Dag Solstad selbst ist der Protagonist dieses Romans, der mit einem Flug nach Frankfurt beginnt. Solstad studiert beim Blick aus dem Fenster die Wolkenformationen: "Ich schaute auf die paradiesische Landschaft und fand es selbstverständlich, innerhalb dieses sphärischen Panoramas Engel, Fabelwesen und allegorische Vorstellungen zu sehen." 2001 wohnt Dag Solstad in einer Wohnung am Maybachufer 8 in Berlin. Auf Streifzügen durch die Berliner Straßen lässt sich auch der Autor Dag Solstad zunehmend einkreisen. Hier finden sich Momente des Glücks und der Ruhe, aber auch der Angst und der Verzweiflung. Der Roman führt uns weiter nach Lillehammer und in sein Elternhaus in Sandefjord.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.10.2020Mann ohne
Vergangenheit
„Ich befand mich einfach hier“:
Dag Solstads Berlin-Roman „16.7.41“
VON WOLFGANG HOTTNER
Seit einigen Jahren beschreibt sich Dag Solstad selbst als aktiven Schriftsteller im Ruhestand. In dieser so komfortablen wie paradoxen Situation brauche er keine Romane mehr zu schreiben, würde es dennoch passieren, müssten diese schon von selbst zu ihm gekommen. Gelassener kann man mit dem eigenen Spätwerk kaum umgehen. Solstads Rolle als überragende Figur der norwegischen Gegenwartsliteratur ist längst unbestritten, für seine schriftstellerischen Verdienste erhält er vom norwegischen König gar eine steuerfreie Jahresrente. Wenn er doch noch schreibt, entstehen ‚Ausnahmeromane‘, wie Solstad seine nach der Jahrtausendwende erschienen Bücher bezeichnet. Der erste dieser glücklichen Zufälle ist der autobiografische Roman „16.7.41“, der bereits 2002 auf Norwegisch erschienen ist. Es ist der Versuch, sich selbst und dem eigenen Schreiben auf die Spur zu kommen, mehr noch: in einer schonungslosen Selbstanalyse das eigene Schreiben noch einmal neu zu entwerfen.
Die skurril-fantastische Eingangsepisode, in der Solstad sein verstorbener Vater als Engel erscheint, kann nicht darüber hinwegtäuschen: Hier geht es ums Ganze, um die eigenen psychologischen Untiefen, um Verdrängtes und Vergessenes. „16.7.41“ ist ein Erinnerungsbuch, es überschreibt die leere Abstraktheit des bloßen Geburtsdatums mit einer ‚eigenen‘ Geschichte: In was wird man hineingeboren, warum wird jemand Schriftsteller, woher kommen all diese Geschichten? Solstad gibt nicht vor, darauf eindeutige Antworten zu haben, vielmehr beleuchtet er Zufälliges, Ungeplantes und Schicksalhaftes in seinem Leben. Die lose verbundenen Episoden erweisen sich als Suchbewegungen, Reflexionen auf das Finden und Versäumen des Glücks, auf das Wesen „paradiesische(r) Zustände“ und die Unmöglichkeit diese zu bewahren. Zusammengehalten wird alles von Solstads eindringlicher Erzählstimme, die, repetitiv und zugleich fließend, bei aller thematischen Schwere wunderbar leicht klingt.
