Viehverkauf Liquidität, folgte die Produktion den Rhythmen der Feldwirtschaft.

Innerbetrieblich herrschten Ideologie und Realität des familiären Miteinanders. Verpflichtungsgefühle des Besitzers mischten sich mit harten, "väterlichen" Durchgriffen gegenüber der Belegschaft. Auf deren Kirchgang, Wahlgang und Umgang wurde geachtet. Nach Arbeitsbeginn schloß man das Werkstor, um den Zuspätkommenden einzeln ins Gewissen zu reden. Loyalität und Disziplinierung waren die Leitvorstellungen. Gewerkschaften hielt man für entbehrlich. Als Clara Zetkin 1900 nach Trossingen kam, sprach sie stundenlang über den Freiheitskampf des chinesischen Volkes. So chinesisch waren die Württemberger nun auch wieder nicht: Der Organisationsgrad der "Bläslesmacher" blieb gering.

Eher konservativ war zunächst auch der Wirtschaftsstil. Innovationen durften erst einmal die anderen ausprobieren. Lange kam man ohne Maschineneinsatz aus. Lange auch hielt sich die Vorstellung, der Markenartikel stehe für sich selbst ein, Reklame sei bloß "Geldrausschmeißerei". Das ging gut, solange die Produktion gar nicht nachkam. Als am Ende des neunzehnten Jahrhunderts allmählich die Käufer knapper werden als die Waren, setzen Werbekampagnen ein. Sie machen aus der Mundharmonika für gut ein halbes Jahrhundert eine Art volkskultureller Universalie. Sportvereine, Pfadfinder und Jugendbewegung - kaum eine Hochgefühlsgruppe, die nicht für Umsatz sorgte. Unter Mithilfe von Schullehrern, reisenden Harmonikabands und Buster Keaton wurde das Gebläse in den Markt gedrückt. Bereits im Ersten Weltkrieg tröteten Modelle wie "Alliance Harp", "Le Poilu" und "Donauwacht" aus allen Schützengräben.

Berghoff zeigt, wie sich vor hundert Jahren die Globalisierung vollzog. Die Trossinger begannen den Weltmarkt, Devisenkurse und Zollpolitiken zu beobachten. Die Vereinigten Staaten wurden zum Absatzmarkt schlechthin. Zuzeiten wurden dort 20 Millionen Stück im Jahr verkauft. Umfang und Tempo des Warenumschlags erhöhten sich. Filialen, Agenten und Repräsentanten wurden gebraucht, das Sortiment mußte breiter werden. Zeitweise waren 2000 Modelle lieferbar. Notenverlage wurden gegründet, Kurse für Akkordeon-Lehrer eingerichtet, Schulbehörden massiert.

Im NS-Staat partizipierte das Werk zunächst an der steigenden Massenkaufkraft. Unsicher blieb jedoch, ob das Instrument in das heroische Wagnerideal der Kulturpolitik paßte. Nach dem Krieg litt man an der gedrosselten Auslandsnachfrage. Weltweit stiegen die Zölle auf Konsumgüter. Der amerikanische Markt war längst gesättigt. Radio und Musikboxen verdrängten das Instrument. Da halfen auch die Camping-Welle und das Schifferklavier des Freddy Quinn auf Dauer nicht. Im Musikunterricht dominierte das Orffsche Gehölz. Mit Adornos Urteil, in der Neigung zur Harmonika stecke neben dem Wunsch nach Ausbruch aus der bürgerlichen Sphäre auch der nach "geistiger Selbsterniedrigung", fielen auch die kritischen Theoretiker als Kunden aus. Die Hauszeitschrift der Hohner-Werke wurde ihrerseits kulturkritisch: Der deutsche Knabe blase nur noch in das Wirtschaftswunderhorn.

Schließlich wurde die Erfolgsgeschichte der Hohnerschen "Unternehmenskultur" zum Problem. Außer dem Firmeninhaber war niemand über die Finanzlage informiert. Angestellte durften nur buchen, aber keine Salden bilden. "Hingabe" und "Dankbarkeit" als erwünschte Grundhaltung des Personals diente nicht gerade dem Wandel. Die Form des Familienbetriebs wurde zur fixen Idee, die sowohl die Rekrutierung auswärtigen Personals wie Kapitalerhöhungen erschwerte. Zusätzlich wurde die arbeitsintensive Produktion, die dem technologischen Konservatismus der Handwerkerfamilie entsprach, im entstehenden Hochlohnland zum kritischen Faktor. Trossingen war keine Peripherie mehr, die Zugriffschance auf billige und immobile Arbeit war dahin. Zuletzt zeigte auch das lokalpolitische Arrangement des Gebens und Nehmens seine belastende Seite. Hohner wurde von kommunalpolitischen Belangen just in Zeiten absorbiert, in denen es der Firma schlechtging.

So schließt Berghoff, daß das Unternehmen an seinen eigenen Traditionen erkrankte. Über Jahre hinweg wurden beträchtliche Fähigkeiten im Umgang mit ökonomischen und politischen Restriktionen entwickelt. Als sich aber der Konsumstil änderte, wollte man das nicht begreifen. Die Geschichte dreier erfolgreicher Generationen und die Selbstwahrnehmung als "Handwerksbetrieb" verhinderten die Einsicht, daß man sich längst im Zeitalter des elektronischen Musikkonsums befand. Vor wenigen Tagen erklärte der Aufsichtsratsvorsitzende auf der außerordentlichen Hauptversammlung der Matthias Hohner AG, Vergangenheitsbewältigung nutze dem Unternehmen nichts (F.A.Z. vom 1. August). Gleichwohl sollte Berghoffs Arbeit in Trossingen gelesen werden - und anderswo. Sie ist eine Modellstudie - nicht nur für die Wirtschaftsgeschichte, sondern auch für eine historisch informierte Betriebswirtschaftslehre. JÜRGEN KAUBE

Hartmut Berghoff: "Zwischen Kleinstadt und Weltmarkt: Hohner und die Harmonika 1857-1961". Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Schöningh Verlag, Paderborn 1997. 670 S., geb., 58,- DM.

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