Am Sterbebett seiner Schwiegermutter erfährt Ippolit Worobjaninow deren wohlgehütetes Geheimnis: In einem von zwölf Stühlen aus dem alten Esszimmer der Familie hat sie ihre Juwelen versteckt. Wenn Worobjaninow den Schatz findet, ist endlich Schluss mit dem armseligen Provinzdasein, das er seit der Revolution führen muss. Besessen von süßen Zukunftsträumen begibt sich der ehemalige Adelsmarschall und heutige Standesbeamte auf die Suche. Schon bald begegnet er einem Konkurrenten: Väterchen Fjodor, der gewitzte Pope, hat der Sterbenden ebenfalls das Geheimnis entlockt und sich sofort auf die Jagd gemacht. Dritter im Bunde ist Ostap Bender ein kleiner Gauner, der Worobjaninow seine Dienste anbietet und ihn fortwährend übers Ohr haut. Die drei hetzen von Stuhl zu Stuhl, durchqueren halb Russland und werden in die amüsantesten Turbulenzen verwickelt. Die weltberühmte und mehrmals verfilmte Gaunerkomödie erschien erstmals 1928, allerdings verstümmelt durch die sowjetische Zensur. Die n un vorliegende Neuübersetzung der Zwölf Stühle folgt erstmals dem Originalmanuskript und ist kommentiert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.06.2001Wo ist der Familienschmuck?
Schelmenroman: "Zwölf Stühle" von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow
Es gibt Bücher, die man als alte Bekannte begrüßt. Wir wundern uns, wo sie so lange gewesen, erinnern uns heiterer Stunden und wollen alles über ihr Schicksal wissen. Zu diesen Büchern zählt, für mich wenigstens, Ilja Ilfs und Jewgeni Petrows Roman "Zwölf Stühle", eine sowjetische Spitzbuben- und Gaunergeschichte, einzig in ihrer Art, in Rußland ein moderner Klassiker. Sie wurde in fünfzehn Sprachen übersetzt und siebenmal verfilmt, zweimal in Rußland, in Österreich, Kuba und zuletzt Anfang der achtziger Jahre in Hollywood, von und mit Mel Brooks.
Ilf und Petrow, die beide aus Odessa stammten, hatten ihre eigenen Gründe, als Autorenteam unter anderen Namen zu arbeiten. Ilf hieß eigentlich Ilja Arnoldowitsch Fainsilberberg, und Petrow war der jüngere Bruder des sowjetischen Erfolgsautors Valentin Katajew, der das Sujet der "Zwölf Stühle" Ilf und Petrow überließ, um zu sehen, was sie daraus machten. Die unbekümmerte Fabulierfreudigkeit und die erfinderische Sprachkunst der beiden war Katajew weit voraus - ungeachtet aller Zensureingriffe, die den Text ein wenig, aber nicht radikal beschnitten. Im Verlauf der sowjetischen Editionsgeschichte wurde der Roman zwar immer ein wenig schlanker, aber der vorliegende Text, kreuzfidel und kräftig von Renate und Thomas Reschke übersetzt, folgt der neuesten Moskauer Ausgabe (1997), die das Originalmanuskript restauriert. Man liest mit einiger Rührung, daß diese Ausgabe, nach allem Unheil der russischen Geschichte, noch die Unterstützung der Witwe Ilja Ilfs fand, die alles überlebte.
Im alten spanischen Schelmenroman genügte ein einziger Spitzbube, hier aber tummeln sich gleich drei. Sie besitzen die wunderbare Gabe, kleine Geschäftemacher, Hochstapler, Diebe, korrupte Magistratsbeamte und wenig talentierte Dichter wie magnetisch anzuziehen, den ganzen Bauch der frühen Sowjetunion, ehe noch im Jahr 1928 die strengere Epoche des ersten Fünfjahresplanes beginnt. Die Witwe Petuchowa, die einst dem Bürgertum angehörte, beichtet auf ihrem Totenbett, daß sie den alten Familienschmuck in einem der zwölf Stühle versteckte, die ihre Salongarnitur bildeten. Leider beichtet sie das zweimal, zuerst dem pfiffigen Popen Fjodor, ein andermal ihrem Schwiegersohn Worobjaninow, und die begeben sich sogleich auf Schatzsuche, gefolgt vom einfallsreichen Gauner Ostap, der weiß, daß der Schwiegersohn vor der Revolution ein kleiner Adliger war und deshalb jetzt wehrlos gegen milde Erpressungsversuche ist.