Solstads Annäherung an sich selbst ist umwegig, durchzogen von Brüchen und Varianten, von verfußnoteten Zweifeln am Haupttext. Nach der anfänglichen Begegnung mit dem väterlichen Engel erzählt Solstad zunächst von seiner Zeit in Berlin. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin Therese Bjørneboe (Herausgeberin der wichtigsten norwegischen Theaterzeitschrift „Norsk Shakespeare Tidskrift“) zieht er im Jahr 2000 ans Maybachufer in Kreuzberg. Er wird dabei zum „Zeugen“ einer Stadt im Um- und Aufbruch, lässt sich begeistern von der Energie , die die neue Hauptstadt verströmt. Es sind die arm-aber-sexy-Jahre, die Wohnungen und Ateliers sind billig, die Kultur- und Clublandschaft steht in voller Blüte. Auch Solstad folgt zur Jahrtausendwende dem Lockruf „Nach Berlin!“ , die Gründe für den Umzug selbst bleiben ihm, wie so vieles andere in seinem Leben, schleierhaft: „Warum ich mich hier befand, fragte ich mich nicht. Dafür gab es keinen Grund. Ich befand mich einfach hier. Einen besonderen Anlass gab es nicht dafür nicht, und schon gar keinen literarischer Art. Ich war nicht auf der Flucht. Es gab nichts in Berlin, was ich in Erfahrung bringen und weshalb ich hier wohnen müsste. Ich war keineswegs auf der Suche. Ich suchte nicht nach etwas oder jemanden. Ich hatte hier keinen Auftrag. Keine Unternehmung, fiktiv oder real, hatte mich hergeführt, sei es als Ende einer Etappe oder als ihr endgültiges Ziel. Ich war nicht hier, um das Deutschtum zu erforschen. Oder den Berlin-Begriff. Ich sprach kein Deutsch und wusste auch, dass ich es nicht lernen würde.“
Solstad lässt sich treiben, spaziert kreuz und quer durch diverse Kieze, findet ständig neue Wege, Umwege und Abkürzungen, nimmt seine neue Umgebung hypergenau wahr. In seinen ziellosen Wanderungen folgt er dem früheren Mauerverlauf, wundert sich über den Kurfürstendamm und den Berliner Westen an sich („Wie sehr kann man dem KaDeWe eigentlich trauen?“), zählt leer stehende Wohnungen in Marzahn. Walter Benjamins Anleitung zum Verlaufen aus der Berliner Kindheit um Neunzehnhundert wird Solstad zum Credo: „Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung.“ Es ist eine Freude Solstad bei diesem Lernprozess zu begleiten, erlebt er in diesen Irrgängen doch zweierlei: das Glück des Langzeittouristen, für den der fremde Alltag zum „ästhetischen Erlebnis“ wird sowie eine im Grunde rätselhafte Stadt, die ihr Geheimnis zu verbergen sucht, ihre Schönheit nicht direkt zur Schau stellt: „Es dauert, bis man Berlin kennt oder erkennt.“
Das Interessante an Solstads leicht distanzierten Beobachtungen ist sein idiosynkratrischer Blick. Er kommt ohne die einer deutschen Perspektive notwendig eingeschriebene Ost-West-Dichotomie aus, ist frei von einer nostalgischen Verklärung dieser sogenannten ‚goldenen Jahre‘ Berlins. Bei aller Faszination für die Stadt entgehen ihm deren Probleme nicht – dass hier zwar überall gebaut, aber nichts fertig wird, die allgegenwärtigen Berliner Baukräne so langsam arbeiten, „dass man es mit bloßem Auge nicht erkennen kann“, dass sowohl das seelenlose Sony Center am Potsdamer Platz, als auch der geplante Wiederaufbau des Stadtschlosses die durch diverse Umbrüche entstandenen Lücken nicht zu füllen vermögen.
Für Solstad ist klar, das Stadtschloss wird eben „nie etwas anderes als ein Pappschloss sein, wie viele Steine man auch zu spendieren bereit ist.“ Solstad beschreibt Berlin als Hauptstadt des 20. Jahrhundert, die sich an dessen Ende noch einmal neu zu erfinden sucht: „Innerhalb von achtzig Jahren waren vier Reiche untergegangen, alle mit Berlin als Hauptstadt. Das Kaiserreich. Die Weimarer Republik. Nazi Deutschland. Die DDR. Alle Reiche haben ihre Spuren hinterlassen.“ Doch möglicherweise, deutet Solstad an, hat sich das Utopische an Berlin bereits überlebt. Ist doch die unaufhaltsame Musealisierung und Verkitschung dieser Spuren sowie der Ausverkauf der Stadt am Anfang der Nullerjahre bereits in vollem Gang, das Paradies nur von kurzer Dauer.
