Johanna von Orléans, Märtyrerin und französische Nationalheldin, wird 1431 als englische Gefangene in Rouen hingerichtet. Ungemein feinfühlig und präzise schreibt Sophie Reyer über das Leben der heiligen Jungfrau, ihr Erwachsenwerden und ihren Niedergang. Johanna wächst während des Hundertjährigen Krieges in einem kleinen französischen Dorf auf. Bereits als junges Mädchen hat sie Visionen, die sie immer stärker prägen, bis sie dem Fanatismus verfällt. Johanna weiß, dass sie aus dem traditionellen Frauenbild ausbrechen und in den Krieg ziehen muss. Doch sie gerät in einen Strudel aus Hinterlist und Verrat, aus dem sie nicht mehr herauskommt. Kurz vor ihrer Hinrichtung trifft sie schließlich auf Nicolas Loyseleur, ihren vermeintlichen Beichtvater. Dieser soll ihr ein Geständnis entlocken, wird aber selbst immer tiefer in ihren Bann gezogen. Mit viel Fingerspitzengefühl beschreibt Sophie Reyer Johannas Leben – die Entwicklung einer starken, jungen Frau, die den konventionellen Erwartungen widerspricht und ihr Leben selbst bestimmt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.2021Gott ist eine rosa Geranie
Wenn die angeklagte Drehtür die Richtung verliert: In ihrem Roman "1431" beleuchtet Sophie Reyer sprachgewaltig und metaphernreich das kurze Leben und spektakuläre Sterben der Jungfrau von Orleans.
Nicolas Loyseleur versucht sie zu verstehen. Der Geistliche wurde von seinem Dienstherrn, dem Bischof von Beauvais, damit beauftragt, das Vertrauen Jeanne d'Arcs zu gewinnen, um sie zu einem Geständnis zu überreden. Stundenlang sitzt er bei ihr in der Zelle, beschenkt sie mit etwas Brot, führt Gespräche, erteilt Ratschläge und gerät in ihrem Beisein in einen Sog aus Faszination und wechselhaften Gefühlen für Johanna. Die junge Frau jedoch wird ihm ein Mysterium. Ebenso ergeht es Johanna selbst - und auch dem Leser von Sophie Reyers neuem Roman "1431".
Das Buch, das das Sterbejahr der heiligen Johanna im Titel führt, fokussiert sich aus zwei im Schriftbild strikt getrennten und einander gegenübergestellten Perspektiven ganz auf seine Hauptfigur: Mit den Augen, Ohren, Händen, Gefühlen und Gedanken Loyseleurs nimmt der Leser die gefangene Johanna und die Ereignisse um ihren Prozess in Rouen wahr. Im Kontrast dazu erzählt Reyer das Leben der Johanna von der Kindheit in Domremy bis zum Tod auf dem Scheiterhaufen in Rouen aus einer psychologischen Innensicht heraus. Ausufernde, bildgewaltige, rauschhafte Beschreibungen ihrer seelischen Zustände führen den Leser in ebenjenen Sog der Faszination, dem sich auch Loyseleur überfordert ausgesetzt sieht.
Die sprachlichen Möglichkeiten Reyers, die neben dem Bücherschreiben auch noch Musik komponiert und Theater macht, scheinen unbegrenzt. Die Bilder strömen nur so aus ihr heraus: "Gott ist eine Geranie, kommt in Massen und überschwemmt sie, rosa und schreiend, ja, eine Blumenflut, er ist eine Sonne, die sich in trägen, schwülen Wellen auf sie herab ergießt." Diese Sprachflut ist überwältigend, manchmal vielleicht zu ausufernd, und nicht alle Bilder gelingen: "Sie ist mit einem Mal eine Drehtür ohne Richtung." Diese Metapher wirkt im mittelalterlichen Setting des Romans doch eher deplatziert.
Ihre Inspiration zieht die intensiv empfindende Johanna des Romans aus mehreren Quellen, als da sind: ihre altersweise Großmutter, eine märchenhaft beseelte Natur mit Feenbäumen und Angstgeistern, der fürsorgliche Erzengel Michael und schließlich Gott selbst - als Kriegstreiber: "Du musst kämpfen Johanna!" In seiner Figur offenbart sich das größere kosmische Feuer, auf das es Reyer anzukommen scheint und das Johannas Seele entzündet. Es ist der ewige Kreislauf von Entflammen und Erlöschen, das Grundprinzip von Werden und Vergehen. Dieses verkörpert und garantiert zugleich der Gott Johannas - und bringt so den Krieg hervor, macht ihn gar notwendig.
Es ist dieser ewige Kampf von Leben und Sterben, an dem sich Sophie Reyers Johanna abarbeitet. Ihren jugendlichen Widerstand gegen das Sterben und Töten gibt sie auf, als sie schließlich gegen die Engländer in den Krieg zieht. Dort gerät sie in einen Blutrausch, "Johanna brennt und wütet", sie entwickelt Allmachtsphantasien. Mit diesem Exzess verstößt sie aber ebenso gegen das natürliche Gleichgewicht wie mit ihrer anfänglichen Verweigerungshaltung. Johannas Seele entflammt nicht nur, sie verbrennt im Feuer des Krieges.
