Erstmals beschreibt ein Historiker in einem eigenen Band die Geschichte Bayerns nach 1945: die Not der Trümmerzeit, die Gründerjahre der Demokratie, den Neubeginn von Parteien, Verbänden, Presse und Rundfunk, den Umbruch in Landwirtschaft und Industrie, den politischen Eigenwillen des Freistaats. Es ist ein bedeutendes und spannendes Kapitel der Nachkriegszeit. Denn der Wiederaufbau Deutschlands, der Politik und Gesellschaft bis heute prägt, vollzog sich zunächst in den Ländern - und die Länder behaupteten auch ihren Platz in der Bundesrepublik, zumal Bayern. Das Buch, ausgestattet mit zahlreichen Fotos, Tabellen und Grafiken, ist ebenso sachkundig wie anschaulich und flüssig geschrieben. Es empfiehlt sich für alle, die an Zeitgeschichte interessiert sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.01.1997Manchmal Wald und viele Bäume
Die bayerische Nachkriegsgeschichte als Container von Erinnerungen
Maximilian Lanzinner: Zwischen Sternenbanner und Bundesadler. Bayern im Wiederaufbau 1945-1958. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 1996. 439 Seiten, 20 Seiten Abbildungen, Graphiken und Tabellen, 68,- Mark.
Manchmal sieht Maximilian Lanzinner vor lauter Bäumen dennoch den Wald. So schreibt er über 1945 und die Jahre danach: "In irgendeiner Form normale Lebensverhältnisse schienen unendlich weit entfernt." Das ist nicht brillant formuliert, trifft aber massenpsychologisch den Kern der Sache. Nicht nach Wirtschaftswunder und Highlife sehnte sich damals die Bevölkerung, sondern nach schierer Normalität, von der sie ohnehin nur bescheidene Vorstellungen hatte. Die Ausführungen über die "Trümmerzeit", wie der Verfasser sie nennt, sind die besten in dieser bayerischen Geschichte, die aus innerer Notwendigkeit mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches beginnt und aus unerfindlichen Gründen 1958 aufhört. Das Elend, der Hunger, die Kälte, die Sorge um ein Dach über dem Kopf, die Ratten und Wanzen, der allgegenwärtige Schwarzmarkt, der Segen der Schulspeisung und der Care-Pakete, die Hochkonjunktur für allerlei Gesindel, der eiserne Wille zu entsagungsvoller Aufbauarbeit, die amerikanische Ernennung eines bayerischen Kabinetts in Befehlsform ("Haben die Herren noch etwas zu sagen?") - das alles ergibt ein zutreffendes Mosaik, dessen Buntheit erst ein halbes Jahrhundert später als reizvoll empfunden werden kann.
Lanzinner ist ein um Gerechtigkeit bemühter Autor. So versteht er das beiderseitige Unverständnis beim Zusammenprall von Einheimischen und Flüchtlingen, von Hausbesitzern und Habenichtsen. Er sieht, wie schofel die Bayern manchmal waren, wie geschickt aber auch bei der Eingliederung der Fremden. Über die Entnazifizierung schreibt Lanzinner ohne ideologische Scheuklappen. Was die Spruchkammern machten, war juristisch oft der reine Witz, doch die Erkenntnis, daß Schuld Sühne erfordert, ist durch ihre Tätigkeit geschärft worden. Wer differenzieren will, muß das auch tun, wenn er erst einen Schwerverbrecher und dann nur einen Sympathisanten vor sich hat. Daß Personen mit anfechtbarem Charakter brauchbare Mitglieder der Gesellschaft sein können - diese melancholische Einsicht war schließlich auch die der Kammern.
Die Bayern hatten Glück. Sie waren, wofür sie nichts konnten, von den Amerikanern besetzt worden. Über dieses Glück hätte der gerechte, das Sternenbanner im Buchtitel erwähnende Lanzinner ruhig ein paar grundsätzliche Worte verlieren können. Dafür wartet er mit einigen bezeichnenden Einzelheiten auf, etwa mit der, daß die jungen Herren es plötzlich für weltmännisch hielten, beim Reden eine Hand in die Hosentasche zu stecken. Dann aber werden die Farbtupfer spärlicher und die eindrucksvollen Passagen leider auch. Der zunehmenden Normalität der politischen Ereignisse entspricht die zunehmende Langweiligkeit der Darstellung. Und das, obwohl es an Spannungsmomenten nicht fehlte, denn was aus der CSU, aus der Bayernpartei, aus den Monarchisten, aus der mickrigen Industrie und aus der von den Nazis abgeschafften und deshalb immer noch beliebten Bekenntnisschule werden sollte, hing auf eine für jeden Erzähler angenehme Weise in der Schwebe.