Konnte sich Solstad in Berlin als „Mann ohne Vergangenheit“ fühlen, holt ihn diese in seiner Heimat und im zweiten Teil des Romans umso unerbittlicher ein. Die Rückkehr nach Norwegen entpuppt sich als eine „Reise in die Vergangenheit“. Im Zentrum der tiefenpsychologischen Expeditionen in die Geburtsstadt und der dort lauernden Dämonen steht die Frage, wie ein Junge aus ärmlichen Verhältnissen Schriftsteller werden konnte. „Welche Leidenschaft hat (…)mein Leben gesteuert, seit meiner Jugend (…)?“
Der Versuch einer Antwort wird zur Irrfahrt, die in scharfem Kontrast zu den glücklichen Berliner Wanderungen steht. Wegen eines Klassentreffens kommt Solstad zurück nach Sandefjord, eine Kleinstadt rund 120 Kilometer südlich von Oslo. Schon auf der Zugfahrt erscheint ihm die vermeintlich heimische Landschaft fremd: „Ist das hier meine Landschaft? Ich habe sie zumindest nie beschrieben, und ich kann beim besten Willen nicht erkennen, dass sie ein Fundament meiner Dichtung bildet.“
Weil er vergessen hat, wo genau das Klassentreffen stattfinden sollte, verpasst er das Fest und sucht die Stadt nach den alten Kameraden ab. Viel zu spät und sturzbetrunken entdeckt er sie feiernd in seinem eigenen Elternhaus, wagt sich aber nicht hinein. Überwältigt von der Erinnerung an das tragische Leben seines Vaters – einem gescheiterten Geschäftsmann, religiösem Fantasten und erfolglosen Erfinder – verharrt er draußen, in der Nacht. Was folgt ist das Portrait des Schriftstellers als kleines Kind, eine Urszene. Doch dem vermeintlichen Schlüssel zur eigenen Autorschaft, den Solstad in der ausführlichen und literarisch herausragenden Schilderung seines Verhältnisses zu seinem Vater liefert, ist nicht zu trauen. Solstad ist an diesem Punkt des Romans längst nicht mehr nur er selbst, sondern auch zu einer seiner Romanfiguren geworden, einer jener aus der Zeit gefallenen Figuren, die nie wirklich in die eigene Gegenwart passen.
„16.7.41“ ist Solstads ungewöhnlichstes Buch, scheinbar mühelos springt es zwischen diversen Registern. Zwischen Traumdeutung, Reiseführer und Poetikvorlesung entkommt der Roman der eigentlichen Frage nach dem Ich und seinem Gewordensein immer wieder. In Solstads „Begegnung mit der Zeit“ verpuffen stets alle Gewissheiten über seine Person, ist es immer schon zu früh oder zu spät: „In gewisser Weise liegt meine Vergangenheit, also das Leben, das ich hinter mir habe, ebenso sehr im Dunkeln wie die Zukunft, die mich erwartet, ich sehe beides gleich schlecht.“ In dieser perspektivischen Unschärfe liegt die Stärke von Solstads Autobiografie: Sie macht den Blick frei auf einen ewig Unzeitgemäßen, einen großen Erzähler, der sich selbst noch auf der Höhe seiner Kunst das größte Rätsel bleibt.
„Wie sehr kann man
dem KaDeWe
eigentlich noch trauen?“
Sogar auf der Höhe
seiner Kunst bleibt sich
der große Erzähler
Dag Solstad selbst
das größte Rätsel
Dag Solstad:
16.7.41
Aus dem Norwegischen
von Ina Kronenberger.
Dörlemann Verlag,
Zürich 2020.
