Karl-Joseph Zumbrunnen, österreichischer Fotograf mit galizischen Wurzeln, reist in den neunziger Jahren immer wieder durch die Ukraine. Die Geburtswehen eines neuen Staates, die Ungleichzeitigkeit von brutal geschmackloser Kommerzialisierung, rückwärtsgewandter Huzulenfoklore, Resowjetisierung und Habsburg-Nostalgie faszinieren ihn. Das Chaos der postsozialistischen Übergangszeit scheint ihm unendlich reizvoller als das langweilige Leben im Westen - vor allem, seit er sich in Roma Woronytsch verliebt hat, seine Dolmetscherin.
Er begleitet sie auf einem abenteuerlichen Ausflug in die Karpaten. Was sich in der Bergeinsamkeit, im "Wirtshaus auf dem Mond", einem ehemaligen Observatorium und späteren Sporthotel, abspielt, wo zwischen Videofilmern, Stripteasetänzerinnen, Bodyguards und Intellektuellen der verfemte Dichter der ukrainischen Moderne, Bohdan-Ihor Antonytsch, höchstselbst umgeht; wie Zumbrunnen am Ende zu Tode kommt und seinen wunderbar lyrischen Nachtflug über Mitteleuropa antritt - all das erzählt Andruchowytsch so mitreißend, mit so viel Intelligenz und Ironie, daß wir erst spät erkennen, warum dieser postmoderne Heimatroman aus der Ukraine in Wirklichkeit von uns und dem Westen handelt.
Er begleitet sie auf einem abenteuerlichen Ausflug in die Karpaten. Was sich in der Bergeinsamkeit, im "Wirtshaus auf dem Mond", einem ehemaligen Observatorium und späteren Sporthotel, abspielt, wo zwischen Videofilmern, Stripteasetänzerinnen, Bodyguards und Intellektuellen der verfemte Dichter der ukrainischen Moderne, Bohdan-Ihor Antonytsch, höchstselbst umgeht; wie Zumbrunnen am Ende zu Tode kommt und seinen wunderbar lyrischen Nachtflug über Mitteleuropa antritt - all das erzählt Andruchowytsch so mitreißend, mit so viel Intelligenz und Ironie, daß wir erst spät erkennen, warum dieser postmoderne Heimatroman aus der Ukraine in Wirklichkeit von uns und dem Westen handelt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2005Der Mond ist ein Punkt in den Karpaten
Leicht wie die Liebe und schwer wie ein Albtraum: "Zwölf Ringe", Juri Andruchowytschs glanzvoller Roman aus dem vergessenen Zentrum Europas
Über die Huzulen könnte man uns viel erzählen. Zum Beispiel, daß in ihren Dörfern die Zahl der Geisterbeschwörer und Hagelbanner groß und die Angst der Bewohner vor Hexen und Dämonen noch größer ist. Man könnte uns berichten, daß den Huzulen das Weihnachtsfest besonders heilig ist und sie dennoch am ersten Weihnachtstag nicht in die Kirche gehen. Denn sie wissen genau, daß die Hexen in den umliegenden Wäldern nur auf den Kirchgang der Bauern warten, um ihre Wölfe auf die Viehherden zu hetzen.
Die Huzulen wissen überhaupt vieles recht genau. Unerschütterlich beharren sie darauf, daß der Teufel nur so lange in der Hölle an der Kette bleibt, wie Weihnachten und Ostern feierlich begangen, Ostereier bemalt und die Ahnen verehrt werden. Regelmäßig schickt Satan seine Boten auf die Erde, um zu erfahren, ob die Menschen noch die Feiertage einhalten. Falls dies nicht geschieht, wird er sich befreien, und das Ende der Welt wäre gekommen.
