1919. Deutschland unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg. Aufstände. Räterepubliken. Freikorpskämpfe. Versailler Vertrag. Dolchstoß, politischer Mord, Revanche und Nazismus: Hätte Geschichte anders verlaufen können? Soldaten, Rückkehrer, Revolutionäre, Minister, Freikorpskämpfer, Gymnasiasten, Matrosen, Monarchisten, Vertriebene, Verliebte, ein Vagabund, eine Zeitungsverkäuferin: In ihren Geschichten präsentieren sich die tausendfachen Probleme einer Zeit, die von den Explosionen des Krieges erschüttert und von der katastrophalen Niederlage geprägt ist, von Hunger, Massenelend und Kriegsgewinnlern, von fanatischem Nationalismus und sozialrevolutionären Ideen, von militärischer Gewalt und Fantasien freier Liebe. In 1919 fließen Hunderte von Splittern, Szenen und Handlungsverläufen aus zeitgenössischen Romanen, Berichten und Aufsätzen zusammen. Ein Erzählstrom in 123 Kapiteln, der aus den Ideen und Kämpfen der Zeit schöpft, aus trivialen, völkischen, utopischen, dadaistischen, reaktionären, politischen, literarischen und fotografischen Quellen. Ein Spiel mit historischen Möglichkeiten und literarischen Figuren, imaginierten Geschichten und realen Ereignissen, kollektivem Wahn und individuellen Wirklichkeiten. Eine Fiktion, die extreme Positionen vorführt und die Widersprüche der Weimarer Republik zuspitzt, die von Kaiser Wilhelms Glück und Ende erzählt, von der Bruderschaft der Vagabunden und dem Untergang einer Flotte, von den Träumen der Kunst und der Rückkehr deutscher U-Boote. Ein kühnes, überraschendes, ungeheuerliches Werk wider Geschichtsvergessenheit, Fatalismus und blinden Gehorsam. Ein wegweisendes Buch über ein Weltende, das eine Zukunft war.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.03.2019Der Autor schreibt kein einziges Wort
Fürs Stimmenstakkato dieses Buchs sorgen andere: Herbert Kapfers faszinierende Montagefiktion "1919" aus literarischen Phantasmen erzählt die Geschichte eines deutschen Schicksalsjahres.
Wollte man die eigentliche Bezeichnung dieses Buches in voller Umständlichkeit, wie sie sich auf dem Titelblatt im Vorsatz findet, hier nennen, wäre der Rezensionsplatz schon halb gefüllt. Denn Herbert Kapfer hat einen geradezu barocken Titel ersonnen, der alle seine literarischen Zulieferer nennt, samt deren Textgattungen. Und das sind jeweils viele. So viele, dass fast die ganze Titelseite beschrieben ist. Aber wir halten uns der Einfachheit halber an jenen Buchtitel, der Schutzumschlag und Einbandrücken schmückt, und der lautet denkbar knapp "1919". Untertitel: "Fiktion".
Oder doch Gattungsbezeichnung? Herbert Kapfer sagt ja, aber sein Buch ist keine reine Fiktion. Es ist vielmehr eine Interpretation. Eine äußerst ungewöhnliche, weil sie nicht ausgeführt wird, sondern vorgeführt. Durch ein Collageprinzip. Herbert Kapfers "1919" besteht aus lauter fremden Texten, der als Autor ausgewiesene Kompilator hat nach eigenen Angaben kaum fünfzig Wörter selbst darin geschrieben, und auch die nur in der Titelei, also den Überschriften der Kapitel. Deren gibt es knapp mehr als 120, generiert aus rund dreißig Quellen, die nahezu ausschließlich von deutschen Zeitzeugen des Jahres 1919 stammen und noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs publiziert wurden (die einzige Ausnahme ist Heiner Müller, der den Epilog mit einem Text aus dem Jahr 1977 zum Jahr 1945 bestreitet). Die kreative Eigenleistung Herbert Kapfers liegt darin, aus diesen Quellen einzelne Abschnitte herausgelöst und teilweise neu arrangiert zu haben, so dass sich aus dem Stimmenstakkato eine erzählerische Melodie ergibt. Und sogar so etwas wie eine Handlung. Das ist die "Fiktion".