So geht es, wie es einem pikaresken Roman wohl ansteht, kreuz und quer durch die Sowjetunion im letzten Jahre der Neuen Ökonomischen Politik, mit der Lenin durch einen staatlich anerkannten Privatkapitalismus die Wirtschaft beleben wollte. Die Irrfahrt geht von der Kleinstadt nach Moskau, von dort nach Tiflis und der Krim, dann wieder nach Moskau zurück, der zähneknirschende Pope Fjodor immer auf Abwegen, weil er der falschen Information eines bestechlichen Beamten aufgesessen ist. Die erste Station ist Worobjaninows frühere Villa, jetzt ein Heim für alte Frauen, wo man erfährt, daß der Stuhl gerade vom Hausmeister verkauft worden ist, die zweite ein staatliches Möbelmuseum, das die anderen Stühle eben einem Versteigerungsinstitut überlassen hat.
Stühle und Wege laufen katastrophal auseinander, vier werden von einem Theater erstanden, andere von Moskauer Redakteuren und Bürgern, und die beiden Schatzsucher, unterstützt von einer Schar verwahrloster Straßenkinder, müssen allen einzeln nachjagen. Es wird betrogen, gelogen, gestohlen, geheiratet - Ostaps Spezialität, aber nur für ein paar Stunden, denn sobald er den Stuhl der Braut aufgeschlitzt und ein paar ihrer bescheidenen Wertsachen entlehnt hat, verschwindet er wieder. Der "positive Held", nur wenig später die zentrale Figur des Sowjetromans, glänzt durch totale Abwesenheit - vielleicht mit Ausnahme des Ingenieurs Treuchow, der in seiner Kleinstadt endlich neue Verkehrsmittel einführen will. Aber auch er ist kein Held des technologischen Fortschrittes, eher ein komischer Don Quijote der klappernden Straßenbahn. Zuletzt triumphiert doch die Sowjetmacht; im zwölften Stuhle werden die Schätze von Bahnhofsarbeitern entdeckt, und ihre Gewerkschaft erbaut ein schönes Kulturhaus mit Turnhalle und Theatersaal. In der österreichischen Filmfassung, die jeden Hinweis auf die russischen Autoren verschweigt, endet das Ganze in einem Linzer Waisenhaus, wo die Kinder fromme Lieder singen und die Bösewichter das Weite suchen.
Die erzählerischen Taktiken der beiden Autoren, die den Fortgang der Handlung immer wieder durch kunterbunte Essays (über Statistik, Moskauer Parkbänke und törichte Redaktionskollegen) oder gefühlvolle Geschichten bremsen wollen, sind weniger unterhaltsam als die Taten und Untaten ihrer Gauner, und wir erfahren in diesem Roman mehr über den Sowjet-Alltag der kleinen Leute als aus den Abhandlungen der Soziologen. Ilf und Petrow tummeln sich am liebsten in Zeitungsredaktionen, Theatern, Kurorten oder bei Filmaufnahmen und sind unermüdlich dabei, Offizielle und Inoffizielle zu parodieren.
Ein Schriftsteller namens Schachow, eben Petrows älterer Bruder, entpuppt sich als unsentimentaler Propagandachef seiner eigenen Werke, ein avantgardistischer Regisseur (armer Wsewolod Meyerhold!) wird durch den Kakao gezogen, denn in seiner experimentellen Produktion von Gogols "Heirat" bewegt sich die Heldin auf einem Drahtseil quer über die Bühne (man sieht ihre schmutzigen Füße), und ein lyrischer Dichter namens Ljapis versucht dasselbe Gedicht, mit nur einer veränderten Zeile, zwei oder drei Redaktionen zugleich zu verkaufen.
Ein besonderer Fall ist Ellotschka, eine "schicke Biene", aber leider nicht sehr artikuliert; und nachdem die philologisch gestimmten Erzähler einen Katalog ihrer dreißig Redensarten oder Worte für die Leserschaft kompiliert haben, führen sie uns Ellotschka (ein wenig wie Sugar Kowalski oder Marilyn Monroe in "Some like it hot") in zwei Kabarettszenen vor - ihr Mann verläßt sie, Ostap überfällt sie mit einer mondänen Wortkaskade, um eines Stuhles habhaft zu werden, doch sie bleibt tapfer bei ihrem angestammten, aber beschränkten Vokabular.
Ilf und Petrow verstehen es, das Poetische und das Groteske unauflöslich zu verschränken; im Wohnheim der Chemiestudenten (in dem längst keine Studenten mehr wohnen) sind die Zimmer klein (eine Matratze und ein Primuskocher), die Wände dünn, und am Abend "wiehern die Primuskocher", um die Küsse der jungen Paare zu übertönen, und die Moskauer "Stadtlichter sind wie erstarrtes Feuerwerk".
