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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Am Ende steht ein schlichtes zweistrophiges Gedicht, eines der wunderbarsten Nachtgedichte in deutscher Sprache, ein Gondellied, mit dem Nietzsche die glücklichen Momente, die ihm Venedig geschenkt hatte, festhielt: "An der Brücke stand / jüngst ich in brauner Nacht. Fernher kam Gesang . . ." Geschrieben hat er die zwölf Zeilen nicht, wie man vermuten würde, im Mai 1885, als er einige Wochen direkt an der Rialto-Brücke wohnte, sondern erst dreieinhalb Jahre später, im Herbst 1888 in Turin, wo ihn wenig später die geistige Umnachtung überkam. Am 9. Januar holte ihn Freund Overbeck dort ab und brachte ihn nach Basel in die Psychiatrie; während der nächtlichen Zugfahrt über die Alpen sang Nietzsche das Gedicht, klar artikulierend und laut zu vollkommen wirrer Melodie.
Renate Müller-Buck hat ein halbes Leben der historisch-kritischen Nietzsche-Ausgabe gewidmet und nach dem Tod Mazzino Montinaris die Kommentarbände der Briefausgabe betreut, sie kennt aber auch die Stadt zur Genüge. Venedig sei für Nietzsche ein anderes Wort für Glückseligkeit gewesen, resümiert sie, und Glück war für ihn vor allem Musik. "Wenn ich ein andres Wort für Musik suche, so finde ich immer nur das Wort Venedig", schrieb er in "Ecce Homo", das dort postum veröffentlichte Gondellied gleichsam kommentierend. Musik bedeutete für Nietzsche aber vor allem Richard Wagner. Der hatte in Venedig 1858 den zweiten Akt des Tristan geschrieben - "das eigentliche opus metaphysicum aller Kunst", wie Nietzsche jubelte - und war 1883 im Palazzo Vendramin gestorben. Da war das Verhältnis zwischen dem Meister und seinem einstigen Propheten schon seit Langem zerrüttet. Nietzsche glaubte inzwischen in dem zehn Jahre jüngeren Heinrich Köselitz, der bei ihm in Basel Altphilologie studiert hatte und sich anschließend als Komponist in Venedig niederließ, einen Ersatz, einen neuen Meister entdeckt zu haben. Nietzsche in Venedig: das ist auch die Geschichte des bizarren Versuchs, Richard Wagner durch Heinrich Köselitz zu ersetzen.
Als Köselitz Ende 1878 erfuhr, dass sein ehemaliger Lehrer sich in einem besorgniserregenden Gesundheitszustand befand und dringend der Erholung bedurfte, versuchte er ihn durch detaillierte Beschreibungen sämtlicher Annehmlichkeiten Venedigs an die Lagune zu locken und pries besonders die meteorologischen Vorzüge. Müller-Buck nutzt die Köselitz-Briefe, um den Leser in das Venedig der 1880er-Jahre einzuführen, und bereitet so gleichsam die Bühne für Nietzsches ersten Auftritt. Wegen wütender Kopfschmerzen, die ihn fast blind machten, und mit Magenkrämpfen tagelang ans Bett gefesselt, musste er die Reise mehrmals aufschieben. Im Mai 1879 reichte Nietzsche, 34 Jahre alt, bei der Stadt Basel sein Entlassungsgesuch ein und fuhr statt nach Venedig für einige Monate zur Pflege durch Mutter und Schwester nach Naumburg.
Am 13. März 1880 ist es so weit: Nietzsche trifft das erste Mal in Venedig ein. Er bleibt mehr als drei Monate; es ist der mit Abstand längste Aufenthalt, dem in den Jahren 1884 bis 1887 vier weitere folgen werden. An den touristischen Sehenswürdigkeiten sei er nicht interessiert, hatte er Köselitz vorab wissen lassen, er wolle lieber "auf dem Markusplatz sitzen und Militärmusik hören" und im Übrigen den Empfehlungen des Freundes folgen: "Seien Sie in Venedig mein guter Hirte und Arzt."