Kapfer, Jahrgang 1954, war bis zu seiner Pensionierung Leiter der Abteilung Hörspiel und Medienkunst beim Bayerischen Rundfunk. Das merkt man dem Kompositionsprinzip von "1919" an, es entspricht der Montage von O-Tönen im Radio, nur dass sie hier zu lesen sind und weitgehend tatsächlich fiktiv, nämlich vorrangig aus Romanen der Zwischenkriegszeit entnommen; nur vereinzelt werden kurze Notizen aus Zeitungen oder Zeitschriften eingeschoben. Das unterscheidet Kapfers Buch auch von dem ähnlich arrangierten "Echolot"-Projekt Walter Kempowskis, in dem ausschließlich Realien versammelt sind: Nachrichtentexte, Tagebuchnotate, Heeresberichte et cetera. Kapfer setzt dagegen auf die erzählerische Kraft der Belletristik und auf die in ihren Texten enthaltene Wirklichkeitsanbindung, die wiederum über Umwege des Phantastischen und Drastischen mehr von der Zeitstimmung des Jahres 1919 wiedergibt, als es die historiographischen Quellen tun.
Diese Überzeugung entstammt noch der Zeit vor Kapfers Radiokarriere. 1988 publizierte er den Band "Umsturz in München - Schriftsteller erzählen die Räterepublik", also so etwas wie eine erste Rate des nunmehr erschienenen Buches. Einige der damals versammelten Stimmen sind jetzt wieder da: Oskar Maria Graf natürlich oder Ernst Toller. Und auch die spätere intensive Beschäftigung Kapfers mit der Dada-Bewegung hat reiche Früchte getragen: Bücher und Pamphlete von Richard Huelsenbeck und Hugo Ball sind geradezu das Rückgrat der neuen Textcollage - so weit, dass man sich als Titel auch eine Anleihe bei den 1920 erschienenen Erinnerungen Huelsenbecks gut hätte vorstellen können, die als "Deutschland muß untergehen!" herauskamen.
Denn der Untergang ist so etwas wie das Leitmotiv des Buchs, metaphorisch, aber auch buchstäblich. Auf dem Umschlag ist ein Foto vom 21. Juni 1919 zu sehen, dem Tag, als die Besatzung der in der schottischen Bucht von Scapa Flow festgesetzten deutschen Kriegsflotte den Großteil ihrer Schiffe selbst versenkte. Ob sie das tat, um die absehbare Auslieferung der Flotte nach dem Abschluss des Versailler Vertrags an die Kriegsgegner zu verhindern, oder weil man (wie die deutschen Marineoffiziere behaupteten) dachte, der Krieg sei wieder ausgebrochen, wird wohl nie zu klären sein. Quer durch Kapfers Buch jedenfalls zieht sich vom Matrosenaufstand des Novembers 1918 bis zum erzählerischen Schlusspunkt am Jahresende 1919 ein ganzer Reigen von maritimen Ereignissen realer wie fiktiver Natur. Vor allem Joseph Delmonts längst vergessener, 1925 publizierter revanchistisch-phantastischer Roman "Die Stadt unter dem Meere" und Werner Scheffs monarchistisches Befreiungsabenteuer "Juan Fernandez" von 1920 machen der Bezeichnung "Fiktion" Ehre.
Kapfer hat etliche solcher erstaunlichen Romane entdeckt, darunter Sophie Hoechstetters melodramatischen "Scheinwerfer", in dem aus dem Baltikum geflohene Deutsche eine Hauptrolle spielen. Im ersten Hauptteil von "1919", der von der Zeit bis zur Münchner Räterepublik erzählt, ist Hoechstetters Buch sogar das heimliche Zentrum; später wird das Thema Baltikum dann wieder aufgenommen durch die Landser-Literatur der Freikorpskämpfer Karl-Matthias Buschbecker und Ernst von Salomon. Die Einbeziehung von Texten des durchaus berüchtigten Salomon zeigt Kapfers Willen, ein umfassendes Bild jener Zeit zu montieren, also Blickwinkel sowohl der extremen Linken wie etwa Erich Mühsams oder des anarchistischen Räuberhauptmanns Max Hoelz als auch der extremen Rechten zuzulassen, zu der hier neben Salomon vor allem Nathanael Jünger zählt, dessen schon 1921 erschienener antisemitischer Roman "Volk in Gefahr" allerdings nur einmal in "1919" zu Wort kommt - wie als Beleg dafür, welchen Rassenhass auch die fiktionale Publizistik der Weimarer Republik zu bieten hatte.
Alle Textteile dieses riesigen Erzählkonvoluts sind im Anhang aufgeschlüsselt, und diese kargen Nachweise lesen sich bisweilen so spannend wie der Text selbst. Zweieinhalb Jahre hat Kapfer an "1919" gearbeitet, aber die Zeit der frühen Weimarer Republik ist ein Lebensthema für ihn. Viele Anregungen bei der Textsuche verdankte er etwa dem "Bücherwurm", einer zeitgenössischen Monatszeitschrift für Bücherfreunde, in der ihn Kritiken und Glossen auf immer neue Spurensuchen in den Bibliotheken führten und manches auch direkt in die Collage übernommen wurde.