Das heißt aber nicht, daß die Erzähler überall die glücklichste Hand beweisen, besonders nicht am Ende: Da häufen sich die dramatischen Effekte, das berühmte Krim-Erdbeben von 1927 muß herhalten, und zuletzt tötet Worobjaninow (plötzlich nicht mehr eine Gogol-, sondern eine Dostojewski-Figur) den immer heiteren Ostap, um sich allein in den Besitz des illusionären Schatzes zu setzen. Dies widerspricht nicht nur dem Gesetz dieser Romangattung, sondern geht auch gegen das literarische Gewissen der Autoren, die Ostap in einem ihrer folgenden Romane wieder als unverwandelten Gauner ins Leben rufen, als sei gar nichts geschehen - ebenso wie die amerikanische Filmfassung übrigens, welche die beiden als unzertrennliche Freunde feiert.
Die Frage, warum die Zensoren so milde verfuhren, ist nicht schwer zu beantworten. Im Grunde fehlen nur zwei Kapitel, in denen Ilf und Petrow die Skandale des vorrevolutionären Worobjaninow mit allzu deutlichem Gusto feiern, oder Hinweise darauf, wie populär amerikanische Filme waren (1927 wurden neben 141 Sowjetfilmen immerhin noch 72 importierte gezeigt). Ilf und Petrow waren brave Mitläufer, die sich auf ihre Art mit dem System verständigten und jeden Frontalangriff vermieden haben.
Als die "Literaturnaja Gazeta" im Jahre 1968 eine Umfrage veranstaltete, welche Autoren die populärsten wären, fanden sich Ilf und Petrow (der später Parteimitglied wurde und als Kriegskorrespondent bei einem Flugzeugabsturz starb) mit Michail Scholochow und Alexej Tolstoj unter den ersten drei oder vier, und viele russische Leser wiederholen heute noch Ostaps geflügelte Worte ("Die Sitzung geht weiter, Genossen") ebenso liebevoll wie die Tschechen bei jeder Gelegenheit ihren Schwejk zitieren. Eulenspiegel, Schwejk und der intelligente Ostap werden nicht so bald aus der Weltliteratur verschwinden.
PETER DEMETZ
Ilja Ilf und Jewgeni Petrow: "Zwölf Stühle". Roman. Aus dem Russischen von Renate und Thomas Reschke. Verlag Volk & Welt, Berlin 2000. 503 S., geb., 48,- DM.
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Schelmenroman: "Zwölf Stühle" von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow
Es gibt Bücher, die man als alte Bekannte begrüßt. Wir wundern uns, wo sie so lange gewesen, erinnern uns heiterer Stunden und wollen alles über ihr Schicksal wissen. Zu diesen Büchern zählt, für mich wenigstens, Ilja Ilfs und Jewgeni Petrows Roman "Zwölf Stühle", eine sowjetische Spitzbuben- und Gaunergeschichte, einzig in ihrer Art, in Rußland ein moderner Klassiker. Sie wurde in fünfzehn Sprachen übersetzt und siebenmal verfilmt, zweimal in Rußland, in Österreich, Kuba und zuletzt Anfang der achtziger Jahre in Hollywood, von und mit Mel Brooks.
Ilf und Petrow, die beide aus Odessa stammten, hatten ihre eigenen Gründe, als Autorenteam unter anderen Namen zu arbeiten. Ilf hieß eigentlich Ilja Arnoldowitsch Fainsilberberg, und Petrow war der jüngere Bruder des sowjetischen Erfolgsautors Valentin Katajew, der das Sujet der "Zwölf Stühle" Ilf und Petrow überließ, um zu sehen, was sie daraus machten. Die unbekümmerte Fabulierfreudigkeit und die erfinderische Sprachkunst der beiden war Katajew weit voraus - ungeachtet aller Zensureingriffe, die den Text ein wenig, aber nicht radikal beschnitten. Im Verlauf der sowjetischen Editionsgeschichte wurde der Roman zwar immer ein wenig schlanker, aber der vorliegende Text, kreuzfidel und kräftig von Renate und Thomas Reschke übersetzt, folgt der neuesten Moskauer Ausgabe (1997), die das Originalmanuskript restauriert. Man liest mit einiger Rührung, daß diese Ausgabe, nach allem Unheil der russischen Geschichte, noch die Unterstützung der Witwe Ilja Ilfs fand, die alles überlebte.