Wie lebt es sich wohl in einem Land, dessen Fortbestand davon abhängt, daß die Eier zu Ostern ordentlich bemalt werden? Nicht allzu gut, wenn wir den aktuellen Nachrichten Glauben schenken. Denn die Heimat der Huzulen, Huzulschtschyna genannt, gehört heute zu einem Land, dessen Bewohner frech darauf bestehen, daß ihre demokratischen Wahlentscheidungen auch Folgen in der politischen Realität ihrer Heimat haben, und die in ihrem Drang nach Freiheit und Wohlstand nicht einmal davor zurückschrecken, den deutschen Außenminister in Schwierigkeiten zu bringen. Kurzum, die Heimat der Huzulen gehört zur Ukraine, genauer gesagt, umfaßt sie ein Grenzgebiet zwischen der Ukraine und Rumänien in den Waldkarpaten, etwa 150 Quadratkilometer groß, bewohnt von derzeit etwa sechzigtausend Menschen.
Hier steht ein sonderbares Gebäude, errichtet zwischen den Weltkriegen: "Bauwerk und Traumwerk zugleich, mit Heim und Werkstatt, Zitadelle und Akademie, Bibliothek, Konferenz- und Tanzsaal, Salon, Schwimmbassin, Maschinenraum, Restaurant, zentraler Energieversorgung, einer Reihe von Speichern und Kellergewölben und unzähligen anderen rätselhaften Räumen mit ewig verschlossenen Türen - es ist eine Arche, ein Komplex. Der Komplex Europa - hier, in der abgelegensten aller europäischen Regionen, an der Grenze zu Nichteuropa, im exakt ermittelten Zentrum Europas; es ist ein ehemaliges Observatorium, also ein Ort für Beobachtungen, Feststellungen, Betrachtungen - von Engeln vielleicht oder Kometen."
So hat der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch diesen vergessenen Punkt auf der Landkarte in seinem vor zwei Jahren auf deutsch erschienenen Essayband "Das letzte Territorium" beschrieben. Das Buch machte Andruchowytsch, der 1960 geboren wurde, hierzulande auf einen Schlag so bekannt, wie man es als ukrainischer Essayist nur irgend werden kann: Ein Dutzend positiver, teilweise begeisterter Rezensionen erschien und sorgte dafür, daß etwa sechstausend Exemplare verkauft wurden. Aber das änderte wenig daran, daß kaum jemand die Huzulen von ihren Nachbarn, den Ruthenen oder Bojken, unterscheiden konnte oder zur Kenntnis genommen hätte, wo das geographische Zentrum Europas liegt: am Rand nämlich, seit Jahrhunderten am Rand.
Jetzt hat Juri Andruchowytsch die vergessene Mitte des Kontinents ins Zentrum seines Romans gestellt: Er heißt "Zwölf Ringe" und spielt zu großen Teilen in dem ehemaligen Observatorium, das nun den seltsamen Namen "Wirtshaus "Auf dem Mond" trägt, mit drei Anführungszeichen. Aus der Sternwarte, die Churchill der Legende nach für den britischen Aufklärungsdienst einsetzen wollte, war zuerst ein Sportinternat mit einem sadistischen Direktor geworden, der seine Nachwuchssportlerinnen vergewaltigte, bis ihm das Handwerk gelegt wurde. Danach stand das Gebäude jahrzehntelang leer und verrottete.
In diesem Ort der Forschung und des Schreckens, der Beobachtung, des Drills und der Gewalt hat nun Warzabytsch seinen Hauptsitz genommen und ihn zu einer High-Tech-Gespensterburg ausgebaut. Er ist einer jener osteuropäischen Tycoone, die der Zusammenbruch des kommunistischen Systems hervorgebracht hat: ein Oligarch, der alle Fäden zieht, ein Wirtschaftsführer von legendärem Reichtum und mehr als zweifelhaftem Ruf, ein Krimineller, der mehr Macht besitzt als der Staat, dessen alten Strukturen er nur Beachtung schenkt, wo sie ihm nutzen können. Was dies bedeutet, läßt Andruchowytsch eine seiner Figuren beschreiben: "Polizeistaat - das ist, wenn die Polizei zwar allmächtig, gegen das Verbrechen aber machtlos ist".