Der Fluss einer einzigen großen Geschichte des Jahres 1919 ist auf diese Weise zwar nicht zu erzielen - zu abrupt sind meist die Übergänge von Figuren, Orten, Zeiten -, doch immer wieder gelingen Kapfer erstaunliche Themenbögen. Und auch Mikroanschlüsse, etwa beim letzten Auszug aus Sophie Hoechstetters "Scheinwerfer", der von einem Flug der Hauptperson über das von inneren Konflikten zerrissene Deutschland des Frühjahrs 1919 erzählt. Die letzten Sätze lauten dabei: "Man sah eine Unmenge von Kaplänen und Priester um ein Grab - man glaubte das Miserere zu hören. Dann zerfloss die Stadt. Die eintönige Moorlandschaft kam." Dieser Beschreibung verleiht Kapfer durch den daran direkt anschließenden Text von Ernst Toller mit der berühmten Schilderung seines doppelten Flugzeugabsturzes auf dem Weg von München nach Berlin die Anmutung eines Untergangs, nämlich eines weiteren Absturzes. Solche suggestiven Umwertungen literarischer Inhalte durch neue Nachbarschaft machen das größte Interesse bei der Lektüre von "1919" aus. Kapfer hat mit seinem Buch ein Kunststück geschaffen. Und dabei sagt er doch selbst kein einziges Wort.
ANDREAS PLATTHAUS.
Herbert Kapfer: "1919". Fiktion.
Kunstmann Verlag, München 2019. 423 S., Abb., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fürs Stimmenstakkato dieses Buchs sorgen andere: Herbert Kapfers faszinierende Montagefiktion "1919" aus literarischen Phantasmen erzählt die Geschichte eines deutschen Schicksalsjahres.
Wollte man die eigentliche Bezeichnung dieses Buches in voller Umständlichkeit, wie sie sich auf dem Titelblatt im Vorsatz findet, hier nennen, wäre der Rezensionsplatz schon halb gefüllt. Denn Herbert Kapfer hat einen geradezu barocken Titel ersonnen, der alle seine literarischen Zulieferer nennt, samt deren Textgattungen. Und das sind jeweils viele. So viele, dass fast die ganze Titelseite beschrieben ist. Aber wir halten uns der Einfachheit halber an jenen Buchtitel, der Schutzumschlag und Einbandrücken schmückt, und der lautet denkbar knapp "1919". Untertitel: "Fiktion".
Oder doch Gattungsbezeichnung? Herbert Kapfer sagt ja, aber sein Buch ist keine reine Fiktion. Es ist vielmehr eine Interpretation. Eine äußerst ungewöhnliche, weil sie nicht ausgeführt wird, sondern vorgeführt. Durch ein Collageprinzip. Herbert Kapfers "1919" besteht aus lauter fremden Texten, der als Autor ausgewiesene Kompilator hat nach eigenen Angaben kaum fünfzig Wörter selbst darin geschrieben, und auch die nur in der Titelei, also den Überschriften der Kapitel. Deren gibt es knapp mehr als 120, generiert aus rund dreißig Quellen, die nahezu ausschließlich von deutschen Zeitzeugen des Jahres 1919 stammen und noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs publiziert wurden (die einzige Ausnahme ist Heiner Müller, der den Epilog mit einem Text aus dem Jahr 1977 zum Jahr 1945 bestreitet). Die kreative Eigenleistung Herbert Kapfers liegt darin, aus diesen Quellen einzelne Abschnitte herausgelöst und teilweise neu arrangiert zu haben, so dass sich aus dem Stimmenstakkato eine erzählerische Melodie ergibt. Und sogar so etwas wie eine Handlung. Das ist die "Fiktion".
Kapfer, Jahrgang 1954, war bis zu seiner Pensionierung Leiter der Abteilung Hörspiel und Medienkunst beim Bayerischen Rundfunk. Das merkt man dem Kompositionsprinzip von "1919" an, es entspricht der Montage von O-Tönen im Radio, nur dass sie hier zu lesen sind und weitgehend tatsächlich fiktiv, nämlich vorrangig aus Romanen der Zwischenkriegszeit entnommen; nur vereinzelt werden kurze Notizen aus Zeitungen oder Zeitschriften eingeschoben. Das unterscheidet Kapfers Buch auch von dem ähnlich arrangierten "Echolot"-Projekt Walter Kempowskis, in dem ausschließlich Realien versammelt sind: Nachrichtentexte, Tagebuchnotate, Heeresberichte et cetera. Kapfer setzt dagegen auf die erzählerische Kraft der Belletristik und auf die in ihren Texten enthaltene Wirklichkeitsanbindung, die wiederum über Umwege des Phantastischen und Drastischen mehr von der Zeitstimmung des Jahres 1919 wiedergibt, als es die historiographischen Quellen tun.
