Die menschliche Lebensführung ist weder durch Wesenheiten vorherbestimmt noch eine beliebige Konstruktion. Sie bedarf der Aufdeckung der zum Leben nötigen Möglichkeiten. Dieser Kategorische Konjunktiv beugt der unmenschlichen Verstetigung ungespielten Lachens und Weinens vor. Menschliche Lebewesen brauchen einen geschichtlichen Prozeß, um ihre Natur öffentlich herausproduzieren zu können. Die Wahrnehmung der ersten Person bedeutet Teilnahme an der Semiosis lebendiger Augenblicke. Diesseits von Naturalismus und Sprachidealismus wird hier der dritte Weg eines modernitätskritischen Philosophierens erkundet. Auf jenem Weg Philosophischer Anthropologie kommt der Geschlechterfrage ein hoher Stellenwert zu. Die Selbstermächtigung zur Produktion biologischer und soziokultureller Geschlechterbestimmungen hat ihre Grenzen am nötigen Respekt vor unserer erotischen Leibesnatur.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.2002In der Entfremdung liegt das authentisch Menschliche
Selbstverwirklichung als Sackgasse: Wieviel Leid kann sich ersparen, wer mit Hans-Peter Krüger die Lust auf Plessner teilt
"Was Foucault und Derrida nicht weniger fehlt als Habermas oder Rorty, ist eine Naturphilosophie lebendiger Positionalitäten und deren semiotischer Vermittlungen, eben die Stärke des Plessnerschen Ansatzes, der in dieser Hinsicht nur von der amerikanischen Philosophie des Pragmatismus herausgefordert wird." Das Zitat faßt Inhalt und Problem von Hans-Peter Krügers neuem Buch gut zusammen. Im ersten Band von "Lachen und Weinen" hatte er eine ausführliche Darstellung des gewiß nicht leicht zu systematisierenden Plessnerschen Gesamtwerks gegeben. Jetzt möchte er diese philosophische Anthropologie als Lösung aller Probleme der Gegenwartsphilosophie und neben dem Pragmatismus einzig legitimen Nachfahren der Hegelschen Philosophie ausweisen.
Nun mag man durchaus der Meinung sein, daß zwischen Sprachidealismus und Naturalismus nur eine Philosophie vermitteln kann, die die Rationalität in der menschlichen Praxis und die menschliche Praxis in organischen Vollzügen gründet. Man mag auch meinen, daß Plessner hier zum gegenwärtig vorherrschend wahrgenommenen Pragmatismus eine Alternative bietet. Niemand ist indes mit dem Rosenkranz gedient, daß Husserl, Heidegger, Wittgenstein, Cassirer, Foucault, Derrida, Lyotard, Habermas, Henrich, Schmitz, Rorty, Brandom sich und uns viel Mühe hätten sparen können, wenn sie wie Peirce, James, Mead und Dewey zu Religion, Politik, Geschichte, Ökonomie, Sprache, Bewußtsein, Natur dasselbe gesagt hätten wie Plessner.
Dennoch macht Krüger nicht einfach nur an jedem Baum halt. Ihn interessiert, wie zwischen den Grenzen ungespielten, authentischen Lachens und Weinens der Mensch im Spiel zu sich selbst kommt. Das Spiel ist keine freie, monologische Schöpfung. In ihm werden vielmehr die eigenen Impulse mit den Erwartungen der anderen und den realen Handlungsmöglichkeiten verknüpft. So verschränken sich Individualisierung und Vergesellschaftung, und eben aus dieser Verschränkung entsteht Geschichte. Eine Geschichte allerdings, die wesentlich Spiel ist, kann kein Telos und kein bergendes Absolutes mehr kennen. Das Ende des ideologischen Weltbürgerkrieges habe uns unwiederbringlich zum Bewußtsein gebracht, Schauspieler unseres kontingenten Selbst zu sein.