Auf Einladung dieses obskuren Hausherrn treffen sich hier der österreichische Fotograf Franz-Joseph Zumbrunnen, seine Dolmetscherin und Geliebte Roma Woronytsch, deren Ehemann, der labile Dichter, Trinker und Schürzenjäger Artur Pepa, ihre Tochter Kolomeja, ein Literaturwissenschaftler namens "Professor Doktor", Jartschyk Magierski, Regisseur für Werbespots und Videoclips, sowie Lili und Marleen, zwei junge Ukrainerinnen, eine "gefärbte Brünette" und eine "gebleichte Blondine", halb Schulmädchen, halb Filmsternchen, Fotomodell und Prostituierte.
Anlaß ihres Beisammenseins ist eine Tagung, die der Oligarch, für den der Regisseur einen Werbespot drehen soll, freigebig finanziert. Aber alle Beteiligten haben ihre eigenen Pläne: Zumbrunnen will endlich Roma dazu bewegen, sich von ihrem Mann zu trennen, Kolomeja, gerade achtzehn, lernt die Liebe kennen, und der Professor spricht von nichts anderem als dem ukrainischen Nationaldichter Bohdan-Ihor Antonytsch, einem berühmten Dichter, der für alles steht, was die Ukraine einmal war, hätte sein können und nie geworden ist. Zahllose Legenden ranken sich um den Bohemien, der sich 1937 das Leben nahm, danach aber immer wieder auf den Straßen des Landes gesehen worden sein soll.
Antonytsch ist also gewissermaßen ebenso untot wie ein anderer Bewohner der Karpaten, der ungenannt bleibt und doch von der ersten bis zur letzten Seite durch diesen Roman geistert und mal in die eine, mal in die andere Figur des Buches schlüpft: Es ist Fürst Vlad Tsepes, auch bekannt als Vlad der Pfähler oder als Dracole, der kleine Drache, der im fünfzehnten Jahrhundert seine Untertanen und Widersacher zu Tausenden qualvoll umbringen ließ und zwischen den Leichen der Gepfählten Festmahle abhielt. Zum Vampir wurde er jedoch erst bei Bram Stoker, dessen Roman "Dracula", erschienen 1897, Andruchowytsch immer wieder lustvoll zitiert.
Stokers Roman setzt ein mit den Tagebuchaufzeichnungen eines Westeuropäers, der Transsylvanien bereist und in seinen Notizen die verstörenden Erfahrungen festhält, die er dort macht. Ganz ähnlich hält es Andruchowytsch und zitiert im ersten Kapitel des Romans vor allem aus Briefen des Österreichers Zumbrunnen, der auf seinen ausgedehnten Reisen durch die Ukraine den Wandel des Landes im vergangenen Jahrzehnt aus nächster Nähe erlebt hat, ohne ihn zu begreifen. Wie "Dracula" ein Produkt des Fin de siècle war, so sind auch Andruchowytschs "Zwölf Ringe" das Produkt einer Phase der Transformation, in der Ende und Neubeginn, Zusammenbruch und Grundsteinlegung ununterscheidbar zusammenfallen. Die alte Polizeidiktatur und die Bodyguards und Schlägertrupps der neuen Oligarchen, die vom sowjetischen Regime bis ins Absurde getriebene Huzulenfoklore, die Vorliebe des Hirtenvolks für übersinnliche Phänomene wie etwa die Wahrsagekünste der "Planetnyks", der übermächtige Kunstmythos vom transsylvanischen Schreckensfürsten Dracula und die vielschichtige Figur des pseudoheiligen Nationaldichters Antonytsch - all dies und vieles andere mehr rührt und schüttelt und mischt Andruchowytsch in seinem postmodernen Karpatenroman auf so unbekümmert-kunstvolle Weise zusammen, daß man sich als Leser zuweilen fühlt wie ein Eiswürfel in einem Cocktailshaker - aber der Widerstand schmilzt mit jeder neuen Bewegung aus des Autors Handgelenk, bis Andruchowytsch das Schlußkapitel mit Eleganz und Grandezza in hohem Bogen einschenkt.