Diese Überzeugung entstammt noch der Zeit vor Kapfers Radiokarriere. 1988 publizierte er den Band "Umsturz in München - Schriftsteller erzählen die Räterepublik", also so etwas wie eine erste Rate des nunmehr erschienenen Buches. Einige der damals versammelten Stimmen sind jetzt wieder da: Oskar Maria Graf natürlich oder Ernst Toller. Und auch die spätere intensive Beschäftigung Kapfers mit der Dada-Bewegung hat reiche Früchte getragen: Bücher und Pamphlete von Richard Huelsenbeck und Hugo Ball sind geradezu das Rückgrat der neuen Textcollage - so weit, dass man sich als Titel auch eine Anleihe bei den 1920 erschienenen Erinnerungen Huelsenbecks gut hätte vorstellen können, die als "Deutschland muß untergehen!" herauskamen.
Denn der Untergang ist so etwas wie das Leitmotiv des Buchs, metaphorisch, aber auch buchstäblich. Auf dem Umschlag ist ein Foto vom 21. Juni 1919 zu sehen, dem Tag, als die Besatzung der in der schottischen Bucht von Scapa Flow festgesetzten deutschen Kriegsflotte den Großteil ihrer Schiffe selbst versenkte. Ob sie das tat, um die absehbare Auslieferung der Flotte nach dem Abschluss des Versailler Vertrags an die Kriegsgegner zu verhindern, oder weil man (wie die deutschen Marineoffiziere behaupteten) dachte, der Krieg sei wieder ausgebrochen, wird wohl nie zu klären sein. Quer durch Kapfers Buch jedenfalls zieht sich vom Matrosenaufstand des Novembers 1918 bis zum erzählerischen Schlusspunkt am Jahresende 1919 ein ganzer Reigen von maritimen Ereignissen realer wie fiktiver Natur. Vor allem Joseph Delmonts längst vergessener, 1925 publizierter revanchistisch-phantastischer Roman "Die Stadt unter dem Meere" und Werner Scheffs monarchistisches Befreiungsabenteuer "Juan Fernandez" von 1920 machen der Bezeichnung "Fiktion" Ehre.
Kapfer hat etliche solcher erstaunlichen Romane entdeckt, darunter Sophie Hoechstetters melodramatischen "Scheinwerfer", in dem aus dem Baltikum geflohene Deutsche eine Hauptrolle spielen. Im ersten Hauptteil von "1919", der von der Zeit bis zur Münchner Räterepublik erzählt, ist Hoechstetters Buch sogar das heimliche Zentrum; später wird das Thema Baltikum dann wieder aufgenommen durch die Landser-Literatur der Freikorpskämpfer Karl-Matthias Buschbecker und Ernst von Salomon. Die Einbeziehung von Texten des durchaus berüchtigten Salomon zeigt Kapfers Willen, ein umfassendes Bild jener Zeit zu montieren, also Blickwinkel sowohl der extremen Linken wie etwa Erich Mühsams oder des anarchistischen Räuberhauptmanns Max Hoelz als auch der extremen Rechten zuzulassen, zu der hier neben Salomon vor allem Nathanael Jünger zählt, dessen schon 1921 erschienener antisemitischer Roman "Volk in Gefahr" allerdings nur einmal in "1919" zu Wort kommt - wie als Beleg dafür, welchen Rassenhass auch die fiktionale Publizistik der Weimarer Republik zu bieten hatte.
Alle Textteile dieses riesigen Erzählkonvoluts sind im Anhang aufgeschlüsselt, und diese kargen Nachweise lesen sich bisweilen so spannend wie der Text selbst. Zweieinhalb Jahre hat Kapfer an "1919" gearbeitet, aber die Zeit der frühen Weimarer Republik ist ein Lebensthema für ihn. Viele Anregungen bei der Textsuche verdankte er etwa dem "Bücherwurm", einer zeitgenössischen Monatszeitschrift für Bücherfreunde, in der ihn Kritiken und Glossen auf immer neue Spurensuchen in den Bibliotheken führten und manches auch direkt in die Collage übernommen wurde.
