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Zwei gegenläufige Tendenzen kennzeichnen heute die geistige Situation der Zeit: die Ausbreitung naturalistischer Weltbilder und die religiöser Orthodoxien. Auf der einen Seite dringt mit den Fortschritten in Biogenetik, Hirnforschung und Robotik eine naturwissenschaftlich objektivierte Selbstauffassung von Personen auch in alltägliche Handlungszusammenhänge ein. Mit dieser Tendenz verbindet sich für die Philosophie die Herausforderung eines szientistischen Naturalismus: Strittig ist nicht die Tatsache, daß alle Operationen des menschlichen Geistes durchgängig von organischen Substraten…mehr

Produktbeschreibung
Zwei gegenläufige Tendenzen kennzeichnen heute die geistige Situation der Zeit: die Ausbreitung naturalistischer Weltbilder und die religiöser Orthodoxien. Auf der einen Seite dringt mit den Fortschritten in Biogenetik, Hirnforschung und Robotik eine naturwissenschaftlich objektivierte Selbstauffassung von Personen auch in alltägliche Handlungszusammenhänge ein. Mit dieser Tendenz verbindet sich für die Philosophie die Herausforderung eines szientistischen Naturalismus: Strittig ist nicht die Tatsache, daß alle Operationen des menschlichen Geistes durchgängig von organischen Substraten abhängig sind. Die Kontroverse geht vielmehr um die richtige Art eines naturalistischen Verständnisses der kulturellen Evolution.
Dieser Tendenz begegnet auf der anderen Seite eine unerwartete Revitalisierung von Glaubensüberlieferungen und die weltweite Politisierung von Glaubensgemeinschaften. Mit dieser Wiederbelebung religiöser Kräfte verbindet sich für die Philosophie die Herausforderung einer Grundsatzkritik am nachmetaphysischen und nichtreligiösen Selbstverständnis der westlichen Moderne: Strittig ist nicht die Tatsache, daß es politische Gestaltungsmöglichkeiten nur noch innerhalb des alternativlos gewordenen Universums der im Westen entstandenen wissenschaftlich-technischen und wirtschaftlichen Infrastrukturen gibt. Kontrovers ist vielmehr die richtige Deutung der Säkularisierungsfolgen einer kulturellen und gesellschaftlichen Rationalisierung.
Der vorliegende Band versammelt Aufsätze, die sich im Horizont dieser Fragestellungen bewegen. Durch alle Beiträge zieht sich als roter Faden die Intention hindurch, den gegenläufigen, aber komplementären Herausforderungen von Naturalismus und Religion mit dem nachmetaphysischen Beharren auf dem normativen Eigensinn einer detranszendentalisierten Vernunft zu begegnen.
Autorenporträt
Habermas, JürgenJürgen Habermas wurde am 18. Juni 1929 in Düsseldorf geboren. Von 1949 bis 1954 studierte er in Göttingen, Zürich und Bonn die Fächer Philosophie, Geschichte, Psychologie, Deutsche Literatur und Ökonomie. Er lehrte unter anderem an den Universitäten Heidelberg und Frankfurt am Main sowie der University of California in Berkeley und war Direktor des Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg. Jürgen Habermas erhielt zahlreiche Ehrendoktorwürden und Preise, darunter den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels (2001) und den Kyoto-Preis (2004).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2005

Der Kern entzieht sich dem Argument
Jürgen Habermas hält eine abgerüstete Religion für vernünftig / Von Michael Pawlik

Seit einiger Zeit gehört die Auseinandersetzung mit der Religion zu den dominierenden Themen im Werk von Jürgen Habermas. Seine Friedenspreisrede von 2001 stellte er unter den Titel "Glauben und Wissen". Öffentliche Resonanz fand die Diskussion, die er im Januar 2004 mit dem damaligen Kardinal Ratzinger führte und die dieser mit den Worten zusammenfaßte, im Operativen sei man sich einig. Jetzt legt Habermas ein Buch vor, das seine wichtigsten Aufsätze aus den letzten Jahren enthält und dessen zentrales Thema das Verhältnis zwischen Religion und Philosophie bildet. Wird der Erbe der Kritischen Theorie im Alter fromm? Nein, es ist hauptsächlich der Befund einer fast weltweit zu beobachtenden Revitalisierung religiöser Überzeugungen, der Habermas' Interesse geweckt hat. Daß ausgerechnet die Religion über die Zukunft des von Habermas propagierten liberalen Projekts mitentscheiden würde, hätte man vor zwei Jahrzehnten nicht erwartet.

