Die hier versammelten Aufsätze sind psychoanalytische Essais im besten Sinne des Wortes: Gelehrt, aber niemals belehrend, offen für Literatur, Kunst und Philosophie, ohne je die Sache der Psychoanalyse aus dem Blick zu verlieren, werden die "Grenzen des Analysierbaren" ebenso erkundet wie der "Möglichkeitsraum", den das Kind für seine Entwicklung braucht, aber auch die Psychoanalyse für ihre Praxis. Ein Denken aus einem Zwischen heraus, das liebgewonnene Gegensätze von innen her in Frage stellt und neue Einsichten über die Geschlechterdifferenz und den Hermaphroditen, über das Kind als Frage, den Traum als Erfahrung, die Illusion als kreative Potenz, über den psychischen Schmerz und den Tod im Leben zu gewinnen erlaubt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.1999Ich hab' im Traum geweinet
Wunsch und Textarbeit: Essays von Jean-Bertrand Pontalis
In einem 1970 in London gehaltenen Vortrag über die Funktion der Theorie in der Psychoanalyse äußerte Jean-Bertrand Pontalis die Befürchtung, ein schlichter Hausarzt oder Dorfkneipier könne sich in einer "analytischeren Position" befinden als der ausgewiesene Analytiker, den der Patient gleich mit "mein Vater . . . meine Mutter . . . die Analyse" umgarnt.
Mit dieser pointierten Formulierung verleiht Pontalis einer doppelten Überzeugung Ausdruck: Soviel er der Übertragungsbeziehung zwischen Analytiker und Analysand als Kern der von Freud erfundenen analytischen Situation zutraut, so sehr mißtraut er dem, was die psychoanalytische Theorie in den Köpfen beider anrichtet. Anders als für viele "Kliniker" bedeutet dies für Pontalis jedoch keinen Rückzug aus der Theorie. Das zeigen seine Publikationen seit den Tagen der Mitarbeit an Sartres Zeitschrift "Les Temps Modernes" bis heute. Durch das 1967 gemeinsam mit Jean Laplanche verfaßte "Vokabular der Psychoanalyse" ist sein Name ein Begriff geworden. Bei Fischer ist jetzt eine Auswahl der Essays erschienen, die Pontalis 1977 unter dem Titel "Entre le rêve et la douleur" veröffentlichte.
Bereits der Titel verrät seine Methode, systematische Gedanken an Zufälligem und Assoziativem zu brechen. Wenn man den Traum als Glücksversprechen versteht, bezeichnet "Zwischen Traum und Schmerz" einerseits eine mögliche Topographie des psychoanalytischen Feldes: Pontalis fordert vom Analytiker, die Extreme selbst erfahren zu haben, da "ein Analytiker, der seinen eigenen psychischen Schmerz nicht kennt, keine Chance hat, ein Analytiker zu sein, genauso wie derjenige, der Lust nicht kennt, keine Chance hat, es zu bleiben". Andererseits betitelt "Zwischen Traum und Schmerz" lapidar die mehr oder weniger willkürliche Anordnung der Essays im Buch, deren erster die Rolle des Traums ganz unfreudianisch nicht als Wunscherfüllung, sondern als Wunschbewahrung deutet und deren letzter im Schmerz eine verdrängte Erfahrung des Freudschen Werks erkennt. Zwischen diesen Polen in der Auseinandersetzung mit Themen und Gestalten, die die Geschichte der Psychoanalyse geprägt haben, entfaltet Pontalis seine Vision jener Wissenschaft, die ihren archimedischen Punkt in der Erfahrung des Unbewußten sucht.
Im Zentrum der hier versammelten Essays steht - überraschend für den Lacan-Schüler Pontalis - der Dialog mit Melanie Klein und mit den stark von ihr beeinflußten Objektbeziehungstheoretikern, allen voran Donald Winnicott. Gemeinsam war Klein und Lacan, wie vielen Analytikern der ersten und zweiten Generation nach Freud, ein Interesse an psychischen Störungen, die außerhalb des Bereichs der klassischen Neurosen liegen. Da Erlebnisse in der frühesten Kindheit für das Entstehen von psychotischen oder Borderline-Symptomatiken verantwortlich gemacht werden, verlagerte sich nach Freuds Tod die Aufmerksamkeit von den ödipalen Konflikten des etwa Vierjährigen auf die psychischen Prozesse des noch nicht sprachfähigen Kleinkindes. Nach üblicher Einschätzung enden hier die Überschneidungen zwischen Klein und Lacan. Während der sprachliche Strukturalismus Lacans die Auswirkungen der sozialen oder "symbolischen Ordnung" bis in die Ursprünge des kindlichen Selbstgefühls zurückverfolgt, scheint sich bei Klein alles in der symbiotischen Beziehung von Mutter und Kind abzuspielen. Es spricht für die geistige Unabhängigkeit von Pontalis, daß er sich noch zu Lacans Lebzeiten dem damals in Frankreich weitgehend verfemten Werk Melanie Kleins zuwandte.