Der Fluss einer einzigen großen Geschichte des Jahres 1919 ist auf diese Weise zwar nicht zu erzielen - zu abrupt sind meist die Übergänge von Figuren, Orten, Zeiten -, doch immer wieder gelingen Kapfer erstaunliche Themenbögen. Und auch Mikroanschlüsse, etwa beim letzten Auszug aus Sophie Hoechstetters "Scheinwerfer", der von einem Flug der Hauptperson über das von inneren Konflikten zerrissene Deutschland des Frühjahrs 1919 erzählt. Die letzten Sätze lauten dabei: "Man sah eine Unmenge von Kaplänen und Priester um ein Grab - man glaubte das Miserere zu hören. Dann zerfloss die Stadt. Die eintönige Moorlandschaft kam." Dieser Beschreibung verleiht Kapfer durch den daran direkt anschließenden Text von Ernst Toller mit der berühmten Schilderung seines doppelten Flugzeugabsturzes auf dem Weg von München nach Berlin die Anmutung eines Untergangs, nämlich eines weiteren Absturzes. Solche suggestiven Umwertungen literarischer Inhalte durch neue Nachbarschaft machen das größte Interesse bei der Lektüre von "1919" aus. Kapfer hat mit seinem Buch ein Kunststück geschaffen. Und dabei sagt er doch selbst kein einziges Wort.
ANDREAS PLATTHAUS.
Herbert Kapfer: "1919". Fiktion.
Kunstmann Verlag, München 2019. 423 S., Abb., geb., 25,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.04.2019Revolution und Ressentiment
Der verlorene Krieg, das Selbstbild der Deutschen und der Beginn der Weimarer Republik: Herbert Kapfers dokumentarische Collage „1919“
Was die Historiografie mitunter übersieht, das Unbewusste geschichtlicher Prozesse, das Unheimliche und Ungreifbare, lässt sich in der Literatur entdecken – als Chronik der Gefühle. In Romanen, Erzählungen, Gedichten überdauern die gesellschaftlichen Stimmungen und Seelenlagen, die vom Strom historischer Ereignisse hervorgeschwemmt und mitgerissen werden. Das gilt nicht nur für die Höhenkammtexte der jeweiligen Epoche, sondern auch und manchmal sogar mehr noch für das Triviale.
Herbert Kapfer hat einen experimentellen Roman über die chaotische Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg verfasst, ohne eine einzige Zeile selbst geschrieben zu haben. Das Buch ist eine Collage aus Aufsätzen, Fotografien, Dokumenten, vornehmlich aber aus zeitgenössischen literarischen Texten, die als Reflex auf die Revolutionsereignisse 1918/19 erschienen sind oder von diesen Tagen handeln – Zeugnisse von Soldaten, kaisertreuen Offizieren, Arbeitern, Schriftstellern.
Nur einige Texte sind auch heute noch bekannt, etwa Ernst Tollers „Eine Jugend in Deutschland“ oder Oskar Maria Grafs „Einer gegen alle“. Auf die meisten der von Kapfer ausgewerteten Schriften hat sich im Laufe eines Jahrhunderts eine dicke Staubschicht gelegt, sie sind, wenn überhaupt, allenfalls in den abgelegeneren Magazinen von Bibliotheken zu finden. Über ihren ästhetischen Rang kann man schnell Einigkeit erzielen: Der Kanonisierung sind sie durch stilistische Grobheiten und den Hang zur Kolportage entronnen. Die Gesinnungs- und Geisteshaltung ihrer Zeit aber haben sie geradezu beängstigend genau eingefangen.
Jene Ressentiments, die nach dem verlorenen Krieg in der Gesellschaft rumorten und zum Scheitern der Weimarer Republik beitrugen, treten in ihnen ebenso zu Tage wie die Wünsche nach Veränderung oder aufständisches Pathos. Die unterschiedlichen Quellen komponiert der ehemalige Leiter der Abteilung Hörspiel und Medienkunst beim Bayerischen Rundfunk zu einem neuen Text, und durch dieses Zitaten-Sampling gelingt es Kapfer, den Leser in den Strudel jener Jahre hineinzuziehen. Der Widerstreit reaktionärer und revolutionärer, sozialdemokratischer und kommunistischer, revanchistischer und republikanischer Positionen verdichtet sich in dieser Quellenmontage, bekommt etwas Bedrängendes.
„1919“ ist ein Panoptikum von Stimmen, und gerade das Zersplitterte, Blitzlichthafte des Buches vermittelt einen Eindruck dieses Epochenbruchs. Eine dieser Stimmen ist die des Freikorps-Kämpfers Karl Matthias Busch, der 1936 unter dem Namen Karl Matthias Buschbecker den Roman „… wie unser Gesetz es befahl“ veröffentlichte. Das pathetische Werk wurde im Dritten Reich mehrfach aufgelegt, was nicht verwundert, denn die Erzählung vom Kampf gegen die Sowjettruppen 1919 im Baltikum passte ideal zur nationalsozialistischen Ideologie vom „Lebensraum im Osten“: „Nach Ostland wollen wir reiten! Vorwärts in das fruchtbare Land in Kurland und an der Düna! Hoch die Fahne an den alten Grenzen der Deutschen Ritter! Ein Land von deutschen Bauern und Soldaten! Eine neue Heimat!“
Die alte Heimat erkannte Nathanael Jünger 1921 in seinem Roman „Volk in Gefahr“ nicht mehr wieder. Jünger, im bürgerlichen Leben unter dem Namen Johann Rump evangelischer Geistlicher, hat dem Genre des deutschnationalen antisemitischen Romans ein paar ziemlich ekelhafte Werke hinzugefügt.