Religion ist für Habermas ein zweideutiges Phänomen. Einerseits könne sie zur Segmentierung einer Gesellschaft in unversöhnliche Glaubens- und Weltanschauungsgemeinschaften führen. Andererseits vermöge sie das Solidaritätsbewußtsein der Bürger zu stärken und mit ihren motivationalen Ressourcen der reinen praktischen Vernunft zur Seite zu springen, die "sich nicht mehr so sicher sein kann, allein mit Einsichten einer Theorie der Gerechtigkeit in ihren bloßen Händen einer entgleitenden Modernisierung entgegenwirken zu können". Die Gefahr einer allseitigen Abkapselung läßt sich nach Habermas nur innerhalb einer politischen Kultur bannen, in der die Staatsbürger akzeptieren, daß sie sich gegenseitig Gründe für ihre politischen Stellungnahmen schulden, und in der die staatlichen Institutionen ihre Entscheidungen nur auf säkulare, auch dem nichtreligiösen Bürger zugängliche Gründe stützen dürfen. Habermas fordert vom religiösen Bürger eine beträchtliche Abstraktionsleistung. In politicis muß dieser seine Vorstellungen vom Guten und Heiligen einer säkularen Konzeption des Gerechten unterordnen.

All dies ist wenig überraschend. Daß die Religion sich nicht unterstehen solle, das ihr vom Säkularismus abgerungene Grenzregime in Frage zu stellen, versteht sich für einen der Protagonisten des nachmetaphysischen Denkens von selbst. Daß umgekehrt Religionsgemeinschaften im Rahmen etablierter Verfassungsstaaten "im allgemeinen Funktionen erfüllen, die nicht unwichtig sind für die Stabilisierung und Entfaltung einer liberalen politischen Kultur", dies ist ein Satz von solch majestätischer Unbestimmtheit, daß ihn selbst der Regierende Bürgermeister von Berlin aussprechen könnte, ohne eine Koalitionskrise zu riskieren.

Spannend werden Habermas' Überlegungen dort, wo er die Perspektive wechselt und sich den religiös unmusikalischen Bürgern zuwendet. Tun diese recht daran, die Religionen als Relikte aus archaischer Zeit abzutun und auf ihr Absterben zu warten? Oder bringen die Religionen einen philosophisch unabgegoltenen Eigensinn zum Ausdruck, den auch der Nichtgläubige nicht ignorieren darf? Bereits in seiner Friedenspreisrede hat Habermas sich zu der letzten Auffassung bekannt. In den Abhandlungen des vorliegenden Bandes bekräftigt er diese Haltung. Religiösen Überzeugungen müsse auch aus der Sicht des säkularen Wissens ein Status zugestanden werden, "der nicht schlechthin irrational ist". Die Religion fordere zur "selbstreflexiven Überwindung eines säkularistisch verhärteten und exklusiven Selbstverständnisses der Moderne" heraus. Das sind starke Worte. Schaut man genauer hin, so besagen sie weniger, als man auf den ersten Blick vermuten möchte.

Die Maßstäbe, anhand deren ein säkularer Bürger die Rationalität fremder Positionen beurteilt, sind naturgemäß dieselben, auf deren Grundlage er das Gebäude seiner Überzeugungen errichtet hat. Es sind säkulare Maßstäbe. Die Glaubenswahrheiten einer Offenbarungsreligion können aber nie rational in diesem zureichenden Sinne sein, denn sie berufen sich in letzter Instanz nicht auf die Einhaltung bestimmter Verfahren, sondern auf Autorität. Für die Exegeten gilt: "Das Wort sie sollen lassen stehn", auf katholischer Seite noch die Autorität des Lehramtes. Habermas selbst macht sich keine Illusionen über die Inkompatibilität des säkularen und des religiösen Denkens. "Die Perspektiven, die entweder in Gott oder im Menschen zentriert sind, lassen sich nicht ineinander überführen." Wie aber soll es der säkularen Vernunft gelingen können, in der Religion anerkennenswerte Rationalitätsmomente ausfindig zu machen?

Habermas versucht es mit einer entwicklungsgeschichtlichen Antwort. "Das nachmetaphysische Denken kann sich selbst nicht verstehen, wenn es nicht die religiösen Traditionen Seite an Seite mit der Metaphysik in die eigene Genealogie einbezieht." Schon wahr. Aber daraus folgt nur, daß - wie Habermas unter Berufung auf Hegel resümiert - "die großen Religionen zur Geschichte der Vernunft selbst gehören". Indessen hat kein Philosoph nachdrücklicher betont als Hegel, daß sich aus vergangenen Verdiensten keine gegenwärtigen Ansprüche herleiten lassen. Hier ist die Rose, hier tanze. Der mit Habermas' Suchauftrag konfrontierte säkulare Bürger bleibt unbefriedigt.

