Eigentlich wollte der namenlose Held in Rózyckis Roman doch nur wieder einmal seine alte Großmutter besuchen, in dem kleinen Opole, in der polnischen Provinz. Doch so ein Besuch hat seine Tücken. So leicht entkommt man den kauzigen Hausbewohnern und der Einladung zur ausladenden Piroggen-Verköstigung nicht. Und ehe er sich versieht, ist er für einen ungewöhnlichen Auftrag auserkoren: Er soll die in ganz Polen verstreute Verwandtschaft zusammentrommeln, um noch einmal in die Heimat zurückzukehren, aus der sie vor einem halben Jahrhundert vertrieben worden sind.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2009Jede Provinz hat ihren eigenen Mief
Die Sehnsucht der Vertriebenen nach dem Reich der Poesie: Der polnische Dichter Tomasz Rózycki knüpft in seinem furiosen Versepos "Zwölf Stationen" an die polnischen Klassiker der Weltliteratur an und erschafft so ein sehr modernes Stück Heimatliteratur.
Tiefgefroren und in Papier eingewickelt hat die Großmutter ihrem Enkel das tote Tier mit auf die Reise gegeben. Doch durch die Temperatur im vollbesetzten Zug und die Vergesslichkeit des Nachgeborenen entwickelt die Wegzehrung ein verhängnisvolles Eigenleben. Bestialischer Gestank breitet sich aus. Aber woher? Der Enkel beschnuppert seine Schuhe, die Kleidung und, allmählich panisch werdend, seine Haut. Die Wolke, die ihn umhüllt, macht ihn zum Aussätzigen unter den Mitreisenden. Erst beim Durchsuchen des Rucksacks wird klar, welche Vergangenheit den Vergesslichen hier einholt. Ein Bild des polnischen Autors Tomasz Rózycki: Der tote Fisch ist die Geschichte, die sich, einmal aus den Augen verloren, jederzeit wiederholen kann - als Farce, als Stinkbombe.
Rózycki wurde 1970 im oberschlesischen Oppeln geboren, ist Übersetzer, Romanist und, zumindest in seiner Generation, der wichtigste Dichter seines Landes. Und endlich nun auch hier zu lesen: Olaf Kühl hat seine "Zwölf Stationen", eine lyrische Prosa auf knapp 200 Seiten, einfühlsam ins Deutsche übertragen. Dieser Autor sucht seine Bezüge bei jener Sorte Weltliteratur, die einmal auch aus Polen kam. Unverkennbar ist der Einfluss von Witold Gombrowiczs "Trans-Atlantik", einem böse-spöttischen Antiheimatroman. Auch das große Versepos der polnischen Literatur, Adam Mickiewiczs "Pan Tadeusz" von 1834, stand den "Zwölf Stationen" zumindest in formaler Hinsicht Pate.
Rózyckis Buch ist aber nicht bloß dem kleinen Kreis der Lyrik-Freunde zu empfehlen. In Versform gesetzt, lässt es sich trotzdem auch als flüssiger Prosatext lesen, der auf aberwitzige Weise und mit halluzinogenen Bildern in Abgründe führt. Der tote, aufgetaute Fisch ist dafür ein besonders derbes Beispiel. Endlich im Mülleimer eines Provinzbahnhofs entsorgt, richtet er durch seinen immer stärker werdenden Gestank ein Szenario an wie im Katastrophenfilm. Der toxische Dunst verbreitet sich gleich einer Gottesplage. Dorfbewohner geraten in Panik, trampeln flüchtend Zäune nieder, Tiere sterben, eine ganze Landschaft wird durch die Biowaffe verwüstet. Erst der nicht minder beizende Gestank eines Milchhofs gebietet Einhalt. Luftschichten reiben sich, ein Tornado entsteht, dann ein reinigendes Gewitter: Jede Provinz hat scheinbar ihren Mief, jede Geschichte ihre Aura. Rózyckis Vision des Geschichtswandels im postsozialistischen Polen ist eine Erzählung abseits aller Erklärungen; die sinnlich überladenen Bilder dieses Autors fügen sich souverän in die Tradition der großen surrealen Naturbeschreibungen der polnischen Literatur.