Damit verändert sich auch Reyers Sprache. Sie kühlt ab, geht über zu einem fast schon sachlich nüchternen Stil: "Compiègne indes wird von den Burgundern belagert. Johanna beschließt sich dorthin zu begeben, am 13. Mai 1429 trifft sie in der Stadt ein." Und wird im anschließenden Kampf mit den Burgundern gefangen genommen. Die inhaftierte Johanna ist dann nur noch wie das Glimmen nach einer großen Feuersbrunst. Nur an wenigen Stellen lodern die Flammen nochmals auf, beispielsweise wenn sie sich im Verhör gedemütigt sieht.
Johanna ist nun aber zerbrechlich. Im Krieg hatte sie sich, so beschreibt es Reyer, einen Panzer um ihre Seele gelegt, gegen alles Mitleid und alle Zweifel. Doch in diesem Panzer versteht sie sich selbst nicht mehr. Nicolas Loyseleur ist als ihr befohlener Freund im Kerker Augenzeuge dieses Prozesses und droht mit seiner sich erwartbar entwickelnden Zuneigung zu Johanna selbst daran zu verzweifeln.
Johannas Tod auf dem Scheiterhaufen beschreibt Reyer aus den beiden bekannten Perspektiven: Loyseleurs trostloses und verzweifeltes Miterleben ihres unwürdigen Endes rahmt die eigentliche Todesszene. Diese erlebt der Leser mit Johanna quasi aus der Mitte des Scheiterhaufens heraus. Die Szene gerät zur abschließenden sprachlichen Ekstase Reyers in fast biblischem Tonfall: "Entsetzlich dröhnt die Erde. Der Himmel gießt sich aus, die Flüsse heben sich schäumend in ihr." Übrig bleibt der bekannten Sage entsprechend Johannas unverbrennbares Herz.
Dem Leser wiederum bleibt nach der Lektüre von "1431" eine Johanna, in der die Urkräfte miteinander ringen: Tod und Leben, Gott, Menschen, Natur, Mitleid und Zorn. Die große Historie gerät so bei Reyer in den Hintergrund. Ihr geht es nicht um die Heldengeschichte der Jungfrau von Orleans, nicht um den großen Kampf von England und Frankreich im Hundertjährigen Krieg. "1431" ist, wenngleich im Hinblick auf den historischen Hintergrund solide recherchiert, kein historischer Roman im engeren Sinne. Er fokussiert sich ganz und gar auf Johannas Person, Empfinden und Erleben. Reyer behandelt an ihr die großen Fragen der menschlichen Seele und des kosmischen Seins, in gewaltiger Bildsprache, wie im Rauschen eines lodernden Feuers. PHILIP SCHÄFER
Sophie Reyer: "1431". Roman.
Czernin Verlag, Wien 2021. 240 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wenn die angeklagte Drehtür die Richtung verliert: In ihrem Roman "1431" beleuchtet Sophie Reyer sprachgewaltig und metaphernreich das kurze Leben und spektakuläre Sterben der Jungfrau von Orleans.
Nicolas Loyseleur versucht sie zu verstehen. Der Geistliche wurde von seinem Dienstherrn, dem Bischof von Beauvais, damit beauftragt, das Vertrauen Jeanne d'Arcs zu gewinnen, um sie zu einem Geständnis zu überreden. Stundenlang sitzt er bei ihr in der Zelle, beschenkt sie mit etwas Brot, führt Gespräche, erteilt Ratschläge und gerät in ihrem Beisein in einen Sog aus Faszination und wechselhaften Gefühlen für Johanna. Die junge Frau jedoch wird ihm ein Mysterium. Ebenso ergeht es Johanna selbst - und auch dem Leser von Sophie Reyers neuem Roman "1431".
Das Buch, das das Sterbejahr der heiligen Johanna im Titel führt, fokussiert sich aus zwei im Schriftbild strikt getrennten und einander gegenübergestellten Perspektiven ganz auf seine Hauptfigur: Mit den Augen, Ohren, Händen, Gefühlen und Gedanken Loyseleurs nimmt der Leser die gefangene Johanna und die Ereignisse um ihren Prozess in Rouen wahr. Im Kontrast dazu erzählt Reyer das Leben der Johanna von der Kindheit in Domremy bis zum Tod auf dem Scheiterhaufen in Rouen aus einer psychologischen Innensicht heraus. Ausufernde, bildgewaltige, rauschhafte Beschreibungen ihrer seelischen Zustände führen den Leser in ebenjenen Sog der Faszination, dem sich auch Loyseleur überfordert ausgesetzt sieht.
Die sprachlichen Möglichkeiten Reyers, die neben dem Bücherschreiben auch noch Musik komponiert und Theater macht, scheinen unbegrenzt. Die Bilder strömen nur so aus ihr heraus: "Gott ist eine Geranie, kommt in Massen und überschwemmt sie, rosa und schreiend, ja, eine Blumenflut, er ist eine Sonne, die sich in trägen, schwülen Wellen auf sie herab ergießt." Diese Sprachflut ist überwältigend, manchmal vielleicht zu ausufernd, und nicht alle Bilder gelingen: "Sie ist mit einem Mal eine Drehtür ohne Richtung." Diese Metapher wirkt im mittelalterlichen Setting des Romans doch eher deplatziert.