Im alten spanischen Schelmenroman genügte ein einziger Spitzbube, hier aber tummeln sich gleich drei. Sie besitzen die wunderbare Gabe, kleine Geschäftemacher, Hochstapler, Diebe, korrupte Magistratsbeamte und wenig talentierte Dichter wie magnetisch anzuziehen, den ganzen Bauch der frühen Sowjetunion, ehe noch im Jahr 1928 die strengere Epoche des ersten Fünfjahresplanes beginnt. Die Witwe Petuchowa, die einst dem Bürgertum angehörte, beichtet auf ihrem Totenbett, daß sie den alten Familienschmuck in einem der zwölf Stühle versteckte, die ihre Salongarnitur bildeten. Leider beichtet sie das zweimal, zuerst dem pfiffigen Popen Fjodor, ein andermal ihrem Schwiegersohn Worobjaninow, und die begeben sich sogleich auf Schatzsuche, gefolgt vom einfallsreichen Gauner Ostap, der weiß, daß der Schwiegersohn vor der Revolution ein kleiner Adliger war und deshalb jetzt wehrlos gegen milde Erpressungsversuche ist.
So geht es, wie es einem pikaresken Roman wohl ansteht, kreuz und quer durch die Sowjetunion im letzten Jahre der Neuen Ökonomischen Politik, mit der Lenin durch einen staatlich anerkannten Privatkapitalismus die Wirtschaft beleben wollte. Die Irrfahrt geht von der Kleinstadt nach Moskau, von dort nach Tiflis und der Krim, dann wieder nach Moskau zurück, der zähneknirschende Pope Fjodor immer auf Abwegen, weil er der falschen Information eines bestechlichen Beamten aufgesessen ist. Die erste Station ist Worobjaninows frühere Villa, jetzt ein Heim für alte Frauen, wo man erfährt, daß der Stuhl gerade vom Hausmeister verkauft worden ist, die zweite ein staatliches Möbelmuseum, das die anderen Stühle eben einem Versteigerungsinstitut überlassen hat.
Stühle und Wege laufen katastrophal auseinander, vier werden von einem Theater erstanden, andere von Moskauer Redakteuren und Bürgern, und die beiden Schatzsucher, unterstützt von einer Schar verwahrloster Straßenkinder, müssen allen einzeln nachjagen. Es wird betrogen, gelogen, gestohlen, geheiratet - Ostaps Spezialität, aber nur für ein paar Stunden, denn sobald er den Stuhl der Braut aufgeschlitzt und ein paar ihrer bescheidenen Wertsachen entlehnt hat, verschwindet er wieder. Der "positive Held", nur wenig später die zentrale Figur des Sowjetromans, glänzt durch totale Abwesenheit - vielleicht mit Ausnahme des Ingenieurs Treuchow, der in seiner Kleinstadt endlich neue Verkehrsmittel einführen will. Aber auch er ist kein Held des technologischen Fortschrittes, eher ein komischer Don Quijote der klappernden Straßenbahn. Zuletzt triumphiert doch die Sowjetmacht; im zwölften Stuhle werden die Schätze von Bahnhofsarbeitern entdeckt, und ihre Gewerkschaft erbaut ein schönes Kulturhaus mit Turnhalle und Theatersaal. In der österreichischen Filmfassung, die jeden Hinweis auf die russischen Autoren verschweigt, endet das Ganze in einem Linzer Waisenhaus, wo die Kinder fromme Lieder singen und die Bösewichter das Weite suchen.
Die erzählerischen Taktiken der beiden Autoren, die den Fortgang der Handlung immer wieder durch kunterbunte Essays (über Statistik, Moskauer Parkbänke und törichte Redaktionskollegen) oder gefühlvolle Geschichten bremsen wollen, sind weniger unterhaltsam als die Taten und Untaten ihrer Gauner, und wir erfahren in diesem Roman mehr über den Sowjet-Alltag der kleinen Leute als aus den Abhandlungen der Soziologen. Ilf und Petrow tummeln sich am liebsten in Zeitungsredaktionen, Theatern, Kurorten oder bei Filmaufnahmen und sind unermüdlich dabei, Offizielle und Inoffizielle zu parodieren.
Ein Schriftsteller namens Schachow, eben Petrows älterer Bruder, entpuppt sich als unsentimentaler Propagandachef seiner eigenen Werke, ein avantgardistischer Regisseur (armer Wsewolod Meyerhold!) wird durch den Kakao gezogen, denn in seiner experimentellen Produktion von Gogols "Heirat" bewegt sich die Heldin auf einem Drahtseil quer über die Bühne (man sieht ihre schmutzigen Füße), und ein lyrischer Dichter namens Ljapis versucht dasselbe Gedicht, mit nur einer veränderten Zeile, zwei oder drei Redaktionen zugleich zu verkaufen.