Innerhalb von Habermas' Gedankengebäude ist nur dessen zweiter Begründungsansatz schlüssig. Danach sind religiöse Überlieferungen für die praktische Vernunft nur insoweit interessant, wie es gelingt, "sich das historisch Vorgefundene nach eigenen rationalen Maßstäben anzueignen". Die Religion wird für die nachmetaphysische Philosophie erst dann ein ernstzunehmender Partner, wenn diese ihr jede Transzendenz ausgetrieben hat. Was bleibt von einer derart abgerüsteten Religion? Der späte Horkheimer hat darauf geantwortet: "Der gegen die Wirklichkeit durchgehaltene, immer noch nicht erstickte Impuls, daß es anders werden soll, daß der Bann gebrochen wird und es sich zum Rechten wendet." Ähnlich klingt es bei Habermas. "Religiöse Überlieferungen leisten bis heute die Artikulation eines Bewußtseins von dem, was fehlt. Sie halten die Sensibilität für Versagtes wach. Sie bewahren die Dimensionen unseres gesellschaftlichen und persönlichen Zusammenlebens, in denen noch die Fortschritte der kulturellen und gesellschaftlichen Rationalisierung abgründige Zerstörungen angerichtet haben, vor dem Vergessen."

Habermas würde sich mit Jesus rasch darüber einig werden, daß Geldverdienen nicht alles ist im Leben, weil der Mensch nicht vom Brot allein lebt. Aber wovon und wozu lebt er? Der Kinderkatechismus des Rezensenten begann mit der Frage: "Wozu sind wir auf Erden?", und die Antwort lautete: "Um Gott zu loben und ihm zu dienen, damit wir würdig werden der Verheißungen Christi." Was soll ein säkularer Bürger mit einer solchen Auskunft anfangen? Habermas ist sich des Problems bewußt. Er weiß, daß die Philosophie, so wie er sie versteht, den opaken Kern der religiösen Erfahrung bestenfalls umkreist, wenn sie auf die Eigenart der religiösen Rede reflektiert. "Dieser Kern bleibt dem diskursiven Denken so abgründig fremd wie der von der philosophischen Reflexion auch nur eingekreiste, aber undurchdringliche Kern der ästhetischen Anschauung."

Was kann ein säkulares Denken à la Habermas demnach mit der Religion anfangen? Sie kann diese als einen Steinbruch der Zitate, der Bilder und der Hoffnungen nutzen, und dazu kommen noch die schon von Kardinal Ratzinger herausgestellten Gemeinsamkeiten im operativen Geschäft. Der Rest ist Schweigen. Dieser Rest aber ist, jedenfalls im religiösen Verständnis, nahezu das Ganze. Dieser Befund beinhaltet keine Kritik an Habermas. Ihm vorzuwerfen, daß er nicht über den Schatten eines in fünfzig Jahren gewachsenen, höchst eindrucksvollen Lebenswerks gesprungen ist, wäre anmaßend. Von einer neuen Religionsfreundlichkeit bei Habermas zu schwärmen aber wäre töricht.

Jürgen Habermas: "Zwischen Naturalismus und Religion". Philosophische Aufsätze. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 372 S., br., 16,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Mit großen Respekt äußert sich Hans Joas über diesen Aufsatzband, der Arbeiten des Philosophen Jürgen Habermas aus den Jahren 2001 bis 2004 versammelt. Besonders den autobiografischen Text am Anfang des Bandes, in dem Habermas zum ersten Mal öffentlich die Erfahrungen mit seiner Lippenspalte reflektiert, findet er "anrührend". Nichtsdestoweniger übt Joas in seiner sehr ins philosophische Detail gehenden Besprechung immer wieder Kritik an einzelnen Punkten, in denen er mit Habermas nicht übereinstimmt. Als eines der zentralen Themen des Bandes nennt er die Auseinandersetzung mit der geistigen Situation der unmittelbaren Gegenwart, die für Habermas von den gegenläufigen Tendenzen eines naturalistischen Weltbildes einerseits und den zunehmenden Einfluss von Religion andererseits geprägt ist. In "meisterlicher Weise" erörtere Habermas die Stellung der Religion in der Öffentlichkeit. Alles in allem präsentiert sich Habermas für Joas als ein "neuer Kant", als ein "Kant der kommunikativen Vernunft und des Zeitalters nach Darwin". Daher verwundert es ihn nicht, dass gerade die Studie zu Kants Religionsphilosophie die "brillanteste" der ganzen Sammlung ist. Fest stehe zumindest, dass das Plädoyer für einen produktiven Dialog von Gläubigen und Nichtgläubigen selten so "eloquent und konzis" vorgetragen wurde wie hier.

© Perlentaucher Medien GmbH
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