In „Volk in Gefahr“ gibt es einen Hauptmann Mandelsloh, todunglücklich ob des schmachvollen Zustands seines Vaterlandes. Er flüchtet sich zu Goethe und Fichte. Im Judentum erkennt er die Wurzel allen Elends. Sein Sohnemann Gerhard, aus englischer Kriegsgefangenschaft ausgebüxt, teilt die Ansichten seines Erzeugers. Auf seinem Rückweg in heimatliche Gefilde kommt er durch Berlin: „Hanebüchen, sage ich euch! Juden und Judengenossen. Um sie herum aber Volksversammlungen, Straßenaufläufe. Wo geputscht wird, steckt ein Jude dahinter und jüdisches Geld. Ganz Berlin macht ja den Eindruck, Neu-Jerusalem zu sein.“
Nicht alle patriotischen Eltern konnten ihre tapferen Söhne wieder in die Arme schließen. „Am 8. Januar starb den Heldentod auf dem Rückmarsche des Regiments aus der Ukraine von feigen Bolschewisten überfallen unser lieber, braver Sohn, Bruder und Enkel Max Freiherr von Lerchenfeld Leutnant I. Bayr. Ulanen Regiments Ord. Offizier 4. Kav. Brig. im Alter von 23 Jahren“, heißt es in einer Anzeige der Zeitschrift Bücherwurm, die der Konservativen Revolution nahestand.
„Mit Begeisterung hat er 4 ½ Jahre für sein Vaterland gekämpft, dessen selbstverschuldeter Ohnmacht er jetzt zum Opfer fiel. Wohl ihm, daß die Heimkehr ihm erspart blieb. Die Hinterbliebenen.“ Die Dolchstoßlegende wurde früh zu dem Narrativ der Reaktion.
Kriegsgegnern wie dem Dadaisten Richard Huelsenbeck musste es angesichts solcher Zeilen speiübel werden. Die Sprache verschlug es ihm allerdings nicht. Dass schließlich die Sozialdemokraten selbst die deutsche Revolution zerstörten, ließ Huelsenbeck doch die Galle hochkommen. „Die größte Lüge, die man je in die Welt gesetzt hat: in Deutschland sei Revolution gewesen. (…) Eine feiste, breitärschige Verlogenheit dreht hier das Wort im Munde herum, ein infantiles Wissen um die Schlechtigkeit der Welt schafft das Katastrophale: Es werden immer Scheidemänner in diesem Volk bestimmend sein. Am Ende findet sich immer ein Dioskurenpaar, das man in Bronze gießt: Goethe-Schiller, Ebert-Scheidemann. Etwa so: Das stets Verlogene, hier wirds Ereignis, das schlau Verborgene, hier wirds getan. Noch der Bauch Eberts täuscht eine Fülle vor, die nicht vorhanden ist.“
Während das „Volk der Richter und Henker“ sich im „Glanze seines Ruhmes“ streckt und Publizisten wie Huelsenbeck die vertane Revolution betrauern, weinen andere ihrem geliebten Kaiser hinterher oder erschaffen in fantastischen Romanwelten eine leuchtende Zukunft. Joseph Delmont, 1873 geboren als Josef Pollak, lässt in seiner Science-Fiction-Utopie „Stadt unter dem Meere“ eine Gruppe aufrechter Seeleute mit ihrer geheimen U-Boot-Flotte sich auf den Tag vorbereiten, an dem sie Deutschland mit einem Arsenal von Wunderwaffen vom Joch der Unterdrücker befreien kann.
Und es ist auch klar, was dem „Deutschen Reiche“ fehlt: „Der große, der neue Mann! Der imstande war, die Deutschen zusammenzuschweißen. Ihr Nationalgefühl zu wecken. Sie zu nichts anderem als sie sein sollten: zu Deutschen zu machen. Wo bleibt der deutsche Führer?“ Lange ließ er nicht auf sich warten. Wahn und Hybris sind, wie sich erweisen sollte, politisch wunderbar zu verwerten.