Auf den letzten dreißig Seiten hebt dieser Roman ab, denn Franz-Joseph Zumbrunnen, Fotograf aus Wien mit galizischen Wurzeln und Autor mehrerer Bildbände über die Ukraine, erhebt sich in die Lüfte. Vor seiner postumen Rückkehr nach Wien geschieht allerdings noch eine ganze Menge: Während der Fotograf vergeblich um Roma kämpft und sich sogar ein Duell mit Artur liefert, erfährt Kolomeja nach und nach, worin die Bedeutung der zwölf Ringe besteht, die Antonytsch ebenso in einem Gedicht besungen hat wie das "Wirthaus "Auf dem Mond". Der Regisseur dreht sein Video, eine durchgeknallte huzulische Blocksberg-Orgie, und fällt schließlich ebenso einem zufälligen Gewaltverbrechen zum Opfer wie Zumbrunnen, den ein groteskes Mißverständnis das Leben kostet. Letztlich muß Zumbrunnen sterben, weil er sich in der fremden Sprache nicht verständlich machen kann. Der Verdacht fällt indes auf Artur und seine Frau Roma, die von brutalen Milizionären verhaftet werden, die auf der Lohnliste des Tycoons Warzabytsch stehen.
Es ist ein absurder Tanz, leicht wie die Liebe und schwer wie ein Albtraum, den dieser Roman mit immer wieder neuen und überraschenden Volten und Perspektivwechseln vollführt, anspielungsreich, metafiktional und auf eine Weise postmodern verschachtelt und gebrochen, die westliche Leser an manche Bücher der achtziger Jahre erinnern mag, von Coover und Barthelme bis Calvino. Daß die ukrainische Postmoderne, der Andruchowytsch einen Essay gewidmet hat, alles andere als ein Aufguß des im Westen Altbekannten ist, hat mit der Melodie zu tun, nach der dieser Autor seine Figuren tanzen läßt.
Die Musik, so schrieb Andruchowytsch vor zwei Jahren in seinen Essays, sei vielleicht das einzig Reale in der "Traumstruktur" Mitteleuropas. "Zweifellos gäbe es diese Musik nicht, wenn die Karpaten nicht wären. Auch eine umgekehrte Abhängigkeit ist denkbar: Die Karpaten gäbe es nicht, wenn diese Musik nicht wäre." Nun muß man wissen, daß die Huzulen glauben, daß die meisten Musikinstrumente eine Erfindung des Teufels waren, Gott hat nur ein einziges beigesteuert, die eher langweilige Trembita, eine Art Karpatenhorn, das ähnlich wie in den Alpen auch zur Nachrichtenübermittlung diente.
Aber während Gott fern ist und der Teufel in der Hölle darauf wartet, daß die Ostereier nicht mehr bemalt werden, sind die Boten Satans überall. Sie kommen des Nachts und geben den Menschen schwere Träume ein - eine andere Art von Wirklichkeit, oft vom täglichen Leben nicht zu unterscheiden. Es ist ein Magischer Realismus ukrainischer Prägung, den Juri Andruchowytsch hier entwickelt, um drastisch und poetisch ein Bild des Zustands zu vermitteln, in dem sich sein Heimatland heute befindet.
Auch der Rückflug Zumbrunnens aus Transsylvanien nach Wien schillert vieldeutig. Wie Dracula flieht der ermordete Fotograf vor dem Tageslicht, und wie ein Bote des Teufels wird er auf dem "Donau-Engelskorridor", einer vielgenutzten Luftroute, immer wieder aufgehalten. Am Ende steht Zumbrunnen vor einer Himmelspforte, die ins Paradies führen könnte, in die Hölle oder auch auf den Mond, wo der liebeskranke Dichter Antonytsch ein Wirtshaus vermutete. Seit Ariosts "Rasendem Roland" wissen wir, daß der Verstand, der aus Liebe verlorengeht, in Krügen auf dem blassen Trabanten verwahrt wird. Man bräuchte ein Raumschiff, um ihn zurückzuholen - oder einen Dichter. In Juri Andruchowytsch haben wir einen, denn es ist ihm gelungen, den Mond auf eine Bergspitze in den Karpaten zu bannen.