Der zweitwichtigste Grund für die Enttäuschung: Lanzinner kann Menschen zwar beurteilen, nicht aber schildern. Trotz etlicher Anekdoten und Zitate erhält der Leser von keiner der handelnden Personen einen lebendigen Eindruck. Völlig blaß bleibt der legendäre "Ochsensepp", der CSU-Vorsitzende Josef Müller, obwohl sein schillernder Charakter für jede geschickte Feder ein gefundenes Fressen wäre. Doch an der kaum schillernden Erzgestalt des ultramontanen Alois Hundhammer scheitert der Porträtist ebenso. Am meisten liegt ihm noch die seriöse und gediegene Gestalt des Ministerpräsidenten Hanns Seidel. Über dessen Vorgänger Hoegner schreibt er, "nur die Person" habe die Viererkoalition aus SPD und FDP, Heimatvertriebenen und Bayernpartei, das "bunte Quartett", zusammenhalten können. Eben, eben - was für ein Ausnahmemensch also war das? Der Leser muß sich das selbst zusammenreimen, aus Informationen wie der, daß ausgerechnet ein Sozialdemokrat die Polizei gegen streikende Metallarbeiter anrücken ließ.
Der bedeutsamere Grund für jene Enttäuschung ist, daß Lanzinner eine Chronik schreibt und mitnichten eine Geschichte. Daher die Faktenfülle, daher der Mangel an Einheitlichkeit, daher die Willkürlichkeit des Schlußpunkts im Jahr 1958. Der Untertitel "Bayern im Wiederaufbau" bezeichnet in Wahrheit kein Thema, sondern einen thematischen Container. Der 1948 geborene Autor sollte sich immer sagen, daß er in Passau Professor für Neuere Geschichte und nicht für Annalistik ist. Zum Beispiel hätte er das Zeug gehabt, ein gutes Buch über das Verhältnis Bayerns zum Bund vorzulegen - samt der dramatischen Schilderung eines Landtags, der in einer Mainacht des Jahres 1949 das Grundgesetz ablehnte, seine Rechtsverbindlichkeit aber bejahte. Auch die einst ganz und gar nicht monolithische CSU wäre ein rundes Thema gewesen. Wenn das kein Lesestoff ist: eine Zusammenkunft des erweiterten Landesausschusses, auf der die Parteifreunde Liebenswürdigkeiten austauschen wie "Schmeißt sie raus! Hängt sie auf!"
Da aber Lanzinner nun einmal entschlossen war, eine intelligente Fleißarbeit zu liefern, hätte er den Skandal um Werner Egks Ballett "Abraxas" nicht unterschlagen dürfen. Seinerzeit war ausnahmsweise ganz Europa auf die bayerische Regierung aufmerksam geworden, weil diese es sich nicht hatte nehmen lassen, die Aufführung eines Werkes zu verbieten, das an vielen Opernhäusern ein "Renner" war, das allerdings zur Erbitterung des frommen Hundhammer die Darstellung einer Schwarzen Messe enthielt. Selten hat die neueste Geschichte auf die Beziehungen zwischen Staat und Kunst ein derartiges Schlaglicht geworfen. Vielleicht aber fühlte sich Lanzinner der musikalischen Terminologie nicht gewachsen, wie er denn tatsächlich irgendwo von "Werdenfelser Geigenbauern" spricht und die berühmten Mittenwalder Geigenbauer meint. ROSWIN FINKENZELLER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Die bayerische Nachkriegsgeschichte als Container von Erinnerungen
Maximilian Lanzinner: Zwischen Sternenbanner und Bundesadler. Bayern im Wiederaufbau 1945-1958. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 1996. 439 Seiten, 20 Seiten Abbildungen, Graphiken und Tabellen, 68,- Mark.
Manchmal sieht Maximilian Lanzinner vor lauter Bäumen dennoch den Wald. So schreibt er über 1945 und die Jahre danach: "In irgendeiner Form normale Lebensverhältnisse schienen unendlich weit entfernt." Das ist nicht brillant formuliert, trifft aber massenpsychologisch den Kern der Sache. Nicht nach Wirtschaftswunder und Highlife sehnte sich damals die Bevölkerung, sondern nach schierer Normalität, von der sie ohnehin nur bescheidene Vorstellungen hatte. Die Ausführungen über die "Trümmerzeit", wie der Verfasser sie nennt, sind die besten in dieser bayerischen Geschichte, die aus innerer Notwendigkeit mit dem Zusammenbruch des Dritten Reiches beginnt und aus unerfindlichen Gründen 1958 aufhört. Das Elend, der Hunger, die Kälte, die Sorge um ein Dach über dem Kopf, die Ratten und Wanzen, der allgegenwärtige Schwarzmarkt, der Segen der Schulspeisung und der Care-Pakete, die Hochkonjunktur für allerlei Gesindel, der eiserne Wille zu entsagungsvoller Aufbauarbeit, die amerikanische Ernennung eines bayerischen Kabinetts in Befehlsform ("Haben die Herren noch etwas zu sagen?") - das alles ergibt ein zutreffendes Mosaik, dessen Buntheit erst ein halbes Jahrhundert später als reizvoll empfunden werden kann.
