Michael Mertes nimmt das Ende der Ära Merkel zum Anlass für einen Essay über Dynamik und Stagnation, Aufstieg und Niedergang in der Politik: Wie kommt es zur Erosion von Macht? Wann und wie sollte der Abschied von der Macht vollzogen werden? Sind Amtszeitbegrenzungen sinnvoll? Eingebettet ist die Erörterung dieser Fragen in Reflexionen über das Verhältnis von Macht und Führung, Amt und Person, Konflikt und Konsens, über die Psychologie der Macht und die Versuchung der Politik, ihre spezifische Verantwortung auf Experten abzuwälzen.Als politischer Beamter (Ministerialdirektor im Bonner Bundeskanzleramt unter Helmut Kohl, später Staatssekretär für Bundes- und Europaangelegenheiten in der Düsseldorfer Staatskanzlei) illustriert Mertes seine Überlegungen mit eigenen Beobachtungen aus Zentren der Macht.Die friedliche Übergabe der Regierungsgewalt ist eine der größten Errungenschaften freiheitlicher Demokratien. Deshalb richtet Mertes seinen Blick nicht nur auf Deutschland, sondern auch auf andere Länder des Westens - vor allem die Vereinigten Staaten von Amerika, deren erster Präsident George Washington mit seinem freiwilligen Verzicht auf eine dritte Amtszeit ein Beispiel republikanischer Tugend gegeben hat.
Michael Mertes. Zyklen der Macht.
Bouvier Verlag, Bonn 2021. 206 S., 24,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Der Politikforscher Werner Weidenfeld rät Olaf Scholz dringend zur Lektüre von Michael Mertes' Buch. Mertes bietet laut Weidenfeld nicht nur eine sagenhafte politikwissenschaftliche, historische und philosophische Expertise, er weiß als Kohls ehemaliger Ghostwriter und Sohn von Alois Mertes auch, wie die Zyklen der Macht laufen und wie sich auch ein neuer, leiser Bundeskanzler darauf zu seinem Vorteil eingrooven kann. Als praktisches Lehr- und Zauberbuch empfiehlt Weidenfeld den Band und als Weg zum Amtserhalt.
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Michael Mertes’ Handlungsanleitung für Kanzler Scholz
Die Republik erlebt ein machtpolitisches Drama. Viele Fragen bleiben unbeantwortet. Die Volksparteien nehmen Abschied. Das Misstrauen der Bürger wächst. Die Sehnsucht nach klarer Zielorientierung bleibt unbefriedigt. Auf 133 Seiten des längsten Koalitionsvertrages der Geschichte bietet die neue Ampelkoalition nur Hunderte Details, aber kein kraftvolles Zukunftsbild. Bundeskanzlerin Angela Merkel beendete selbst ihre Amtszeit, weder vom Wähler noch von einer Partei gezwungen. Das war keinem Konrad Adenauer, keinem Willy Brandt, keinem Helmut Kohl gelungen. Ihr Nachfolger Olaf Scholz bleibt unscheinbar still. Man sagt, er merkelt. Aber wie soll man nun mit diesem machtpolitischen Debakel umgehen?
Wer grundsätzlichen Klärungsbedarf verspürt und an die Bearbeitung des Machtdramas herangehen will, dem ist die Lektüre des Buches von Michael Mertes über die Zyklen der Macht zu empfehlen.
Mertes ist in seiner Kenntnisart ein Unikat. Er hat die politikwissenschaftliche, historische und philosophische Literatur zum Machtphänomen, zu Dynamik und Stagnation, zu Aufstieg und Niedergang inhaliert. Und dann verbindet er dies mit einem besonderen praktischen Erfahrungshorizont. Schon als Jugendlicher bekam er das Machtphänomen intensiv familiär mit. Sein Vater Alois Mertes war Staatssekretär in der rheinland-pfälzischen Landesregierung und dann einer der besonders bekannten Staatsminister im Auswärtigen Amt. Und Michael Mertes selbst war bei Bundeskanzler Kohl über viele Jahre hinweg dessen Ghostwriter. Er leitete im Bundeskanzleramt mehr als zehn Jahre die Planungs- und Kulturabteilung, bevor er dann Staatssekretär in der Landesregierung Nordrhein-Westfalens für Bundes- und Europaangelegenheiten wurde.
Man muss Olaf Scholz dringend die Lektüre empfehlen, die ihm gleichsam als Lehrbuch für seine Rolle und Aufgabe als Nachfolger von Angela Merkel dienen kann: „Der Nachfolger muss sich freischwimmen, er muss aus dem Schatten heraustreten.“ Und dann warnt Mertes davor, „einschläfernd“ zu wirken. Statt dessen zeigt er den Weg zum Erfolg auf, wenn ein Politiker „mit großen Konzeptionen identifiziert“ wird. Den Schlüssel zum Erfolg bietet dann die „Deutungsmacht“. Darauf hat bereits vor Jahren der Politikwissenschaftler und Harvard-Professor Joe Nye hingewiesen. Er machte in mehreren Power-Büchern klar, dass außer Hard Power (Waffen, ökonomisches Potenzial) und Soft Power (kulturelle Ausstrahlung) nun im Zeitalter der Komplexität eine dritte Kategorie von entscheidender Bedeutung sei – die Smart Power, die Deutungs- und Erklärungsleistung.
Zur Machtpraxis eines Bundeskanzlers zitiert Mertes den großen Klassiker der Politikwissenschaft, Wilhelm Hennis Satz: „Im Moment seiner Wahl ist das Pferd gesattelt und gezäumt, er muss nur reiten können.“ Um machtpolitisch gut reiten zu können, muss die Nummer eins systematisch Talentförderung betreiben. Mertes beschreibt dann die unendlich vielen Persönlichkeitsgeschichten in der Spitzenpolitik. Und dann wird der Blick auf „die Magie des Aufbruchs“ gelenkt. Olaf Scholz sollte die Magie erlernen, um dem Folgekapitel der Geschichte zu entgehen: „der Mechanik der Machterosion“. Nur eine geraume Zeit hilft das Ausweichen vor großen Kontroversen und harten Entscheidungen, die asymmetrische Demobilisierung und auch die Behauptung der Alternativlosigkeit. In der aktuellen Lage sind machtpolitische Weckrufe höchst angebracht.
Mertes gibt in den Erkenntnissen zu den Zyklen der Macht einem Kanzler die Chance, lange erfolgreich im Amt zu bleiben, wenn er als Person zum Programm wird. Dies gelang etwa Konrad Adenauer mit „Keine Experimente“, dann Willy Brandt mit seiner Politik der Entspannung zwischen Ost und West sowie „Demokratie fängt jetzt erst an“. Helmut Kohl kreierte „Die Schöpfung bewahren“ und „Gesellschaft mit menschlichem Gesicht“. Und was wird sich programmatisch, historisch mit Olaf Scholz verbinden? Bisher bleibt nur ein großes Fragezeichen.
Nur mit Charisma, mit einer überragenden Deutungsleistung und mit einem beeindruckenden Verbund von Amt und Programm hat der Bundeskanzler die Chance auf Amtserhalt. Der politisch-kulturelle Trend, den man mit „Abschied von den Volksparteien“ überschreiben kann, wird sonst auch Olaf Scholz verschleißen.
WERNER WEIDENFELD
Werner Weidenfeld ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Universität München.
Michael Mertes:
Zyklen der Macht.
Über Dynamik und
Stagnation, Aufstieg und Niedergang in der Politik. Bouvier Verlag, Bonn 2021. 206 Seiten, 24 Euro.
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