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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
„101 Essays, die dein Leben verändern werden“ ist der Ratgeber-Superbestseller des Jahres.
Sein Geheimnis: Poesiealbum-Psychologie und dreiste Scheinklugheit
VON JULIANE LIEBERT
In der ersten Folge der britischen Comedyserie „Black Books“ verschluckt Manny, einer der drei Hauptcharaktere, ein Selbsthilfebuch. Zugegeben, ein sehr kleines Selbsthilfebuch – das „Little Book Of Calm“. Manny kauft es, weil sein Job ihn stresst, und verschluckt es versehentlich. Man denkt erst, er würde daran zugrunde gehen, aber es löst sich in ihm auf, und er verwandelt sich in eine jesusähnliche Lichtgestalt, die durch die Gegend läuft und Leuten ihre Ratschläge aufdrückt. Einer Frau, die vor Schmerzen schreiend in den Wehen liegt, rät er mit tief erleuchteter Gelassenheit: „Wenn Sie sich unter Druck fühlen, tun Sie etwas anderes. Krempeln Sie die Ärmel hoch, oder essen Sie eine Orange.“ Die Frau ist nicht begeistert. Dabei wird sie – da dieser Artikel auf Deutsch verfasst ist – wenigstens gesiezt. Bei der 1992 geborenen amerikanischen Autorin Brianna Wiest hat man dieses Glück nicht.
Wer ihren Sachbuch-Superbestseller „101 Essays, die dein Leben verändern werden“, der sich hierzulande seit beinahe einem halben Jahr ununterbrochen sehr weit oben in den wöchentlichen Bestsellerlisten befindet, in der Hoffnung in die Hand nimmt, darin 101 besonders brillante Essays zu verschiedensten Themen zu finden, wird enttäuscht werden: Es handelt sich um einen Ratgeber. Nichts gegen Ratgeber. Aber dass Brianna Wiest ihre Lebenshilfelisten als „Essays“ bezeichnet, ist doch etwas dreist. Brillant oder nicht, von einem Essay würde man erwarten, dass er ein paar Argumente entwickelt. Oder wenigstens ein paar interessante assoziative Beobachtungen zusammenbringt. Brianna Wiest zählt eigentlich einfach nur auf, was sie irgendwo in der Fachliteratur gelesen hat. In einfacher Sprache.
Das muss ja nicht schlecht sein, aber je länger man liest, desto mehr fragt man sich, wie viele ihrer angeblich lebensverändernden Erkenntnisse nicht einfach bloß triviale Allerweltsweisheiten sind, sondern schlicht falsch: „Dein Gehirn kann nur wahrnehmen, was es kennt. Deshalb basieren deine Wünsche für die Zukunft lediglich auf vergangenen Lösungen oder vergangenen Idealen“, schreibt sie etwa. Man meint, sofort zu verstehen, was sie damit sagen will, auch wenn es nicht sehr originell ist. Aber stimmt es überhaupt? Genau wie: „Die erfolgreichsten Menschen in der Geschichte – diejenigen, die viele als ,Genies‘, als Meister ihres Fachs bezeichnen – hatten außer ihrem Talent eines gemeinsam: Die meisten von ihnen hielten sich an strenge (und genaue) Routinen.“ Wirklich? Ist das so? Kommt das nicht darauf an, wie man „Erfolg“ und „Routinen“ definiert?
Eine zentrale Taktik populärer Ratgeber ist, dass sie mit schwammigen Begriffen operieren, die allerdings so lange einleuchten, wie man nicht einen Moment innehält und reflektiert. Dazu kommt im Fall der Routine-Genies allerdings noch der Einwand: Woher will sie das überhaupt wissen? Selbst wenn sie über 100 als Genies geltende Menschen recherchiert oder entsprechende Studien gesichtet hat, kann es ja immer noch unzählige Gegenbeispiele geben.
Darin erinnern Lebenshilfebücher, die grundsätzliche Lösungen versprechen, an die Kommunikationsstrategien von Hellsehern. Die Autorin/der Hellseher formuliert ausschließlich Sätze, die allgemein genug sind, damit sie jeder auf sich beziehen kann. Etwa: „Eine Überzeugung ist das, was du durch Erfahrung als wahr erkannt hast. Wenn du dein Leben ändern willst, musst du deine Überzeugungen ändern. Wenn du deine Überzeugungen ändern willst, dann geh hinaus in die Welt und mach Erfahrungen, die diese Überzeugungen für dich real werden lassen. Nicht umgekehrt.“ Hä?