Krügers Universalentwurf ist damit zuinnerst eine Selbstreflexion dessen, daß er spielt, ein Philosoph zu sein. Seine hegelkennerische Ausbildung und die Erfahrung des Systemwechsels bringt er zusammen mit den supponierten Erwartungen, ein Philosoph müsse zu allem und zumal zu jeder Gegenwartsphilosophie irgend etwas Allgemeines und Kritisches zu sagen haben. Ist die Selbstreflexion dann auch ein Spiel? Die Frage scheint in einen leeren Zirkel zu führen. Aber kann man wirklich etwas tun, womit es einem ernst ist, und gleichzeitig (nicht erst in nachträglicher Besinnung) angeben, daß man damit (nicht nur der Form nach) natürlich auch auf Rollenerwartungen reagiert? Würde das nicht sofort den Verdacht wecken, etwas anderes, erst eigentlich Ernstes sei unausgesprochen geblieben?
Tatsächlich kennt Krüger ein mehr oder weniger an Spiel. Etwas unvermutet kommt er auf eine "durchaus leidenschaftliche Liebesbeziehung" zu sprechen. "Selbst hier" müssen Körper und Leib, eigener Impuls und die Erwartungen des anderen aufeinander abgestimmt werden. Selbst hier - weil es noch eine andere Art des Spiels gibt, in der "die beiden Liebenden die Technik der Tarnkappen gegenüber dem genarrten Dritten anwenden". Und in einem langen, dem Buch angehängten methodischen Beispiel führt Krüger gegen Judith Butler vor, wie die philosophische Anthropologie das Geschlechterverhältnis denkt. Unsere Geschlechtlichkeit sei unterbestimmt. Deshalb bedürfe es des erotischen Spieles, um die körperlich-leibliche Begegnung in Bewegung zu halten. Dieses Spiel allerdings setze das Weibliche und Männliche zumindest als Potential voraus. Näher gehe es um die "verschiedene Proportionierung der sprachlich intermodalen Funktionseinheit der sensomotorischen Funktionskreise", nämlich eine eher visuell-taktile und eine eher auditiv-taktile Orientierung. Die Unersetzlichkeit der Schwangerschaft, die vor allem auditiv-taktile Kooperation bedeutet, führt dabei auf die Zuordnung, die "seit Zehntausenden von Jahren von Männern und Frauen, die miteinander Sex treiben", als kulturelle Konstante vorgenommen wird. "Denn wenn man die Geschlechterfrage nicht als eine individualistische Selbstverwirklichung mißversteht, die sich schnell mal im soziokulturell angehäuften Konjunktiv bedient, kommt man an ihrem Zusammenhang zur Generativität nicht vorbei."
Hier soll gar nicht kritisiert werden, daß ein gewaltiger theoretischer Akt zur Fortpflanzung von dem führt, was seit Zehntausenden von Jahren ohnehin alle denken. Der Begriff des Spiels hat Sinn nur, wo etwas Authentisches vorausgesetzt wird. Krüger wird denn auch nicht müde, Plessner dem Pragmatismus gegenüber als entscheidenden Vorteil anzurechnen, daß er das menschliche Dasein von den Grenzen des ungespielten Lachens und Weinens her bestimme. Aber Lachen und Weinen sind sozusagen reine Formen. Ich kann über alles lachen oder weinen, über Krügers Buch so gut wie über meine Geschlechterrolle. Darum taugen Lachen und Weinen als Gegenbegriff des Spiels nur, wo ihnen stillschweigend Inhaltliches untergeschoben wird: die sexuelle Begegnung mit der auditiv-taktilen Frau etwa. In dem Augenblick aber, in dem ich in der Lust auch nur ein wenig mehr ich selbst bin als im Spiel der Philosophenrolle, ist die dialektische Pointe von Plessners Ansatz schon verfehlt: in einer Umkehr der lebensphilosophischen Verdinglichungskritik gerade die Entfremdung als das authentische Menschliche zu bestimmen. Denn Plessner setzt das Spiel nicht dem ungespielten Lachen und Weinen, sondern falschen Authentizitätsvorstellungen entgegen. Offenbar ist das immer noch aktuell.