Die mehr als 100 Kapitel von Herbert Kapfers Buch machen in ihrer Mischung aus Desillusionierung, Überschwang und Fantastik deutlich, dass vier Jahre Krieg ganze Arbeit geleistet hatten und die Ideologie-Produktion mit dem Ende des Schlachtens keinesfalls zum Erliegen gekommen war. Eher schien sie noch einmal heiß zu laufen. Dass im Jahr 1919 schon ein Vorschein des Jahres 1945 steckt, führt Kapfer mit dem einzigen Text vor, der aus seiner Reihe historischer Zeugnisse herausfällt. Ganz am Ende findet sich ein Ausschnitt aus Heiner Müllers Drama „Germania Tod in Berlin“. Er handelt von einer deutschen Familie, die in Treue zum Führer Selbstmord begeht.
Kapfers Buch ist für die Revolutionsjahre, was Uwe Nettelbecks Montageroman „Der Dolomitenkrieg“ von 1979 für eine unglaubliche Episode im Ersten Weltkrieg war: ein aus Bruchstücken geformter, stringent komponierter, heldenloser Zeitroman. Wie der „Dolomitenkrieg“ in eisiger Prosa den absurden Stellungskampf im Gebirge konserviert hat, so verschmilzt „1919“ die hitzigen Fragmente wahnhafter Illusionen und ungenutzter Möglichkeiten nach Ende des Kriegs. Das Buch mag aber nicht zuletzt auch als Mahnung für unsere von digital-metastasierenden Verschwörungstheorien heimgesuchte Gegenwart taugen.
ULRICH RÜDENAUER
Herbert Kapfer: 1919. Fiktion. Antje Kunstmann Verlag, München 2019. 422 Seiten, 25 Euro.
„Nach Ostland wollen wir reiten!
Vorwärts in das fruchtbare Land
in Kurland und an der Düna!“
Ein Arsenal von Wunderwaffen
befreit im Roman Deutschland
von seinen Unterdrückern
Sektkelche und gute Laune: 1919 war nicht nur ein Jahr der Zäsur, sondern auch der Kontinuität, wie hier im „Foxtrott Club“.
Foto: Archiv Kapfer
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der verlorene Krieg, das Selbstbild der Deutschen und der Beginn der Weimarer Republik: Herbert Kapfers dokumentarische Collage „1919“
Was die Historiografie mitunter übersieht, das Unbewusste geschichtlicher Prozesse, das Unheimliche und Ungreifbare, lässt sich in der Literatur entdecken – als Chronik der Gefühle. In Romanen, Erzählungen, Gedichten überdauern die gesellschaftlichen Stimmungen und Seelenlagen, die vom Strom historischer Ereignisse hervorgeschwemmt und mitgerissen werden. Das gilt nicht nur für die Höhenkammtexte der jeweiligen Epoche, sondern auch und manchmal sogar mehr noch für das Triviale.
Herbert Kapfer hat einen experimentellen Roman über die chaotische Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg verfasst, ohne eine einzige Zeile selbst geschrieben zu haben. Das Buch ist eine Collage aus Aufsätzen, Fotografien, Dokumenten, vornehmlich aber aus zeitgenössischen literarischen Texten, die als Reflex auf die Revolutionsereignisse 1918/19 erschienen sind oder von diesen Tagen handeln – Zeugnisse von Soldaten, kaisertreuen Offizieren, Arbeitern, Schriftstellern.
Nur einige Texte sind auch heute noch bekannt, etwa Ernst Tollers „Eine Jugend in Deutschland“ oder Oskar Maria Grafs „Einer gegen alle“. Auf die meisten der von Kapfer ausgewerteten Schriften hat sich im Laufe eines Jahrhunderts eine dicke Staubschicht gelegt, sie sind, wenn überhaupt, allenfalls in den abgelegeneren Magazinen von Bibliotheken zu finden. Über ihren ästhetischen Rang kann man schnell Einigkeit erzielen: Der Kanonisierung sind sie durch stilistische Grobheiten und den Hang zur Kolportage entronnen. Die Gesinnungs- und Geisteshaltung ihrer Zeit aber haben sie geradezu beängstigend genau eingefangen.
Jene Ressentiments, die nach dem verlorenen Krieg in der Gesellschaft rumorten und zum Scheitern der Weimarer Republik beitrugen, treten in ihnen ebenso zu Tage wie die Wünsche nach Veränderung oder aufständisches Pathos. Die unterschiedlichen Quellen komponiert der ehemalige Leiter der Abteilung Hörspiel und Medienkunst beim Bayerischen Rundfunk zu einem neuen Text, und durch dieses Zitaten-Sampling gelingt es Kapfer, den Leser in den Strudel jener Jahre hineinzuziehen. Der Widerstreit reaktionärer und revolutionärer, sozialdemokratischer und kommunistischer, revanchistischer und republikanischer Positionen verdichtet sich in dieser Quellenmontage, bekommt etwas Bedrängendes.