Welche Überzeugungen meint sie denn am Ende? Die, die man schon hat? Oder die man ändern soll? Wie viel Sinn ergibt es überhaupt, dass Erfahrungen eine Überzeugung real werden lassen, wenn sie gleich zu Beginn davon spricht, dass wir nur wahrnehmen, was wir kennen? Briannas Wiests Texte sind so amorph, das man zuweilen keinen Zusammenhang zwischen ihren Sätzen herstellen kann. Oft genug bleiben sogar die einzelnen Sätze in sich nebulös, weil sie lauter allgemeine Begriffe zusammenspannt, die alles und nichts bedeuten können.
Es fühlt sich an, als stünde einem die ganze Zeit ein fluffiger rosa Elefant vor Augen, aber wenn man ihn anfassen will, erweist er sich als Nebelschwade. Nach dem dritten „Essay“ weiß man schon nicht mehr, was sie im ersten eigentlich gesagt hat, weil die Ratschläge alle so unkonkret und gleichförmig sind: „Glück heißt nicht, etwas anderes zu erleben, sondern das, was man bereits hat, ständig auf neue und andersartige Weise zu erleben.“ Ist das nun eher ein Argument für oder gegen hemmungslose Promiskuitivität?
Alles, was mit Briannas „Gedanken“ in Kontakt kommt, löst sich auf. Aber nicht wie Sorgen in mediterraner Sonne, sondern wie Mafialeichen in Salzsäure. In der Behandlung notorischer Sexualstraftäter wird ja gelegentlich die sogenannte chemische Kastration eingesetzt. Analog dazu könnte man die Wirkung der „Essays“ literarische Lobotomie nennen. Ihre Spezialität ist Scheinklugheit. Das Kapitel „16 Kennzeichen einer sozial intelligenten Person“ brilliert in dieser Disziplin. Wiest schreibt: „Der einfachste Weg, unintelligent zu klingen, ist der, zu sagen: ,Diese Idee ist falsch.‘ (Die Idee mag für dich falsch sein, doch sie existiert, weil sie für jemand anderen richtig ist.) Intelligente Menschen sagen: ,Ich persönlich verstehe diese Idee nicht oder stimme ihr nicht zu.‘ Endgültige Aussagen über Ideen oder Personen zu machen, heißt, blind für die Vielzahl an möglichen Perspektiven zu sein. Dies ist die Definition von Engstirnigkeit und Kurzsichtigkeit.“
Die Idee, dass Covid nicht existiert, ist aber nun mal falsch. Genau wie die Idee, dass die Ukraine von Faschisten regiert wird, weshalb es gerecht sei, gegen sie einen Angriffskrieg zu führen. Es ist auch nicht sozial intelligent, für jeden Unfug Verständnis aufzubringen. Manchmal ist es einfach bloß feige. Und sozial borniert, weil der Horizont fehlt, dass eine offene, vernunftbasierte, tatsachenorientierte und damit diskursfähige Wirklichkeit erfordert, Konflikte mit Schwachsinn gelegentlich in aller Schärfe auszutragen. Sonst ist jeder Quatsch gleich relevant, weil er irgendjemandem wichtig ist, womit man so ziemlich beim Gegenteil von Intelligenz angekommen wäre – ob nun soziale oder logische oder welche auch immer.
Wiest schreibt auch: „Wenn du etwas wirklich ablehnen würdest, würdest du dich einfach davon frei machen.“ Klar, weil man sich ja auch so leicht von allem frei machen kann, was man ablehnt. Etwa als Einwohner von Charkiw vom Krieg. Oder als Krebspatient vom Krebs. Ist ganz leicht. Man mag die Einwände spitzfindig finden, weil Brianna Wiests Intention ja offenbar nur ist, ungefähre Richtlinien für den normalen Alltag aufzustellen. Dafür allerdings trägt sie diese doch einen Hauch zu energisch vor.