Ihre Inspiration zieht die intensiv empfindende Johanna des Romans aus mehreren Quellen, als da sind: ihre altersweise Großmutter, eine märchenhaft beseelte Natur mit Feenbäumen und Angstgeistern, der fürsorgliche Erzengel Michael und schließlich Gott selbst - als Kriegstreiber: "Du musst kämpfen Johanna!" In seiner Figur offenbart sich das größere kosmische Feuer, auf das es Reyer anzukommen scheint und das Johannas Seele entzündet. Es ist der ewige Kreislauf von Entflammen und Erlöschen, das Grundprinzip von Werden und Vergehen. Dieses verkörpert und garantiert zugleich der Gott Johannas - und bringt so den Krieg hervor, macht ihn gar notwendig.
Es ist dieser ewige Kampf von Leben und Sterben, an dem sich Sophie Reyers Johanna abarbeitet. Ihren jugendlichen Widerstand gegen das Sterben und Töten gibt sie auf, als sie schließlich gegen die Engländer in den Krieg zieht. Dort gerät sie in einen Blutrausch, "Johanna brennt und wütet", sie entwickelt Allmachtsphantasien. Mit diesem Exzess verstößt sie aber ebenso gegen das natürliche Gleichgewicht wie mit ihrer anfänglichen Verweigerungshaltung. Johannas Seele entflammt nicht nur, sie verbrennt im Feuer des Krieges.
Damit verändert sich auch Reyers Sprache. Sie kühlt ab, geht über zu einem fast schon sachlich nüchternen Stil: "Compiègne indes wird von den Burgundern belagert. Johanna beschließt sich dorthin zu begeben, am 13. Mai 1429 trifft sie in der Stadt ein." Und wird im anschließenden Kampf mit den Burgundern gefangen genommen. Die inhaftierte Johanna ist dann nur noch wie das Glimmen nach einer großen Feuersbrunst. Nur an wenigen Stellen lodern die Flammen nochmals auf, beispielsweise wenn sie sich im Verhör gedemütigt sieht.
Johanna ist nun aber zerbrechlich. Im Krieg hatte sie sich, so beschreibt es Reyer, einen Panzer um ihre Seele gelegt, gegen alles Mitleid und alle Zweifel. Doch in diesem Panzer versteht sie sich selbst nicht mehr. Nicolas Loyseleur ist als ihr befohlener Freund im Kerker Augenzeuge dieses Prozesses und droht mit seiner sich erwartbar entwickelnden Zuneigung zu Johanna selbst daran zu verzweifeln.
Johannas Tod auf dem Scheiterhaufen beschreibt Reyer aus den beiden bekannten Perspektiven: Loyseleurs trostloses und verzweifeltes Miterleben ihres unwürdigen Endes rahmt die eigentliche Todesszene. Diese erlebt der Leser mit Johanna quasi aus der Mitte des Scheiterhaufens heraus. Die Szene gerät zur abschließenden sprachlichen Ekstase Reyers in fast biblischem Tonfall: "Entsetzlich dröhnt die Erde. Der Himmel gießt sich aus, die Flüsse heben sich schäumend in ihr." Übrig bleibt der bekannten Sage entsprechend Johannas unverbrennbares Herz.
Dem Leser wiederum bleibt nach der Lektüre von "1431" eine Johanna, in der die Urkräfte miteinander ringen: Tod und Leben, Gott, Menschen, Natur, Mitleid und Zorn. Die große Historie gerät so bei Reyer in den Hintergrund. Ihr geht es nicht um die Heldengeschichte der Jungfrau von Orleans, nicht um den großen Kampf von England und Frankreich im Hundertjährigen Krieg. "1431" ist, wenngleich im Hinblick auf den historischen Hintergrund solide recherchiert, kein historischer Roman im engeren Sinne. Er fokussiert sich ganz und gar auf Johannas Person, Empfinden und Erleben. Reyer behandelt an ihr die großen Fragen der menschlichen Seele und des kosmischen Seins, in gewaltiger Bildsprache, wie im Rauschen eines lodernden Feuers. PHILIP SCHÄFER
Sophie Reyer: "1431". Roman.
Czernin Verlag, Wien 2021. 240 S., geb., 22,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Philip Schäfer ergötzt sich an der bildgewaltigen Sprache in Sophie Reyers Roman über Johanna von Orleans. Auch wenn die biblische Metaphernwut mitunter mit der Autorin durchzugehen scheint und zeitfremde Bilder den Rezensenten irritieren - meistens lässt Schäfer sich mitreißen von Johannas Erleben und Empfinden, das die Autorin aus der Innensicht schildert. Das innere Ringen der Jungfrau mit Gott und Tod, Leben und Natur steht im Buch im Vordergrund, erklärt Schäfer. Auch wenn Reyer die geschichtlichen Fakten "solide" recherchiert hat, ein historischer Roman ist daraus nicht geworden, meint er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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