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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Nahaufnahmen einer widersprüchlichen Zeit: Christoph Nonn erzählt die Geschichte des Deutschen Kaiserreichs in einer Folge von Einzelporträts.
Von Andreas Kilb
Der Zoom, der mechanische Wechsel von der Übersichts- zur Großaufnahme, war in den siebziger Jahren ein beliebtes Mittel des Kinos. Inzwischen ist er weitgehend außer Gebrauch. Zu unnatürlich erscheint vielen Regisseuren die ruckhafte Verschiebung der Perspektive, zu vordergründig der Effekt der erzwungenen Nähe. Dabei kann der Zwang zum Hinschauen, den der Zoom erzeugt, durchaus nützlich sein. Zwar blendet er viele Details aus. Dafür sorgt er für Klarheit.
Christoph Nonn, Neuzeithistoriker an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, hat den Zoom-Effekt zum methodischen Prinzip seiner Studie über das Deutsche Kaiserreich gemacht. In zwölf Kapiteln entwirft Nonn die Geschichte jenes Staatsgebildes, das vor hundertfünfzig Jahren im Spiegelsaal von Versailles durch die Ausrufung des preußischen Königs Wilhelm zum Kaiser entstand, indem er einzelne seiner Protagonisten nah an den Leser heranholt. Das können Figuren der Zeitgeschichte sein wie August Bebel oder Alfred von Tirpitz, aber auch Durchschnittsmenschen wie die Schulmädchen Susanna, Katharina und Margaretha, die 1876 im saarländischen Marpingen eine Marienerscheinung hatten, oder Charlotte Herder, Ehefrau des Freiburger Verlegers und Reserveoffiziers. Jeder von ihnen steht beispielhaft für eine Grundtendenz oder ein prägendes Geschehnis des Kaiserreichs: Der Maler Anton von Werner, mit dem die Reihe der Porträts beginnt, für den Aufstieg und die ästhetische Erstarrung der Hofkunst, der Verwaltungsjurist Theodor Lohmann für die Sozialgesetzgebung unter Bismarck, der Schuster Wilhelm Voigt alias "Hauptmann von Köpenick" für den Militarismus und seine Kritiker, der Reichskanzler Bernhard von Bülow für die diplomatische Katastrophe der "Daily Telegraph"-Affäre und die außenpolitische Isolation Deutschlands nach 1900.
Der Vorteil dieser induktiven Vorgehensweise besteht darin, dass die Anschauung, die in den Lebensgeschichten liegt, das historische Phänomen schon konturiert, bevor Nonn es begrifflich auf den Punkt bringt. Die drei Schulmädchen von Marpingen haben den Kulturkampf zwischen Reichsregierung und katholischer Kirche, der um sie herum tobte, zwar nicht verstanden, aber intuitiv in ihrer Erfahrungswelt umgesetzt. Der Fundamentalismus Bebels, der bis zu seinem Tod 1913 den Umsturz predigte, wurzelt auch im Verfolgungsdruck durch die Sozialistengesetze. Der Karrierist Tirpitz bediente die Großmachtträume seines Kaisers, ohne die politischen Folgen des Flottenbaus abzusehen. Und Bernhard von Bülow war so stark mit der Pflege seines eigenen Images in den Medien beschäftigt, dass er das Redigat eines Interviews vernachlässigte, welches ihm Wilhelm II. zur Prüfung geschickt hatte, und so den Monarchen der Weltöffentlichkeit zum Fraß vorwarf.
Ein einziges der zwölf Kapitel in Nonns Buch hat keinen Protagonisten. Es handelt von der "Konitzer Mordaffäre", bei der es im Frühjahr 1900 in der westpreußischen Kleinstadt Konitz nach dem gewaltsamen Tod eines Gymnasiasten zu pogromartigen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung kam. Der Fall, in dem manche zeitgenössischen Historiker eine wichtige Etappe auf dem Weg zum Nationalsozialismus und zur Schoa sehen, ist für Nonn eher ein Beleg für provinzielle Mentalitätslagen im Zeitalter der Hochindustrialisierung. Die "Faszination des Bizarren", nicht das alte Muster der Ritualmordlüge oder die Wühlarbeit antisemitischer Hetzblätter, habe zu den Verdächtigungen gegen Juden geführt. Die zeitgeschichtlichen Indizien scheinen Nonn recht zu geben: Die Antisemiten-Parteien, die um 1890 im Aufwind waren, verloren nach der Jahrhundertwende an Wählern, und der Einfluss des "Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" nahm zu. Um so beunruhigender ist das Konitzer Exempel für die Gegenwart, denn die abgehängte und zugleich medial vernetzte, von Gerüchten vergiftete deutsche Provinz gibt es immer noch.