Die Frage ist zudem, wie viel Sinn solche allgemeinen Regeln überhaupt ergeben, wenn es tausend Situationen im Alltag gibt, in denen sie nicht oder nur sehr bedingt zutreffen. Offenheit für Zweifel oder Ermutigung zur Reflexion findet man im ganzen Buch nicht. „Du hast das Gefühl, dass die Träume, die du für dein Leben hattest, zerbrechen. Du erkennst in diesem Moment nicht, dass einer Realität Platz gemacht wird, die besser ist, als du es dir hättest vorstellen können. Einer Realität, die stärker mit deinem wahren Ich als einem vorgestellten Ich im Einklang steht.“
Okay, ich wollte mein Leben lang Schauspielerin werden und arbeite stattdessen rundumüberwacht für einen Hungerlohn im Verteilerzentrum von Amazon. Heureka! Willkommen, mein wahres Ich! Ratschläge der obigen Art klingen angesichts des Kriegs vor unserer Haustür, des Leids in der Pandemie, der unzähligen individuellen Tragödien, die selbst in reichen Ländern Menschen ereilen können, doch grausig ignorant. Dabei geht es nicht darum, die Alltagsängste der glücklichen Bewohner wohlhabender, halbwegs stabiler Länder mit dem „Die hungernden Kinder in Afrika“- Argument wegzuwischen. (Wobei es diese Kinder ja skandalöserweise tatsächlich gibt; ihnen hilft es nur auch nicht, wenn sie als Moralkeule benutzt werden.)
Nein, das Problem an solchen Passagen ist, dass sie so selbstverständlich Allgemeingültigkeit beanspruchen. Briannas Erleuchtungen wissen nicht, wie unangemessen sie in den Augen vieler Menschen erscheinen. Sie bemüht sich nie um Genauigkeit, sondern feuert schmerzfrei wie der ewige Besserwisser vom Stammtisch eine neunmalkluge Weisheit nach der anderen ab.
Was sagt der Erfolg dieses Buchs über die Sehnsüchte unserer Gesellschaft aus? Es ist zu befürchten, er sagt vor allem aus, dass viele Menschen entweder unfähig sind, selbständig zu denken — oder einfach kein besonderes Interesse daran zeigen, weil es ihnen zu anstrengend ist. Deshalb benutzen sie Kalendersprüche, die Lebensveränderung versprechen, als Einschlafhilfe.
Da ist es dann auch egal, dass das Buch aufgrund von redaktioneller Schlampigkeit gelegentlich sogar im Nonsens versinkt: „Leid stellt nur die Weigerung dar, zu akzeptieren, was ist. Mehr nicht. (…) Etymologisch betrachtet stammt dieses Wort aus dem Lateinischen und bedeutet ,aus-halten, ertragen, betäuben‘.“ Nein, Leid stammt nicht aus dem Lateinischen und bedeutet aushalten und so weiter. Leid lässt sich vielmehr auf ein germanisches Adjektiv mit der Bedeutung „betrüblich, widerwärtig“ zurückführen, womit auch treffend beschrieben wäre, was man bei der Lektüre dieses Buchs so alles aushalten, ertragen muss, ohne sich wirksam betäuben zu können.
Hinter Wiests Poesiealbum-Psychologie steckt nämlich vor allem auch ein knallhart sozialdarwinistischer Selbstoptimierungsimperativ. Klar: Heule, lass deine Gefühle raus. Aber komm nur ja nicht auf die Idee, die Welt könnte tatsächlich schlimm sein, DU NEGATIVER MENSCH. AKZEPTIERE GEFÄLLIGST DEIN WAHRES ICH! Wenn für dieses Ich kein Ruhm und Reichtum oder auch nur bescheidenes Lebensglück vorgesehen sind, sondern nur Schicksalsschläge und Armut, DANN GEH FLASCHEN SAMMELN UND HALT DIE KLAPPE.
Mit anderen Worten: Möglicherweise fühlen sich manche nach der Lektüre von „101 Essays“ besser, weil ihnen das Buch auf jeder Seite vermittelt, es gebe für fast alles eine Lösung, die sie in sich selbst finden können. Das aber ist leider nur ein Beweis dafür, wie weit im Zweifel das Bessere vom Guten entfernt sein kann.
Man meint, sofort zu verstehen,
was sie damit sagen will,
aber stimmt es überhaupt?
Hinter Wiests Poesiealbum-
Psychologie steckt ein knallharter
Selbstoptimierungsimperativ
„Leid stellt nur die Weigerung dar, zu akzeptieren, was ist. Mehr nicht.“: Hinter vielen Sentenzen steckt der Zwang zur Selbstoptimierung.
Foto: IMAGO/Panthermedia
Wahres Ich im Einklang: die Autorin Brianna Wiest.
Foto: Janelle Putrich
Brianna Wiest:
101 Essays, die dein Leben verändern werden. Piper Verlag, München 2022.
432 Seiten, 22 Euro.
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