Erzählt wird die Geschichte einer Familie von "Repatrianten" aus der Gegend um Lemberg, die Züge von Rózyckis eigener Familiengeschichte trägt. Infolge der Westverschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Tausende Menschen aus den östlichen Marken ins Oppelner Land umgesiedelt und zogen dort nicht selten in jene Häuser ein, die die deutsche Bevölkerung unter dem Druck der neuen Machthaber erst gerade hatte verlassen müssen. Die neue Umgebung bleibt den Zugezogenen auf Jahrzehnte fremd, sie verschanzen sich in einer Welt der Erinnerung ans gelobte Land ihrer Kindheit und pflegen neben den alten landwirtschaftlichen Methoden auch Lieder und die hohe Kunst der Zubereitung von Piroggen. Lemberg, Lwów, das ist für sie stets jenes überirdische, nicht fassbare Land der Legenden und des Glücks, aber auch des Grauens und der Vertreibung aus dem Paradies.
In "Zwölf Stationen" malt sich Tomasz Rózycki jene Rückkehr in die Heimat aus, die die Älteren sich immer gewünscht haben. Der "Enkel", dessen Name wir nicht erfahren, wird von seiner Tante vor eine nahezu unlösbare Aufgabe gestellt: Er soll die in alle Winde zerstreuten Familienmitglieder aufsuchen und auf eine Fahrt in die Ukraine mitnehmen. Dort nämlich liegt heute das Dorf Gliniany, in dem Tante und Großmutter einst getauft wurden und dessen Kirchenruine es nun mit Spenden zu renovieren gilt. Dann soll die Tante die Präsidenten von Polen und der Ukraine nach Gliniany einladen, auf dass diese das Versöhnungswerk bestaunen können. Dass diese Mission am Ende zum Scheitern verurteilt ist, darf hier verraten werden. Die Suche nach den Verwandten wird dem Enkel zur Reise in die eigene Kindheit. Er gerät tief hinein in ein einzigartiges Gemisch aus ostpolnischer, schlesischer und deutscher Kultur. Rózycki ist aber kein realistischer Erzähler. Seine große Kunst besteht darin, das Ländliche und Handfeste, das seinem Protagonisten überall begegnet, in eine neue poetische Ordnung der Dinge zu überführen.
Einzelne Passagen erinnern an Reiseberichte des zwölften Jahrhunderts, in denen neben Kamelen, Flusspferden und roten Löwen gleichberechtigt auch Vampire, Faune, Satyrn und gehörnte Menschen aufgeführt wurden. Bei Rózycki sind es die "Hühnerställe der Phantasie", in denen sich "manchmal ein Bilwitz" zeigt, "manchmal eine blinde Vettel, manchmal ein Feiglaps, / im Sommer ein Wippsterz, eine Kruke und ein Taperlake. (...) und dank der Lecktrifizierung gediehen hier außerdem / ganze Herden von Kaninchen, Schweinen, Nutria, Milzbrand / und Staphylokokken".
Wie einer epidemischen Krankheit lässt dieser Dichter seiner Phantasie die Zügel schießen: Wörter und Bilder infizieren sich gegenseitig, sie verlieren ihren Bezug zur Realität und bringen eine neue hervor, die Abschaffung der Arten inklusive. So ist auch der Ameisenstaat, dem Rózycki seinen Protagonisten immer wieder begegnen lässt, wie schon bei Maurice Maeterlinck kein zoologisches Phänomen, sondern ein Geschichtsbild: "Die Ameisen begannen, ihre Nester an den Stellen / wieder einzurichten, die ihnen einst von den Mistkäfern, / den Beeten der Mohrrüben, Petersilie und Zwiebeln / abspenstig gemacht worden waren. Langsam stand das Land / wieder auf aus Ruinen, wuchsen Festungen meterlanger Korridore, / die das Zentrum mit den entlegensten Provinzen verbanden."
Wie instabil und porös ist aber dieses neu errichtete Reich, wie anfällig die neue politische Ordnung voller irrlichternder Erinnerungen an die vergangenen Schrecken - die Geschichte, das weiß Rózycki, dieser erst neununddreißigjährige polnische Lyriker, ist ein toter Fisch. Mit seinen "Zwölf Stationen" ist ihm ein grandioses Stück Heimatliteratur gelungen - nur dass die Grenzen dieser Heimat nicht die Grenzen Polens sind. Rózycki sollten alle lesen.
STEFANIE PETER
Tomasz Rózycki: "Zwölf Stationen". Poem. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Luchterhand Literaturverlag, München 2009. 173 S., br., 7,- [Euro].
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Die Sehnsucht der Vertriebenen nach dem Reich der Poesie: Der polnische Dichter Tomasz Rózycki knüpft in seinem furiosen Versepos "Zwölf Stationen" an die polnischen Klassiker der Weltliteratur an und erschafft so ein sehr modernes Stück Heimatliteratur.