Juri Andruchowytsch: "Zwölf Ringe". Roman. Aus dem Ukrainischen übersetzt von Sabine Stöhr. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 299 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Leicht wie die Liebe und schwer wie ein Albtraum: "Zwölf Ringe", Juri Andruchowytschs glanzvoller Roman aus dem vergessenen Zentrum Europas
Über die Huzulen könnte man uns viel erzählen. Zum Beispiel, daß in ihren Dörfern die Zahl der Geisterbeschwörer und Hagelbanner groß und die Angst der Bewohner vor Hexen und Dämonen noch größer ist. Man könnte uns berichten, daß den Huzulen das Weihnachtsfest besonders heilig ist und sie dennoch am ersten Weihnachtstag nicht in die Kirche gehen. Denn sie wissen genau, daß die Hexen in den umliegenden Wäldern nur auf den Kirchgang der Bauern warten, um ihre Wölfe auf die Viehherden zu hetzen.
Die Huzulen wissen überhaupt vieles recht genau. Unerschütterlich beharren sie darauf, daß der Teufel nur so lange in der Hölle an der Kette bleibt, wie Weihnachten und Ostern feierlich begangen, Ostereier bemalt und die Ahnen verehrt werden. Regelmäßig schickt Satan seine Boten auf die Erde, um zu erfahren, ob die Menschen noch die Feiertage einhalten. Falls dies nicht geschieht, wird er sich befreien, und das Ende der Welt wäre gekommen.
Wie lebt es sich wohl in einem Land, dessen Fortbestand davon abhängt, daß die Eier zu Ostern ordentlich bemalt werden? Nicht allzu gut, wenn wir den aktuellen Nachrichten Glauben schenken. Denn die Heimat der Huzulen, Huzulschtschyna genannt, gehört heute zu einem Land, dessen Bewohner frech darauf bestehen, daß ihre demokratischen Wahlentscheidungen auch Folgen in der politischen Realität ihrer Heimat haben, und die in ihrem Drang nach Freiheit und Wohlstand nicht einmal davor zurückschrecken, den deutschen Außenminister in Schwierigkeiten zu bringen. Kurzum, die Heimat der Huzulen gehört zur Ukraine, genauer gesagt, umfaßt sie ein Grenzgebiet zwischen der Ukraine und Rumänien in den Waldkarpaten, etwa 150 Quadratkilometer groß, bewohnt von derzeit etwa sechzigtausend Menschen.
Hier steht ein sonderbares Gebäude, errichtet zwischen den Weltkriegen: "Bauwerk und Traumwerk zugleich, mit Heim und Werkstatt, Zitadelle und Akademie, Bibliothek, Konferenz- und Tanzsaal, Salon, Schwimmbassin, Maschinenraum, Restaurant, zentraler Energieversorgung, einer Reihe von Speichern und Kellergewölben und unzähligen anderen rätselhaften Räumen mit ewig verschlossenen Türen - es ist eine Arche, ein Komplex. Der Komplex Europa - hier, in der abgelegensten aller europäischen Regionen, an der Grenze zu Nichteuropa, im exakt ermittelten Zentrum Europas; es ist ein ehemaliges Observatorium, also ein Ort für Beobachtungen, Feststellungen, Betrachtungen - von Engeln vielleicht oder Kometen."