288 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Vergangenheit
„Ich befand mich einfach hier“:
Dag Solstads Berlin-Roman „16.7.41“
VON WOLFGANG HOTTNER
Seit einigen Jahren beschreibt sich Dag Solstad selbst als aktiven Schriftsteller im Ruhestand. In dieser so komfortablen wie paradoxen Situation brauche er keine Romane mehr zu schreiben, würde es dennoch passieren, müssten diese schon von selbst zu ihm gekommen. Gelassener kann man mit dem eigenen Spätwerk kaum umgehen. Solstads Rolle als überragende Figur der norwegischen Gegenwartsliteratur ist längst unbestritten, für seine schriftstellerischen Verdienste erhält er vom norwegischen König gar eine steuerfreie Jahresrente. Wenn er doch noch schreibt, entstehen ‚Ausnahmeromane‘, wie Solstad seine nach der Jahrtausendwende erschienen Bücher bezeichnet. Der erste dieser glücklichen Zufälle ist der autobiografische Roman „16.7.41“, der bereits 2002 auf Norwegisch erschienen ist. Es ist der Versuch, sich selbst und dem eigenen Schreiben auf die Spur zu kommen, mehr noch: in einer schonungslosen Selbstanalyse das eigene Schreiben noch einmal neu zu entwerfen.
Die skurril-fantastische Eingangsepisode, in der Solstad sein verstorbener Vater als Engel erscheint, kann nicht darüber hinwegtäuschen: Hier geht es ums Ganze, um die eigenen psychologischen Untiefen, um Verdrängtes und Vergessenes. „16.7.41“ ist ein Erinnerungsbuch, es überschreibt die leere Abstraktheit des bloßen Geburtsdatums mit einer ‚eigenen‘ Geschichte: In was wird man hineingeboren, warum wird jemand Schriftsteller, woher kommen all diese Geschichten? Solstad gibt nicht vor, darauf eindeutige Antworten zu haben, vielmehr beleuchtet er Zufälliges, Ungeplantes und Schicksalhaftes in seinem Leben. Die lose verbundenen Episoden erweisen sich als Suchbewegungen, Reflexionen auf das Finden und Versäumen des Glücks, auf das Wesen „paradiesische(r) Zustände“ und die Unmöglichkeit diese zu bewahren. Zusammengehalten wird alles von Solstads eindringlicher Erzählstimme, die, repetitiv und zugleich fließend, bei aller thematischen Schwere wunderbar leicht klingt.
Solstads Annäherung an sich selbst ist umwegig, durchzogen von Brüchen und Varianten, von verfußnoteten Zweifeln am Haupttext. Nach der anfänglichen Begegnung mit dem väterlichen Engel erzählt Solstad zunächst von seiner Zeit in Berlin. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin Therese Bjørneboe (Herausgeberin der wichtigsten norwegischen Theaterzeitschrift „Norsk Shakespeare Tidskrift“) zieht er im Jahr 2000 ans Maybachufer in Kreuzberg. Er wird dabei zum „Zeugen“ einer Stadt im Um- und Aufbruch, lässt sich begeistern von der Energie , die die neue Hauptstadt verströmt. Es sind die arm-aber-sexy-Jahre, die Wohnungen und Ateliers sind billig, die Kultur- und Clublandschaft steht in voller Blüte. Auch Solstad folgt zur Jahrtausendwende dem Lockruf „Nach Berlin!