Tiefgefroren und in Papier eingewickelt hat die Großmutter ihrem Enkel das tote Tier mit auf die Reise gegeben. Doch durch die Temperatur im vollbesetzten Zug und die Vergesslichkeit des Nachgeborenen entwickelt die Wegzehrung ein verhängnisvolles Eigenleben. Bestialischer Gestank breitet sich aus. Aber woher? Der Enkel beschnuppert seine Schuhe, die Kleidung und, allmählich panisch werdend, seine Haut. Die Wolke, die ihn umhüllt, macht ihn zum Aussätzigen unter den Mitreisenden. Erst beim Durchsuchen des Rucksacks wird klar, welche Vergangenheit den Vergesslichen hier einholt. Ein Bild des polnischen Autors Tomasz Rózycki: Der tote Fisch ist die Geschichte, die sich, einmal aus den Augen verloren, jederzeit wiederholen kann - als Farce, als Stinkbombe.
Rózycki wurde 1970 im oberschlesischen Oppeln geboren, ist Übersetzer, Romanist und, zumindest in seiner Generation, der wichtigste Dichter seines Landes. Und endlich nun auch hier zu lesen: Olaf Kühl hat seine "Zwölf Stationen", eine lyrische Prosa auf knapp 200 Seiten, einfühlsam ins Deutsche übertragen. Dieser Autor sucht seine Bezüge bei jener Sorte Weltliteratur, die einmal auch aus Polen kam. Unverkennbar ist der Einfluss von Witold Gombrowiczs "Trans-Atlantik", einem böse-spöttischen Antiheimatroman. Auch das große Versepos der polnischen Literatur, Adam Mickiewiczs "Pan Tadeusz" von 1834, stand den "Zwölf Stationen" zumindest in formaler Hinsicht Pate.
Rózyckis Buch ist aber nicht bloß dem kleinen Kreis der Lyrik-Freunde zu empfehlen. In Versform gesetzt, lässt es sich trotzdem auch als flüssiger Prosatext lesen, der auf aberwitzige Weise und mit halluzinogenen Bildern in Abgründe führt. Der tote, aufgetaute Fisch ist dafür ein besonders derbes Beispiel. Endlich im Mülleimer eines Provinzbahnhofs entsorgt, richtet er durch seinen immer stärker werdenden Gestank ein Szenario an wie im Katastrophenfilm. Der toxische Dunst verbreitet sich gleich einer Gottesplage. Dorfbewohner geraten in Panik, trampeln flüchtend Zäune nieder, Tiere sterben, eine ganze Landschaft wird durch die Biowaffe verwüstet. Erst der nicht minder beizende Gestank eines Milchhofs gebietet Einhalt. Luftschichten reiben sich, ein Tornado entsteht, dann ein reinigendes Gewitter: Jede Provinz hat scheinbar ihren Mief, jede Geschichte ihre Aura. Rózyckis Vision des Geschichtswandels im postsozialistischen Polen ist eine Erzählung abseits aller Erklärungen; die sinnlich überladenen Bilder dieses Autors fügen sich souverän in die Tradition der großen surrealen Naturbeschreibungen der polnischen Literatur.
Erzählt wird die Geschichte einer Familie von "Repatrianten" aus der Gegend um Lemberg, die Züge von Rózyckis eigener Familiengeschichte trägt. Infolge der Westverschiebung Polens nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Tausende Menschen aus den östlichen Marken ins Oppelner Land umgesiedelt und zogen dort nicht selten in jene Häuser ein, die die deutsche Bevölkerung unter dem Druck der neuen Machthaber erst gerade hatte verlassen müssen. Die neue Umgebung bleibt den Zugezogenen auf Jahrzehnte fremd, sie verschanzen sich in einer Welt der Erinnerung ans gelobte Land ihrer Kindheit und pflegen neben den alten landwirtschaftlichen Methoden auch Lieder und die hohe Kunst der Zubereitung von Piroggen. Lemberg, Lwów, das ist für sie stets jenes überirdische, nicht fassbare Land der Legenden und des Glücks, aber auch des Grauens und der Vertreibung aus dem Paradies.