Köselitz besorgte die gewünschten Unterkünfte, las Nietzsche stundenlang vor, unterhielt ihn mit Klavierspiel, meist Chopin, aber auch mit eigenen Kompositionen, über die Nietzsche immer mehr in Verzückung geriet und die er bei jeder Gelegenheit als seine neue Lieblingsmusik rühmte - "hier ist ein neuer Mozart". Der Komponist bewährte sich indessen vor allem als Sekretär und Korrektor, der für den Dreiviertelblinden die Druckmanuskripte erstellte. Dass bei solcher Abhängigkeit Spannungen nicht ausbleiben konnten und die beiden sich eine Zeit lang lieber aus dem Weg gingen, ist wenig verwunderlich.
Mit Nietzsches Ankunft in Venedig fühlt sich der Leser dort auf Anhieb nicht weniger zu Hause als Nietzsche selbst, und es ist schwer zu entscheiden, wer von Müller-Bucks Darstellung mehr profitiert, der Mann oder die Stadt. Auf den sorgfältig ausgewählten zeitgenössischen Fotos, die Nietzsches Venedig so zeigen, wie er es gesehen haben könnte, meint man ihn mitunter durchs Bild laufen zu sehen. Minutiös zeichnet die Autorin nach, in welchen Pensionen er wohnte, in welchen Trattorien er aß, welche Bibliotheken er besuchte und welche Bücher er exzerpierte; ein subtiler Exkurs über Nietzsches Lektüre führt von Hippolyte Taine über William Turner und John Ruskin bis zu Proust und Henry James.
Auf langen Gängen durch die engen schattigen Sträßchen, deren gleichmäßig glatte Pflasterung aus Trachyt ihn begeisterte, eignete Nietzsche sich die Stadt an und notierte, ihr eigentlicher Zauber seien die "100 tiefen Einsamkeiten". Von Venedig könne man träumen, heißt es an anderer Stelle, ohne je dort gewesen zu sein. Im zweiten Drittel des Buches macht Nietzsche sich auf die Suche nach neuen Domizilen, die seiner Gesundheit zuträglich sind, und dabei gerät Venedig ein wenig aus dem Blick. Auch für den Leser, und das geht auf das Konto der Autorin, die sich streng an die Chronologie hält und, statt zu verknappen und den Bogen zu schlagen, jede Weggabelung nachzeichnet.
Die Sommermonate verbringt Nietzsche jetzt regelmäßig in Sils Maria, als Winterquartier entdeckt er im Dezember 1883 Nizza, was ihm fehlt, ist ein idealer Ort für den Übergang. Als ein solcher erscheint ihm Venedig erst wieder nach dem Tod Wagners, dessen genauere Umstände er sich von Köselitz en détail beschreiben lässt. Dass Wagners Tod für Nietzsche zur entscheidenden Zäsur der späten Jahre wurde - er selbst sprach von der "wesentlichsten Erleichterung" seines Lebens -, hätte stärker akzentuiert werden können. Die geradezu obsessive Propaganda für Köselitz, dessen Oper "Der Löwe von Venedig" Nietzsche von 1884 an allen Musikdirektoren und Dirigenten zwischen Zürich, Dresden und Wien zur Aufführung empfiehlt, ist ja nichts anderes als die verlängerte Flucht vor Wagner.
Im Gondellied lauscht die einsame Seele dem Gesang aus der Ferne und summt sich dazu ihre eigene Melodie. "Hörte Jemand ihr zu?" - so die bange Frage der letzten Zeile. Müller-Buck vermutet, dass damit Richard Wagner gemeint gewesen sein könnte, und verweist darauf, dass das Gedicht im "Ecce Homo" unmittelbar auf Nietzsches berühmtes Bekenntnis zum "Tristan" folgt. Anfang 1888 war es Köselitz gelungen, sich der erneuten Vereinnahmung durch Nietzsche zu entziehen und ihn nach Turin zu lotsen, das liege doch günstig auf halbem Weg zwischen Nizza und Sils Maria. Dass im letzten Schaffensrausch von Turin Wagner und Venedig mit seinem eigenen Schicksal verschmelzen, ist die Schlusspointe der so hinreißenden wie ertragreichen Studie von Renate Müller-Buck. THOMAS KARLAUF
Renate Müller-Buck: "... zitternd vor bunter Seligkeit". Nietzsche in Venedig.
Wallstein Verlag, Göttingen 2024.
199 S., Abb., geb., 26,- Euro.
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