“ , die Gründe für den Umzug selbst bleiben ihm, wie so vieles andere in seinem Leben, schleierhaft: „Warum ich mich hier befand, fragte ich mich nicht. Dafür gab es keinen Grund. Ich befand mich einfach hier. Einen besonderen Anlass gab es nicht dafür nicht, und schon gar keinen literarischer Art. Ich war nicht auf der Flucht. Es gab nichts in Berlin, was ich in Erfahrung bringen und weshalb ich hier wohnen müsste. Ich war keineswegs auf der Suche. Ich suchte nicht nach etwas oder jemanden. Ich hatte hier keinen Auftrag. Keine Unternehmung, fiktiv oder real, hatte mich hergeführt, sei es als Ende einer Etappe oder als ihr endgültiges Ziel. Ich war nicht hier, um das Deutschtum zu erforschen. Oder den Berlin-Begriff. Ich sprach kein Deutsch und wusste auch, dass ich es nicht lernen würde.“
Solstad lässt sich treiben, spaziert kreuz und quer durch diverse Kieze, findet ständig neue Wege, Umwege und Abkürzungen, nimmt seine neue Umgebung hypergenau wahr. In seinen ziellosen Wanderungen folgt er dem früheren Mauerverlauf, wundert sich über den Kurfürstendamm und den Berliner Westen an sich („Wie sehr kann man dem KaDeWe eigentlich trauen?“), zählt leer stehende Wohnungen in Marzahn. Walter Benjamins Anleitung zum Verlaufen aus der Berliner Kindheit um Neunzehnhundert wird Solstad zum Credo: „Sich in einer Stadt nicht zurechtzufinden, heißt nicht viel. In einer Stadt sich aber zu verirren, wie man in einem Walde sich verirrt, braucht Schulung.“ Es ist eine Freude Solstad bei diesem Lernprozess zu begleiten, erlebt er in diesen Irrgängen doch zweierlei: das Glück des Langzeittouristen, für den der fremde Alltag zum „ästhetischen Erlebnis“ wird sowie eine im Grunde rätselhafte Stadt, die ihr Geheimnis zu verbergen sucht, ihre Schönheit nicht direkt zur Schau stellt: „Es dauert, bis man Berlin kennt oder erkennt.“
Das Interessante an Solstads leicht distanzierten Beobachtungen ist sein idiosynkratrischer Blick. Er kommt ohne die einer deutschen Perspektive notwendig eingeschriebene Ost-West-Dichotomie aus, ist frei von einer nostalgischen Verklärung dieser sogenannten ‚goldenen Jahre‘ Berlins. Bei aller Faszination für die Stadt entgehen ihm deren Probleme nicht – dass hier zwar überall gebaut, aber nichts fertig wird, die allgegenwärtigen Berliner Baukräne so langsam arbeiten, „dass man es mit bloßem Auge nicht erkennen kann“, dass sowohl das seelenlose Sony Center am Potsdamer Platz, als auch der geplante Wiederaufbau des Stadtschlosses die durch diverse Umbrüche entstandenen Lücken nicht zu füllen vermögen.
Für Solstad ist klar, das Stadtschloss wird eben „nie etwas anderes als ein Pappschloss sein, wie viele Steine man auch zu spendieren bereit ist.“ Solstad beschreibt Berlin als Hauptstadt des 20. Jahrhundert, die sich an dessen Ende noch einmal neu zu erfinden sucht: „Innerhalb von achtzig Jahren waren vier Reiche untergegangen, alle mit Berlin als Hauptstadt. Das Kaiserreich. Die Weimarer Republik. Nazi Deutschland. Die DDR. Alle Reiche haben ihre Spuren hinterlassen.“ Doch möglicherweise, deutet Solstad an, hat sich das Utopische an Berlin bereits überlebt. Ist doch die unaufhaltsame Musealisierung und Verkitschung dieser Spuren sowie der Ausverkauf der Stadt am Anfang der Nullerjahre bereits in vollem Gang, das Paradies nur von kurzer Dauer.