GUSTAV FALKE.
Hans-Peter Krüger: "Zwischen Lachen und Weinen". Band II: Der dritte Weg philosophischer Anthropologie und die Geschlechterfrage. Akademie Verlag, Berlin 2002. 422 S., fünf Abb., geb., 49,80 [Euro].
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Selbstverwirklichung als Sackgasse: Wieviel Leid kann sich ersparen, wer mit Hans-Peter Krüger die Lust auf Plessner teilt
"Was Foucault und Derrida nicht weniger fehlt als Habermas oder Rorty, ist eine Naturphilosophie lebendiger Positionalitäten und deren semiotischer Vermittlungen, eben die Stärke des Plessnerschen Ansatzes, der in dieser Hinsicht nur von der amerikanischen Philosophie des Pragmatismus herausgefordert wird." Das Zitat faßt Inhalt und Problem von Hans-Peter Krügers neuem Buch gut zusammen. Im ersten Band von "Lachen und Weinen" hatte er eine ausführliche Darstellung des gewiß nicht leicht zu systematisierenden Plessnerschen Gesamtwerks gegeben. Jetzt möchte er diese philosophische Anthropologie als Lösung aller Probleme der Gegenwartsphilosophie und neben dem Pragmatismus einzig legitimen Nachfahren der Hegelschen Philosophie ausweisen.
Nun mag man durchaus der Meinung sein, daß zwischen Sprachidealismus und Naturalismus nur eine Philosophie vermitteln kann, die die Rationalität in der menschlichen Praxis und die menschliche Praxis in organischen Vollzügen gründet. Man mag auch meinen, daß Plessner hier zum gegenwärtig vorherrschend wahrgenommenen Pragmatismus eine Alternative bietet. Niemand ist indes mit dem Rosenkranz gedient, daß Husserl, Heidegger, Wittgenstein, Cassirer, Foucault, Derrida, Lyotard, Habermas, Henrich, Schmitz, Rorty, Brandom sich und uns viel Mühe hätten sparen können, wenn sie wie Peirce, James, Mead und Dewey zu Religion, Politik, Geschichte, Ökonomie, Sprache, Bewußtsein, Natur dasselbe gesagt hätten wie Plessner.
Dennoch macht Krüger nicht einfach nur an jedem Baum halt. Ihn interessiert, wie zwischen den Grenzen ungespielten, authentischen Lachens und Weinens der Mensch im Spiel zu sich selbst kommt. Das Spiel ist keine freie, monologische Schöpfung. In ihm werden vielmehr die eigenen Impulse mit den Erwartungen der anderen und den realen Handlungsmöglichkeiten verknüpft. So verschränken sich Individualisierung und Vergesellschaftung, und eben aus dieser Verschränkung entsteht Geschichte. Eine Geschichte allerdings, die wesentlich Spiel ist, kann kein Telos und kein bergendes Absolutes mehr kennen. Das Ende des ideologischen Weltbürgerkrieges habe uns unwiederbringlich zum Bewußtsein gebracht, Schauspieler unseres kontingenten Selbst zu sein.
Krügers Universalentwurf ist damit zuinnerst eine Selbstreflexion dessen, daß er spielt, ein Philosoph zu sein. Seine hegelkennerische Ausbildung und die Erfahrung des Systemwechsels bringt er zusammen mit den supponierten Erwartungen, ein Philosoph müsse zu allem und zumal zu jeder Gegenwartsphilosophie irgend etwas Allgemeines und Kritisches zu sagen haben. Ist die Selbstreflexion dann auch ein Spiel? Die Frage scheint in einen leeren Zirkel zu führen. Aber kann man wirklich etwas tun, womit es einem ernst ist, und gleichzeitig (nicht erst in nachträglicher Besinnung) angeben, daß man damit (nicht nur der Form nach) natürlich auch auf Rollenerwartungen reagiert? Würde das nicht sofort den Verdacht wecken, etwas anderes, erst eigentlich Ernstes sei unausgesprochen geblieben?