Lanzinner ist ein um Gerechtigkeit bemühter Autor. So versteht er das beiderseitige Unverständnis beim Zusammenprall von Einheimischen und Flüchtlingen, von Hausbesitzern und Habenichtsen. Er sieht, wie schofel die Bayern manchmal waren, wie geschickt aber auch bei der Eingliederung der Fremden. Über die Entnazifizierung schreibt Lanzinner ohne ideologische Scheuklappen. Was die Spruchkammern machten, war juristisch oft der reine Witz, doch die Erkenntnis, daß Schuld Sühne erfordert, ist durch ihre Tätigkeit geschärft worden. Wer differenzieren will, muß das auch tun, wenn er erst einen Schwerverbrecher und dann nur einen Sympathisanten vor sich hat. Daß Personen mit anfechtbarem Charakter brauchbare Mitglieder der Gesellschaft sein können - diese melancholische Einsicht war schließlich auch die der Kammern.
Die Bayern hatten Glück. Sie waren, wofür sie nichts konnten, von den Amerikanern besetzt worden. Über dieses Glück hätte der gerechte, das Sternenbanner im Buchtitel erwähnende Lanzinner ruhig ein paar grundsätzliche Worte verlieren können. Dafür wartet er mit einigen bezeichnenden Einzelheiten auf, etwa mit der, daß die jungen Herren es plötzlich für weltmännisch hielten, beim Reden eine Hand in die Hosentasche zu stecken. Dann aber werden die Farbtupfer spärlicher und die eindrucksvollen Passagen leider auch. Der zunehmenden Normalität der politischen Ereignisse entspricht die zunehmende Langweiligkeit der Darstellung. Und das, obwohl es an Spannungsmomenten nicht fehlte, denn was aus der CSU, aus der Bayernpartei, aus den Monarchisten, aus der mickrigen Industrie und aus der von den Nazis abgeschafften und deshalb immer noch beliebten Bekenntnisschule werden sollte, hing auf eine für jeden Erzähler angenehme Weise in der Schwebe.
Der zweitwichtigste Grund für die Enttäuschung: Lanzinner kann Menschen zwar beurteilen, nicht aber schildern. Trotz etlicher Anekdoten und Zitate erhält der Leser von keiner der handelnden Personen einen lebendigen Eindruck. Völlig blaß bleibt der legendäre "Ochsensepp", der CSU-Vorsitzende Josef Müller, obwohl sein schillernder Charakter für jede geschickte Feder ein gefundenes Fressen wäre. Doch an der kaum schillernden Erzgestalt des ultramontanen Alois Hundhammer scheitert der Porträtist ebenso. Am meisten liegt ihm noch die seriöse und gediegene Gestalt des Ministerpräsidenten Hanns Seidel. Über dessen Vorgänger Hoegner schreibt er, "nur die Person" habe die Viererkoalition aus SPD und FDP, Heimatvertriebenen und Bayernpartei, das "bunte Quartett", zusammenhalten können. Eben, eben - was für ein Ausnahmemensch also war das? Der Leser muß sich das selbst zusammenreimen, aus Informationen wie der, daß ausgerechnet ein Sozialdemokrat die Polizei gegen streikende Metallarbeiter anrücken ließ.
Der bedeutsamere Grund für jene Enttäuschung ist, daß Lanzinner eine Chronik schreibt und mitnichten eine Geschichte. Daher die Faktenfülle, daher der Mangel an Einheitlichkeit, daher die Willkürlichkeit des Schlußpunkts im Jahr 1958. Der Untertitel "Bayern im Wiederaufbau" bezeichnet in Wahrheit kein Thema, sondern einen thematischen Container. Der 1948 geborene Autor sollte sich immer sagen, daß er in Passau Professor für Neuere Geschichte und nicht für Annalistik ist. Zum Beispiel hätte er das Zeug gehabt, ein gutes Buch über das Verhältnis Bayerns zum Bund vorzulegen - samt der dramatischen Schilderung eines Landtags, der in einer Mainacht des Jahres 1949 das Grundgesetz ablehnte, seine Rechtsverbindlichkeit aber bejahte. Auch die einst ganz und gar nicht monolithische CSU wäre ein rundes Thema gewesen. Wenn das kein Lesestoff ist: eine Zusammenkunft des erweiterten Landesausschusses, auf der die Parteifreunde Liebenswürdigkeiten austauschen wie "Schmeißt sie raus! Hängt sie auf!"
Da aber Lanzinner nun einmal entschlossen war, eine intelligente Fleißarbeit zu liefern, hätte er den Skandal um Werner Egks Ballett "Abraxas" nicht unterschlagen dürfen. Seinerzeit war ausnahmsweise ganz Europa auf die bayerische Regierung aufmerksam geworden, weil diese es sich nicht hatte nehmen lassen, die Aufführung eines Werkes zu verbieten, das an vielen Opernhäusern ein "Renner" war, das allerdings zur Erbitterung des frommen Hundhammer die Darstellung einer Schwarzen Messe enthielt. Selten hat die neueste Geschichte auf die Beziehungen zwischen Staat und Kunst ein derartiges Schlaglicht geworfen. Vielleicht aber fühlte sich Lanzinner der musikalischen Terminologie nicht gewachsen, wie er denn tatsächlich irgendwo von "Werdenfelser Geigenbauern" spricht und die berühmten Mittenwalder Geigenbauer meint. ROSWIN FINKENZELLER
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