Konnte sich Solstad in Berlin als „Mann ohne Vergangenheit“ fühlen, holt ihn diese in seiner Heimat und im zweiten Teil des Romans umso unerbittlicher ein. Die Rückkehr nach Norwegen entpuppt sich als eine „Reise in die Vergangenheit“. Im Zentrum der tiefenpsychologischen Expeditionen in die Geburtsstadt und der dort lauernden Dämonen steht die Frage, wie ein Junge aus ärmlichen Verhältnissen Schriftsteller werden konnte. „Welche Leidenschaft hat (…)mein Leben gesteuert, seit meiner Jugend (…)?“
Der Versuch einer Antwort wird zur Irrfahrt, die in scharfem Kontrast zu den glücklichen Berliner Wanderungen steht. Wegen eines Klassentreffens kommt Solstad zurück nach Sandefjord, eine Kleinstadt rund 120 Kilometer südlich von Oslo. Schon auf der Zugfahrt erscheint ihm die vermeintlich heimische Landschaft fremd: „Ist das hier meine Landschaft? Ich habe sie zumindest nie beschrieben, und ich kann beim besten Willen nicht erkennen, dass sie ein Fundament meiner Dichtung bildet.“
Weil er vergessen hat, wo genau das Klassentreffen stattfinden sollte, verpasst er das Fest und sucht die Stadt nach den alten Kameraden ab. Viel zu spät und sturzbetrunken entdeckt er sie feiernd in seinem eigenen Elternhaus, wagt sich aber nicht hinein. Überwältigt von der Erinnerung an das tragische Leben seines Vaters – einem gescheiterten Geschäftsmann, religiösem Fantasten und erfolglosen Erfinder – verharrt er draußen, in der Nacht. Was folgt ist das Portrait des Schriftstellers als kleines Kind, eine Urszene. Doch dem vermeintlichen Schlüssel zur eigenen Autorschaft, den Solstad in der ausführlichen und literarisch herausragenden Schilderung seines Verhältnisses zu seinem Vater liefert, ist nicht zu trauen. Solstad ist an diesem Punkt des Romans längst nicht mehr nur er selbst, sondern auch zu einer seiner Romanfiguren geworden, einer jener aus der Zeit gefallenen Figuren, die nie wirklich in die eigene Gegenwart passen.
„16.7.41“ ist Solstads ungewöhnlichstes Buch, scheinbar mühelos springt es zwischen diversen Registern. Zwischen Traumdeutung, Reiseführer und Poetikvorlesung entkommt der Roman der eigentlichen Frage nach dem Ich und seinem Gewordensein immer wieder. In Solstads „Begegnung mit der Zeit“ verpuffen stets alle Gewissheiten über seine Person, ist es immer schon zu früh oder zu spät: „In gewisser Weise liegt meine Vergangenheit, also das Leben, das ich hinter mir habe, ebenso sehr im Dunkeln wie die Zukunft, die mich erwartet, ich sehe beides gleich schlecht.“ In dieser perspektivischen Unschärfe liegt die Stärke von Solstads Autobiografie: Sie macht den Blick frei auf einen ewig Unzeitgemäßen, einen großen Erzähler, der sich selbst noch auf der Höhe seiner Kunst das größte Rätsel bleibt.
„Wie sehr kann man
dem KaDeWe
eigentlich noch trauen?“
Sogar auf der Höhe
seiner Kunst bleibt sich
der große Erzähler
Dag Solstad selbst
das größte Rätsel
Dag Solstad:
16.7.41
Aus dem Norwegischen
von Ina Kronenberger.
Dörlemann Verlag,
Zürich 2020.
288 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dag Solstad selbst bezeichnet sich seit der Jahrtausendwende als "aktiven Schriftsteller im Ruhestand", weiß Rezensent Wolfgang Hottner. Kann er auch, denn Solstad erhält für seine schriftstellerischen Verdienste vom norwegischen König eine steuerfreie Jahresrente. Seinen Werke leiden darunter nicht, im Gegenteil, versichert der Kritiker, für den dieses im norwegischen Original bereits 2002 erschienene Buch ein Glanzstück der "schonungslosen Selbstanalyse" ist. Er begleitet den norwegischen Autor hier durch jene Jahre, die Solstad mit seiner Frau in Berlin lebte: Das Jahr 2000 ist gerade angebrochen, die Stadt ist im Umbruch - und der Rezensent genießt es, von jenen Berliner Jahren einmal nicht aus der typischen deutschen Ost-West-Perspektive zu lesen. Und so lässt er sich mit dem Autor vom Kadewe zu Potsdamer Platz bis nach Marzahn treiben, teilt dessen Beobachtungen zum geplanten Stadtschloss (Pappschloss!) und blickt zurück auf Berliner Geschichte. Nicht zuletzt ist diese außergewöhnliche Mischung aus "Reiseführer, Poetikvorlesung und Traumdeutung" für Hottner aber auch eine so erinnerungsreiche wie rätselhafte Autobiografie des Autors.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Norwegens Größter« Iris Radisch / Die Zeit