In "Zwölf Stationen" malt sich Tomasz Rózycki jene Rückkehr in die Heimat aus, die die Älteren sich immer gewünscht haben. Der "Enkel", dessen Name wir nicht erfahren, wird von seiner Tante vor eine nahezu unlösbare Aufgabe gestellt: Er soll die in alle Winde zerstreuten Familienmitglieder aufsuchen und auf eine Fahrt in die Ukraine mitnehmen. Dort nämlich liegt heute das Dorf Gliniany, in dem Tante und Großmutter einst getauft wurden und dessen Kirchenruine es nun mit Spenden zu renovieren gilt. Dann soll die Tante die Präsidenten von Polen und der Ukraine nach Gliniany einladen, auf dass diese das Versöhnungswerk bestaunen können. Dass diese Mission am Ende zum Scheitern verurteilt ist, darf hier verraten werden. Die Suche nach den Verwandten wird dem Enkel zur Reise in die eigene Kindheit. Er gerät tief hinein in ein einzigartiges Gemisch aus ostpolnischer, schlesischer und deutscher Kultur. Rózycki ist aber kein realistischer Erzähler. Seine große Kunst besteht darin, das Ländliche und Handfeste, das seinem Protagonisten überall begegnet, in eine neue poetische Ordnung der Dinge zu überführen.
Einzelne Passagen erinnern an Reiseberichte des zwölften Jahrhunderts, in denen neben Kamelen, Flusspferden und roten Löwen gleichberechtigt auch Vampire, Faune, Satyrn und gehörnte Menschen aufgeführt wurden. Bei Rózycki sind es die "Hühnerställe der Phantasie", in denen sich "manchmal ein Bilwitz" zeigt, "manchmal eine blinde Vettel, manchmal ein Feiglaps, / im Sommer ein Wippsterz, eine Kruke und ein Taperlake. (...) und dank der Lecktrifizierung gediehen hier außerdem / ganze Herden von Kaninchen, Schweinen, Nutria, Milzbrand / und Staphylokokken".
Wie einer epidemischen Krankheit lässt dieser Dichter seiner Phantasie die Zügel schießen: Wörter und Bilder infizieren sich gegenseitig, sie verlieren ihren Bezug zur Realität und bringen eine neue hervor, die Abschaffung der Arten inklusive. So ist auch der Ameisenstaat, dem Rózycki seinen Protagonisten immer wieder begegnen lässt, wie schon bei Maurice Maeterlinck kein zoologisches Phänomen, sondern ein Geschichtsbild: "Die Ameisen begannen, ihre Nester an den Stellen / wieder einzurichten, die ihnen einst von den Mistkäfern, / den Beeten der Mohrrüben, Petersilie und Zwiebeln / abspenstig gemacht worden waren. Langsam stand das Land / wieder auf aus Ruinen, wuchsen Festungen meterlanger Korridore, / die das Zentrum mit den entlegensten Provinzen verbanden."
Wie instabil und porös ist aber dieses neu errichtete Reich, wie anfällig die neue politische Ordnung voller irrlichternder Erinnerungen an die vergangenen Schrecken - die Geschichte, das weiß Rózycki, dieser erst neununddreißigjährige polnische Lyriker, ist ein toter Fisch. Mit seinen "Zwölf Stationen" ist ihm ein grandioses Stück Heimatliteratur gelungen - nur dass die Grenzen dieser Heimat nicht die Grenzen Polens sind. Rózycki sollten alle lesen.
STEFANIE PETER
Tomasz Rózycki: "Zwölf Stationen". Poem. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Luchterhand Literaturverlag, München 2009. 173 S., br., 7,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Heimatliteratur, grenzenlos und grandios. So sieht Rezensentin Stefanie Peter das vorliegende Versepos des jungen Autors Tomasz Rozycki, den sie für den wichtigsten polnischen Dichter seiner Generation hält. Ein Glück, dass die Verse so "einfühlsam" von Olaf Kühl ins Deutsche übertragen wurden. Peter kommt so in den Genuss einer lyrischen Prosa, die Bezüge zu Gombrowiczs und Mickiewiczs hat und "souverän" die Tradition großer surrealer Naturbeschreibung fortsetzt. Peter folgt dem Autor und seinen Figuren zurück nach Lemberg, ins Land der Legenden und der Vertreibung, in ein Gemisch der Kulturen, dem Rozycki seine eigene poetische Ordnung verleiht. Ähnlich wie in den fantastischen Reiseberichten des 12. Jahrhunderts begegnet Peter hier Fabelwesen, Wippsterzen, Kruken und Taperlaken und "irrlichternden Erinnerungen" an vergangene Schrecken. "Rozycki sollten alle lesen", ruft sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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