Das Konitz-Kapitel zeigt auch, wo Nonn in der immer wieder neu ausbrechenden Historikerdebatte um den Epochencharakter des Deutschen Kaiserreichs steht. Sein Buch grenzt sich deutlich von der Wehler-Schule ab, die im Wilhelminismus den Pickelhaube tragenden Vorläufer des "Dritten Reiches" sieht, geht aber zugleich auf Distanz zu neueren Apologeten wie Frank-Lothar Kroll. Der Mittelweg, den Nonn einschlägt, folgt der Denkfigur einer in "helle" und "dunkle" Varianten zerfallenden Moderne. Während im Kaiserreich, so Nonn, beide Ausprägungen koexistierten, traten sie nach dem Schock der Niederlage des Ersten Weltkriegs auseinander. Der Nationalsozialismus verwirklichte dann ab 1933 die "dunkle", die Bundesrepublik seit 1949 die "helle" Seite des Moderne-Projekts.
So gut diese Hell-dunkel-Dialektik als erzählerisches Kontrastmittel funktioniert, etwa in der lustvollen Schilderung der Häme, die sich nach der Köpenickiade des Schusters Voigt aus Berliner Tageszeitungen und auf großstädtischen Kabarettbühnen über den preußischen Militärstaat ergoss, so fragwürdig wirkt ihre Anwendung auf die Verhältnisse nach 1918. Die Weimarer Republik der "hellen" Moderne zuzuschlagen, wie Nonn es tut, erscheint ebenso unplausibel wie die Verteufelung alles Preußischen bei einigen seiner Kollegen. Einen entscheidenden Webfehler der ersten deutschen Demokratie benennt Nonn selbst in seinem Kapitel über die "Daily Telegraph"-Affäre: die langjährige Gewöhnung der Reichstagsparteien an ihre politische Wirkungslosigkeit unter der Monarchie. Es war "die Kombination eines ausgesprochen demokratischen Wahlrechts (...) mit einer ausgesprochen undemokratischen Verfassungsstruktur", die den Liberalen, dem Zentrum und der SPD den Sinn für Kompromisse und staatsbürgerliche Verantwortung ausgetrieben hatte. Also doch ein deutscher Sonderweg zur Demokratie - mit dem Januar 1933 als Stolperstein.
Der "Schatten des Kaiserreichs" (Eckart Conze) lastet, wie die derzeitige Debatte über die historische Rolle der Hohenzollern zeigt, weniger schwer auf der deutschen Gesellschaft als auf den deutschen Historikern. Um aus ihm herauszutreten, müssen sie sich trauen, vorgefasste Urteile auszublenden und aus der Totalen in die Nahaufnahme zu wechseln. Christoph Nonn macht vor, wie das geht.
Christoph Nonn: "12 Tage und ein halbes Jahrhundert".
Eine Geschichte des deutschen Kaiserreiches 1871-1918.
C. H. Beck Verlag, München 2020. 687 S., Abb., geb., 34,- [Euro].
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"Unterhaltsam und leichtgängig rückt Christoph Nonn die Widersprüche des Kaiserreichs ins Bild (...) vielseitig anschaulich."
Süddeutsche Zeitung, Gustav Seibt
"Hat den Zoom-Effekt zum methodischen Prinzip seiner Studie über das Deutsche Kaiserreich gemacht (...) sie (die Historiker) müssen sich trauen, vorgefasste Urteile auszublenden und aus der Totalen in die Nahaufnahme zu wechseln. Christoph Nonn macht vor, wie das geht."
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Andreas Kilb
"Der Autor entfaltet ein beeindruckendes historisches Panorama (...) kluge, vielschichtige und unterhaltsame Darstellung."
Deutschlandfunk, Otto Langels
"Umfangreich und elegant geschriebenen (...) (Das) überraschendste der Bücher zum 150. Jahrestag der Reichsgründung."
Welt, Thomas Schmid
"Das originellste Buch zum Jahrestag der Reichsgründung (...) hat eine große erzählerische Qualität."
Bayern 2, Niels Beintker
"Gewichtiges neues Werk (...) schildert in äußerst origineller Art die Geschicke des deutschen Kaiserreichs."
Die Presse, Hans-Werner Scheidl
"In zwölf gut lesbaren, literarisch arrangierten Abhandlungen macht (Christoph Nonn) an zwölf Tagen Gestalt und Gehalt des Staates sichtbar."
Mitteldeutsche Zeitung, Christian Eger
"Ein ganz anderes Buch, ein gleichermaßen, literarisch-erzählendes und historisch-analysierendes Werk."
sehepunkte, Manfred Hanisch
"Spaß an der Lektüre ist garantiert, auch für historische Laien (...) Nonn schafft es meisterhaft, diese individuellen Geschichten als Aufhänger für längerfristige Entwicklungen und historische Analysen zu nutzen."
KNA, Christoph Arens
"So gelingt Nonn ein facettenreiches Panorama, das den Stand der Forschung zum Kaiserreich akkurat wiedergibt und manches anti-deutsche Klischee korrigiert"
SWR2, Konstantin Sakkas
"Großartiges Buch."
Badische Zeitung, Thomas Steiner
"eine sehr gute Geschichte des Deutschen Kaiserreiches (...) bildet und unterhält durchgängig auf hohem Niveau"
Stimmen der Zeit, Benedikt Bögle