So hat der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch diesen vergessenen Punkt auf der Landkarte in seinem vor zwei Jahren auf deutsch erschienenen Essayband "Das letzte Territorium" beschrieben. Das Buch machte Andruchowytsch, der 1960 geboren wurde, hierzulande auf einen Schlag so bekannt, wie man es als ukrainischer Essayist nur irgend werden kann: Ein Dutzend positiver, teilweise begeisterter Rezensionen erschien und sorgte dafür, daß etwa sechstausend Exemplare verkauft wurden. Aber das änderte wenig daran, daß kaum jemand die Huzulen von ihren Nachbarn, den Ruthenen oder Bojken, unterscheiden konnte oder zur Kenntnis genommen hätte, wo das geographische Zentrum Europas liegt: am Rand nämlich, seit Jahrhunderten am Rand.
Jetzt hat Juri Andruchowytsch die vergessene Mitte des Kontinents ins Zentrum seines Romans gestellt: Er heißt "Zwölf Ringe" und spielt zu großen Teilen in dem ehemaligen Observatorium, das nun den seltsamen Namen "Wirtshaus "Auf dem Mond" trägt, mit drei Anführungszeichen. Aus der Sternwarte, die Churchill der Legende nach für den britischen Aufklärungsdienst einsetzen wollte, war zuerst ein Sportinternat mit einem sadistischen Direktor geworden, der seine Nachwuchssportlerinnen vergewaltigte, bis ihm das Handwerk gelegt wurde. Danach stand das Gebäude jahrzehntelang leer und verrottete.
In diesem Ort der Forschung und des Schreckens, der Beobachtung, des Drills und der Gewalt hat nun Warzabytsch seinen Hauptsitz genommen und ihn zu einer High-Tech-Gespensterburg ausgebaut. Er ist einer jener osteuropäischen Tycoone, die der Zusammenbruch des kommunistischen Systems hervorgebracht hat: ein Oligarch, der alle Fäden zieht, ein Wirtschaftsführer von legendärem Reichtum und mehr als zweifelhaftem Ruf, ein Krimineller, der mehr Macht besitzt als der Staat, dessen alten Strukturen er nur Beachtung schenkt, wo sie ihm nutzen können. Was dies bedeutet, läßt Andruchowytsch eine seiner Figuren beschreiben: "Polizeistaat - das ist, wenn die Polizei zwar allmächtig, gegen das Verbrechen aber machtlos ist".
Auf Einladung dieses obskuren Hausherrn treffen sich hier der österreichische Fotograf Franz-Joseph Zumbrunnen, seine Dolmetscherin und Geliebte Roma Woronytsch, deren Ehemann, der labile Dichter, Trinker und Schürzenjäger Artur Pepa, ihre Tochter Kolomeja, ein Literaturwissenschaftler namens "Professor Doktor", Jartschyk Magierski, Regisseur für Werbespots und Videoclips, sowie Lili und Marleen, zwei junge Ukrainerinnen, eine "gefärbte Brünette" und eine "gebleichte Blondine", halb Schulmädchen, halb Filmsternchen, Fotomodell und Prostituierte.
Anlaß ihres Beisammenseins ist eine Tagung, die der Oligarch, für den der Regisseur einen Werbespot drehen soll, freigebig finanziert. Aber alle Beteiligten haben ihre eigenen Pläne: Zumbrunnen will endlich Roma dazu bewegen, sich von ihrem Mann zu trennen, Kolomeja, gerade achtzehn, lernt die Liebe kennen, und der Professor spricht von nichts anderem als dem ukrainischen Nationaldichter Bohdan-Ihor Antonytsch, einem berühmten Dichter, der für alles steht, was die Ukraine einmal war, hätte sein können und nie geworden ist. Zahllose Legenden ranken sich um den Bohemien, der sich 1937 das Leben nahm, danach aber immer wieder auf den Straßen des Landes gesehen worden sein soll.