Ebenso bemerkenswert wie der Einfluß Melanie Kleins auf den Lacanianer Pontalis ist für einen französischen Intellektuellen in den siebziger Jahren auch die Beschäftigung mit dem "Selbst". Zu einer Zeit, als die Losung vom Tod des Subjekts umging, spürte Pontalis in Winnicotts Schriften den Bedingungen für die Entwicklung eines "wahren Selbst" nach. Winnicotts Begriff des "Übergangs- oder Möglichkeitsraums" ist für Pontalis auch eine angemessene Beschreibung der analytischen Praxis, die es dem Patienten erlaubt, "für sich selbst zur Welt zu kommen". Vor diesem Hintergrund ist es unverständlich, daß der wichtigste Text zu Winnicott, in dem es um Geburt und Anerkennung des "Selbst" geht, nicht in die deutsche Ausgabe aufgenommen wurde. Daß sich die "umfangreiche Arbeit mit vielen anderen Texten überschneidet", wie der Übersetzer Hans-Dieter Gondek in seinem Vorwort erklärt, kann als Auswahlkriterium nicht überzeugen. Denn fast alle in diesem Band gesammelten Arbeiten überschneiden sich. Das leitmotivische Wiederaufnehmen zentraler Gedanken ist sowohl Kennzeichen der Methode wie Bedingung für das Verständnis von Pontalis' Denken.
Seit Anfang der Neunziger werden verstärkt Arbeiten aus dem Umfeld Lacans ins Deutsche übersetzt. Zum Erfolg dieser längst überfälligen Auseinandersetzung könnte eine umsichtige Übersetzungs- und Editionspraxis beitragen. Darauf wurde bei der Übertragung von "Entre le rêve et la douleur" offensichtlich wenig Wert gelegt. Die Übersetzung entscheidet sich niemals für die nüchterne Variante, sondern immer für das - oft aufgesetzte - Ornament ("mit dem Angelhaken aufnehmen" für "pêcher/fischen").
Die Klippen eines komplizierten französischen Satzbaus und einer anspielungsreichen Metaphorik verursachen manchen Schiffbruch. Während Pontalis beispielsweise im Original die Einheit von Theorie und Praxis zum Prinzip erhebt, wird sie in der deutschen Übersetzung zur "petitio principii", also zu einem Fehlschluß, erklärt. Pontalis' Essays hätten es verdient, nach über zwanzig Jahren ein deutsches Publikum zu finden, das es mit der Wahrheit ebenso genau nimmt wie der Autor. BETTINA ENGELS
Jean-Bertrand Pontalis: "Zwischen Traum und Schmerz". Aus dem Französischen und mit einem Essay von Hans-Dieter Gondek. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1998. 240 S., br., 24,90 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wunsch und Textarbeit: Essays von Jean-Bertrand Pontalis
In einem 1970 in London gehaltenen Vortrag über die Funktion der Theorie in der Psychoanalyse äußerte Jean-Bertrand Pontalis die Befürchtung, ein schlichter Hausarzt oder Dorfkneipier könne sich in einer "analytischeren Position" befinden als der ausgewiesene Analytiker, den der Patient gleich mit "mein Vater . . . meine Mutter . . . die Analyse" umgarnt.
Mit dieser pointierten Formulierung verleiht Pontalis einer doppelten Überzeugung Ausdruck: Soviel er der Übertragungsbeziehung zwischen Analytiker und Analysand als Kern der von Freud erfundenen analytischen Situation zutraut, so sehr mißtraut er dem, was die psychoanalytische Theorie in den Köpfen beider anrichtet. Anders als für viele "Kliniker" bedeutet dies für Pontalis jedoch keinen Rückzug aus der Theorie. Das zeigen seine Publikationen seit den Tagen der Mitarbeit an Sartres Zeitschrift "Les Temps Modernes" bis heute. Durch das 1967 gemeinsam mit Jean Laplanche verfaßte "Vokabular der Psychoanalyse" ist sein Name ein Begriff geworden. Bei Fischer ist jetzt eine Auswahl der Essays erschienen, die Pontalis 1977 unter dem Titel "Entre le rêve et la douleur" veröffentlichte.