Ein besonderer Fall ist Ellotschka, eine "schicke Biene", aber leider nicht sehr artikuliert; und nachdem die philologisch gestimmten Erzähler einen Katalog ihrer dreißig Redensarten oder Worte für die Leserschaft kompiliert haben, führen sie uns Ellotschka (ein wenig wie Sugar Kowalski oder Marilyn Monroe in "Some like it hot") in zwei Kabarettszenen vor - ihr Mann verläßt sie, Ostap überfällt sie mit einer mondänen Wortkaskade, um eines Stuhles habhaft zu werden, doch sie bleibt tapfer bei ihrem angestammten, aber beschränkten Vokabular.
Ilf und Petrow verstehen es, das Poetische und das Groteske unauflöslich zu verschränken; im Wohnheim der Chemiestudenten (in dem längst keine Studenten mehr wohnen) sind die Zimmer klein (eine Matratze und ein Primuskocher), die Wände dünn, und am Abend "wiehern die Primuskocher", um die Küsse der jungen Paare zu übertönen, und die Moskauer "Stadtlichter sind wie erstarrtes Feuerwerk".
Das heißt aber nicht, daß die Erzähler überall die glücklichste Hand beweisen, besonders nicht am Ende: Da häufen sich die dramatischen Effekte, das berühmte Krim-Erdbeben von 1927 muß herhalten, und zuletzt tötet Worobjaninow (plötzlich nicht mehr eine Gogol-, sondern eine Dostojewski-Figur) den immer heiteren Ostap, um sich allein in den Besitz des illusionären Schatzes zu setzen. Dies widerspricht nicht nur dem Gesetz dieser Romangattung, sondern geht auch gegen das literarische Gewissen der Autoren, die Ostap in einem ihrer folgenden Romane wieder als unverwandelten Gauner ins Leben rufen, als sei gar nichts geschehen - ebenso wie die amerikanische Filmfassung übrigens, welche die beiden als unzertrennliche Freunde feiert.
Die Frage, warum die Zensoren so milde verfuhren, ist nicht schwer zu beantworten. Im Grunde fehlen nur zwei Kapitel, in denen Ilf und Petrow die Skandale des vorrevolutionären Worobjaninow mit allzu deutlichem Gusto feiern, oder Hinweise darauf, wie populär amerikanische Filme waren (1927 wurden neben 141 Sowjetfilmen immerhin noch 72 importierte gezeigt). Ilf und Petrow waren brave Mitläufer, die sich auf ihre Art mit dem System verständigten und jeden Frontalangriff vermieden haben.
Als die "Literaturnaja Gazeta" im Jahre 1968 eine Umfrage veranstaltete, welche Autoren die populärsten wären, fanden sich Ilf und Petrow (der später Parteimitglied wurde und als Kriegskorrespondent bei einem Flugzeugabsturz starb) mit Michail Scholochow und Alexej Tolstoj unter den ersten drei oder vier, und viele russische Leser wiederholen heute noch Ostaps geflügelte Worte ("Die Sitzung geht weiter, Genossen") ebenso liebevoll wie die Tschechen bei jeder Gelegenheit ihren Schwejk zitieren. Eulenspiegel, Schwejk und der intelligente Ostap werden nicht so bald aus der Weltliteratur verschwinden.
PETER DEMETZ
Ilja Ilf und Jewgeni Petrow: "Zwölf Stühle". Roman. Aus dem Russischen von Renate und Thomas Reschke. Verlag Volk & Welt, Berlin 2000. 503 S., geb., 48,- DM.
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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Ein Buch, in dem ein russischer Adliger nach der Oktoberrevolution auf die Suche nach einem Familienschatz in einem der zwölf Stühle seines Familienerbes geht: seit 70 Jahren wird es, so Olga Martynova, von allen Russen, geliebt; es ist mehrmals verfilmt worden und kürzlich wurde gar ein Denkmal für "Ostap Bender", den Buch-Freund des Buch-Adligen, in St.Petersburg enthüllt. Die neue Übersetzung ist so reichlich mit Anmerkungen versehen, dass sie den Lesefluss vielleicht stören können, meint Martynova. Und das wäre schade, weil dem deutschen Publikum endlich die "Lachkrämpfe" des russischen zu gönnen sind.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"... das lustigste Buch Rußlands ..." Die Zeit