Antonytsch ist also gewissermaßen ebenso untot wie ein anderer Bewohner der Karpaten, der ungenannt bleibt und doch von der ersten bis zur letzten Seite durch diesen Roman geistert und mal in die eine, mal in die andere Figur des Buches schlüpft: Es ist Fürst Vlad Tsepes, auch bekannt als Vlad der Pfähler oder als Dracole, der kleine Drache, der im fünfzehnten Jahrhundert seine Untertanen und Widersacher zu Tausenden qualvoll umbringen ließ und zwischen den Leichen der Gepfählten Festmahle abhielt. Zum Vampir wurde er jedoch erst bei Bram Stoker, dessen Roman "Dracula", erschienen 1897, Andruchowytsch immer wieder lustvoll zitiert.
Stokers Roman setzt ein mit den Tagebuchaufzeichnungen eines Westeuropäers, der Transsylvanien bereist und in seinen Notizen die verstörenden Erfahrungen festhält, die er dort macht. Ganz ähnlich hält es Andruchowytsch und zitiert im ersten Kapitel des Romans vor allem aus Briefen des Österreichers Zumbrunnen, der auf seinen ausgedehnten Reisen durch die Ukraine den Wandel des Landes im vergangenen Jahrzehnt aus nächster Nähe erlebt hat, ohne ihn zu begreifen. Wie "Dracula" ein Produkt des Fin de siècle war, so sind auch Andruchowytschs "Zwölf Ringe" das Produkt einer Phase der Transformation, in der Ende und Neubeginn, Zusammenbruch und Grundsteinlegung ununterscheidbar zusammenfallen. Die alte Polizeidiktatur und die Bodyguards und Schlägertrupps der neuen Oligarchen, die vom sowjetischen Regime bis ins Absurde getriebene Huzulenfoklore, die Vorliebe des Hirtenvolks für übersinnliche Phänomene wie etwa die Wahrsagekünste der "Planetnyks", der übermächtige Kunstmythos vom transsylvanischen Schreckensfürsten Dracula und die vielschichtige Figur des pseudoheiligen Nationaldichters Antonytsch - all dies und vieles andere mehr rührt und schüttelt und mischt Andruchowytsch in seinem postmodernen Karpatenroman auf so unbekümmert-kunstvolle Weise zusammen, daß man sich als Leser zuweilen fühlt wie ein Eiswürfel in einem Cocktailshaker - aber der Widerstand schmilzt mit jeder neuen Bewegung aus des Autors Handgelenk, bis Andruchowytsch das Schlußkapitel mit Eleganz und Grandezza in hohem Bogen einschenkt.
Auf den letzten dreißig Seiten hebt dieser Roman ab, denn Franz-Joseph Zumbrunnen, Fotograf aus Wien mit galizischen Wurzeln und Autor mehrerer Bildbände über die Ukraine, erhebt sich in die Lüfte. Vor seiner postumen Rückkehr nach Wien geschieht allerdings noch eine ganze Menge: Während der Fotograf vergeblich um Roma kämpft und sich sogar ein Duell mit Artur liefert, erfährt Kolomeja nach und nach, worin die Bedeutung der zwölf Ringe besteht, die Antonytsch ebenso in einem Gedicht besungen hat wie das "Wirthaus "Auf dem Mond". Der Regisseur dreht sein Video, eine durchgeknallte huzulische Blocksberg-Orgie, und fällt schließlich ebenso einem zufälligen Gewaltverbrechen zum Opfer wie Zumbrunnen, den ein groteskes Mißverständnis das Leben kostet. Letztlich muß Zumbrunnen sterben, weil er sich in der fremden Sprache nicht verständlich machen kann. Der Verdacht fällt indes auf Artur und seine Frau Roma, die von brutalen Milizionären verhaftet werden, die auf der Lohnliste des Tycoons Warzabytsch stehen.
Es ist ein absurder Tanz, leicht wie die Liebe und schwer wie ein Albtraum, den dieser Roman mit immer wieder neuen und überraschenden Volten und Perspektivwechseln vollführt, anspielungsreich, metafiktional und auf eine Weise postmodern verschachtelt und gebrochen, die westliche Leser an manche Bücher der achtziger Jahre erinnern mag, von Coover und Barthelme bis Calvino. Daß die ukrainische Postmoderne, der Andruchowytsch einen Essay gewidmet hat, alles andere als ein Aufguß des im Westen Altbekannten ist, hat mit der Melodie zu tun, nach der dieser Autor seine Figuren tanzen läßt.