Bereits der Titel verrät seine Methode, systematische Gedanken an Zufälligem und Assoziativem zu brechen. Wenn man den Traum als Glücksversprechen versteht, bezeichnet "Zwischen Traum und Schmerz" einerseits eine mögliche Topographie des psychoanalytischen Feldes: Pontalis fordert vom Analytiker, die Extreme selbst erfahren zu haben, da "ein Analytiker, der seinen eigenen psychischen Schmerz nicht kennt, keine Chance hat, ein Analytiker zu sein, genauso wie derjenige, der Lust nicht kennt, keine Chance hat, es zu bleiben". Andererseits betitelt "Zwischen Traum und Schmerz" lapidar die mehr oder weniger willkürliche Anordnung der Essays im Buch, deren erster die Rolle des Traums ganz unfreudianisch nicht als Wunscherfüllung, sondern als Wunschbewahrung deutet und deren letzter im Schmerz eine verdrängte Erfahrung des Freudschen Werks erkennt. Zwischen diesen Polen in der Auseinandersetzung mit Themen und Gestalten, die die Geschichte der Psychoanalyse geprägt haben, entfaltet Pontalis seine Vision jener Wissenschaft, die ihren archimedischen Punkt in der Erfahrung des Unbewußten sucht.
Im Zentrum der hier versammelten Essays steht - überraschend für den Lacan-Schüler Pontalis - der Dialog mit Melanie Klein und mit den stark von ihr beeinflußten Objektbeziehungstheoretikern, allen voran Donald Winnicott. Gemeinsam war Klein und Lacan, wie vielen Analytikern der ersten und zweiten Generation nach Freud, ein Interesse an psychischen Störungen, die außerhalb des Bereichs der klassischen Neurosen liegen. Da Erlebnisse in der frühesten Kindheit für das Entstehen von psychotischen oder Borderline-Symptomatiken verantwortlich gemacht werden, verlagerte sich nach Freuds Tod die Aufmerksamkeit von den ödipalen Konflikten des etwa Vierjährigen auf die psychischen Prozesse des noch nicht sprachfähigen Kleinkindes. Nach üblicher Einschätzung enden hier die Überschneidungen zwischen Klein und Lacan. Während der sprachliche Strukturalismus Lacans die Auswirkungen der sozialen oder "symbolischen Ordnung" bis in die Ursprünge des kindlichen Selbstgefühls zurückverfolgt, scheint sich bei Klein alles in der symbiotischen Beziehung von Mutter und Kind abzuspielen. Es spricht für die geistige Unabhängigkeit von Pontalis, daß er sich noch zu Lacans Lebzeiten dem damals in Frankreich weitgehend verfemten Werk Melanie Kleins zuwandte.
Ebenso bemerkenswert wie der Einfluß Melanie Kleins auf den Lacanianer Pontalis ist für einen französischen Intellektuellen in den siebziger Jahren auch die Beschäftigung mit dem "Selbst". Zu einer Zeit, als die Losung vom Tod des Subjekts umging, spürte Pontalis in Winnicotts Schriften den Bedingungen für die Entwicklung eines "wahren Selbst" nach. Winnicotts Begriff des "Übergangs- oder Möglichkeitsraums" ist für Pontalis auch eine angemessene Beschreibung der analytischen Praxis, die es dem Patienten erlaubt, "für sich selbst zur Welt zu kommen". Vor diesem Hintergrund ist es unverständlich, daß der wichtigste Text zu Winnicott, in dem es um Geburt und Anerkennung des "Selbst" geht, nicht in die deutsche Ausgabe aufgenommen wurde. Daß sich die "umfangreiche Arbeit mit vielen anderen Texten überschneidet", wie der Übersetzer Hans-Dieter Gondek in seinem Vorwort erklärt, kann als Auswahlkriterium nicht überzeugen. Denn fast alle in diesem Band gesammelten Arbeiten überschneiden sich. Das leitmotivische Wiederaufnehmen zentraler Gedanken ist sowohl Kennzeichen der Methode wie Bedingung für das Verständnis von Pontalis' Denken.
Seit Anfang der Neunziger werden verstärkt Arbeiten aus dem Umfeld Lacans ins Deutsche übersetzt. Zum Erfolg dieser längst überfälligen Auseinandersetzung könnte eine umsichtige Übersetzungs- und Editionspraxis beitragen. Darauf wurde bei der Übertragung von "Entre le rêve et la douleur" offensichtlich wenig Wert gelegt. Die Übersetzung entscheidet sich niemals für die nüchterne Variante, sondern immer für das - oft aufgesetzte - Ornament ("mit dem Angelhaken aufnehmen" für "pêcher/fischen").
Die Klippen eines komplizierten französischen Satzbaus und einer anspielungsreichen Metaphorik verursachen manchen Schiffbruch. Während Pontalis beispielsweise im Original die Einheit von Theorie und Praxis zum Prinzip erhebt, wird sie in der deutschen Übersetzung zur "petitio principii", also zu einem Fehlschluß, erklärt. Pontalis' Essays hätten es verdient, nach über zwanzig Jahren ein deutsches Publikum zu finden, das es mit der Wahrheit ebenso genau nimmt wie der Autor. BETTINA ENGELS
Jean-Bertrand Pontalis: "Zwischen Traum und Schmerz". Aus dem Französischen und mit einem Essay von Hans-Dieter Gondek. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1998. 240 S., br., 24,90 DM.
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