Tatsächlich kennt Krüger ein mehr oder weniger an Spiel. Etwas unvermutet kommt er auf eine "durchaus leidenschaftliche Liebesbeziehung" zu sprechen. "Selbst hier" müssen Körper und Leib, eigener Impuls und die Erwartungen des anderen aufeinander abgestimmt werden. Selbst hier - weil es noch eine andere Art des Spiels gibt, in der "die beiden Liebenden die Technik der Tarnkappen gegenüber dem genarrten Dritten anwenden". Und in einem langen, dem Buch angehängten methodischen Beispiel führt Krüger gegen Judith Butler vor, wie die philosophische Anthropologie das Geschlechterverhältnis denkt. Unsere Geschlechtlichkeit sei unterbestimmt. Deshalb bedürfe es des erotischen Spieles, um die körperlich-leibliche Begegnung in Bewegung zu halten. Dieses Spiel allerdings setze das Weibliche und Männliche zumindest als Potential voraus. Näher gehe es um die "verschiedene Proportionierung der sprachlich intermodalen Funktionseinheit der sensomotorischen Funktionskreise", nämlich eine eher visuell-taktile und eine eher auditiv-taktile Orientierung. Die Unersetzlichkeit der Schwangerschaft, die vor allem auditiv-taktile Kooperation bedeutet, führt dabei auf die Zuordnung, die "seit Zehntausenden von Jahren von Männern und Frauen, die miteinander Sex treiben", als kulturelle Konstante vorgenommen wird. "Denn wenn man die Geschlechterfrage nicht als eine individualistische Selbstverwirklichung mißversteht, die sich schnell mal im soziokulturell angehäuften Konjunktiv bedient, kommt man an ihrem Zusammenhang zur Generativität nicht vorbei."
Hier soll gar nicht kritisiert werden, daß ein gewaltiger theoretischer Akt zur Fortpflanzung von dem führt, was seit Zehntausenden von Jahren ohnehin alle denken. Der Begriff des Spiels hat Sinn nur, wo etwas Authentisches vorausgesetzt wird. Krüger wird denn auch nicht müde, Plessner dem Pragmatismus gegenüber als entscheidenden Vorteil anzurechnen, daß er das menschliche Dasein von den Grenzen des ungespielten Lachens und Weinens her bestimme. Aber Lachen und Weinen sind sozusagen reine Formen. Ich kann über alles lachen oder weinen, über Krügers Buch so gut wie über meine Geschlechterrolle. Darum taugen Lachen und Weinen als Gegenbegriff des Spiels nur, wo ihnen stillschweigend Inhaltliches untergeschoben wird: die sexuelle Begegnung mit der auditiv-taktilen Frau etwa. In dem Augenblick aber, in dem ich in der Lust auch nur ein wenig mehr ich selbst bin als im Spiel der Philosophenrolle, ist die dialektische Pointe von Plessners Ansatz schon verfehlt: in einer Umkehr der lebensphilosophischen Verdinglichungskritik gerade die Entfremdung als das authentische Menschliche zu bestimmen. Denn Plessner setzt das Spiel nicht dem ungespielten Lachen und Weinen, sondern falschen Authentizitätsvorstellungen entgegen. Offenbar ist das immer noch aktuell.
GUSTAV FALKE.
Hans-Peter Krüger: "Zwischen Lachen und Weinen". Band II: Der dritte Weg philosophischer Anthropologie und die Geschlechterfrage. Akademie Verlag, Berlin 2002. 422 S., fünf Abb., geb., 49,80 [Euro].
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