Die Musik, so schrieb Andruchowytsch vor zwei Jahren in seinen Essays, sei vielleicht das einzig Reale in der "Traumstruktur" Mitteleuropas. "Zweifellos gäbe es diese Musik nicht, wenn die Karpaten nicht wären. Auch eine umgekehrte Abhängigkeit ist denkbar: Die Karpaten gäbe es nicht, wenn diese Musik nicht wäre." Nun muß man wissen, daß die Huzulen glauben, daß die meisten Musikinstrumente eine Erfindung des Teufels waren, Gott hat nur ein einziges beigesteuert, die eher langweilige Trembita, eine Art Karpatenhorn, das ähnlich wie in den Alpen auch zur Nachrichtenübermittlung diente.
Aber während Gott fern ist und der Teufel in der Hölle darauf wartet, daß die Ostereier nicht mehr bemalt werden, sind die Boten Satans überall. Sie kommen des Nachts und geben den Menschen schwere Träume ein - eine andere Art von Wirklichkeit, oft vom täglichen Leben nicht zu unterscheiden. Es ist ein Magischer Realismus ukrainischer Prägung, den Juri Andruchowytsch hier entwickelt, um drastisch und poetisch ein Bild des Zustands zu vermitteln, in dem sich sein Heimatland heute befindet.
Auch der Rückflug Zumbrunnens aus Transsylvanien nach Wien schillert vieldeutig. Wie Dracula flieht der ermordete Fotograf vor dem Tageslicht, und wie ein Bote des Teufels wird er auf dem "Donau-Engelskorridor", einer vielgenutzten Luftroute, immer wieder aufgehalten. Am Ende steht Zumbrunnen vor einer Himmelspforte, die ins Paradies führen könnte, in die Hölle oder auch auf den Mond, wo der liebeskranke Dichter Antonytsch ein Wirtshaus vermutete. Seit Ariosts "Rasendem Roland" wissen wir, daß der Verstand, der aus Liebe verlorengeht, in Krügen auf dem blassen Trabanten verwahrt wird. Man bräuchte ein Raumschiff, um ihn zurückzuholen - oder einen Dichter. In Juri Andruchowytsch haben wir einen, denn es ist ihm gelungen, den Mond auf eine Bergspitze in den Karpaten zu bannen.
Juri Andruchowytsch: "Zwölf Ringe". Roman. Aus dem Ukrainischen übersetzt von Sabine Stöhr. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 299 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Völlig mitgerissen zeigt sich Ilma Rakusa von diesem Roman des im Westen bisher vor allem als Essayist bekannt gewordenen Autors Jurij Andruchowytsch. Die Handlung, räumt sie ein, ist allerdings ein bisschen schwer wiederzugeben, genauer gesagt: Die Geschichte vom Fotografen Karl-Josef Zumbrunnen, der dem Ruf der "rätselhaft- ruinösen Ukraine" und "seiner anziehend-tollpatschigen Geliebten Roma" folgt und in einem Hotel mit dem schönen Namen "Wirtshaus auf dem Mond" landet, wirke nacherzählt ein wenig trivial. Es geht aber, so Rakusa, weniger um diese Handlungslinie als um die verschlungenen Abschweifungen, die faszinierenden Nebenfiguren, die hinreißenden Wortspiele und die überbordenden "literarischen (und anderen) Anspielungen". Man sieht: Die Rezensentin ist begeistert, und zwar ohne jede Einschränkung.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Der Sprachrausch, in den sich der ukrainische Autor schreibt, führt im Zickzack voran. Doch mit der traumwandlerischen Sicherheit des Berauschten findet Andruchowytsch stets wieder seine Linie und für Zwölf Ringe ein grandioses Finale.«
Die Presse
Die Presse