„1919“ ist ein Panoptikum von Stimmen, und gerade das Zersplitterte, Blitzlichthafte des Buches vermittelt einen Eindruck dieses Epochenbruchs. Eine dieser Stimmen ist die des Freikorps-Kämpfers Karl Matthias Busch, der 1936 unter dem Namen Karl Matthias Buschbecker den Roman „… wie unser Gesetz es befahl“ veröffentlichte. Das pathetische Werk wurde im Dritten Reich mehrfach aufgelegt, was nicht verwundert, denn die Erzählung vom Kampf gegen die Sowjettruppen 1919 im Baltikum passte ideal zur nationalsozialistischen Ideologie vom „Lebensraum im Osten“: „Nach Ostland wollen wir reiten! Vorwärts in das fruchtbare Land in Kurland und an der Düna! Hoch die Fahne an den alten Grenzen der Deutschen Ritter! Ein Land von deutschen Bauern und Soldaten! Eine neue Heimat!“
Die alte Heimat erkannte Nathanael Jünger 1921 in seinem Roman „Volk in Gefahr“ nicht mehr wieder. Jünger, im bürgerlichen Leben unter dem Namen Johann Rump evangelischer Geistlicher, hat dem Genre des deutschnationalen antisemitischen Romans ein paar ziemlich ekelhafte Werke hinzugefügt.
In „Volk in Gefahr“ gibt es einen Hauptmann Mandelsloh, todunglücklich ob des schmachvollen Zustands seines Vaterlandes. Er flüchtet sich zu Goethe und Fichte. Im Judentum erkennt er die Wurzel allen Elends. Sein Sohnemann Gerhard, aus englischer Kriegsgefangenschaft ausgebüxt, teilt die Ansichten seines Erzeugers. Auf seinem Rückweg in heimatliche Gefilde kommt er durch Berlin: „Hanebüchen, sage ich euch! Juden und Judengenossen. Um sie herum aber Volksversammlungen, Straßenaufläufe. Wo geputscht wird, steckt ein Jude dahinter und jüdisches Geld. Ganz Berlin macht ja den Eindruck, Neu-Jerusalem zu sein.“
Nicht alle patriotischen Eltern konnten ihre tapferen Söhne wieder in die Arme schließen. „Am 8. Januar starb den Heldentod auf dem Rückmarsche des Regiments aus der Ukraine von feigen Bolschewisten überfallen unser lieber, braver Sohn, Bruder und Enkel Max Freiherr von Lerchenfeld Leutnant I. Bayr. Ulanen Regiments Ord. Offizier 4. Kav. Brig. im Alter von 23 Jahren“, heißt es in einer Anzeige der Zeitschrift Bücherwurm, die der Konservativen Revolution nahestand.
„Mit Begeisterung hat er 4 ½ Jahre für sein Vaterland gekämpft, dessen selbstverschuldeter Ohnmacht er jetzt zum Opfer fiel. Wohl ihm, daß die Heimkehr ihm erspart blieb. Die Hinterbliebenen.“ Die Dolchstoßlegende wurde früh zu dem Narrativ der Reaktion.
Kriegsgegnern wie dem Dadaisten Richard Huelsenbeck musste es angesichts solcher Zeilen speiübel werden. Die Sprache verschlug es ihm allerdings nicht. Dass schließlich die Sozialdemokraten selbst die deutsche Revolution zerstörten, ließ Huelsenbeck doch die Galle hochkommen. „Die größte Lüge, die man je in die Welt gesetzt hat: in Deutschland sei Revolution gewesen. (…) Eine feiste, breitärschige Verlogenheit dreht hier das Wort im Munde herum, ein infantiles Wissen um die Schlechtigkeit der Welt schafft das Katastrophale: Es werden immer Scheidemänner in diesem Volk bestimmend sein. Am Ende findet sich immer ein Dioskurenpaar, das man in Bronze gießt: Goethe-Schiller, Ebert-Scheidemann. Etwa so: Das stets Verlogene, hier wirds Ereignis, das schlau Verborgene, hier wirds getan. Noch der Bauch Eberts täuscht eine Fülle vor, die nicht vorhanden ist.“
Während das „Volk der Richter und Henker“ sich im „Glanze seines Ruhmes“ streckt und Publizisten wie Huelsenbeck die vertane Revolution betrauern, weinen andere ihrem geliebten Kaiser hinterher oder erschaffen in fantastischen Romanwelten eine leuchtende Zukunft. Joseph Delmont, 1873 geboren als Josef Pollak, lässt in seiner Science-Fiction-Utopie „Stadt unter dem Meere“ eine Gruppe aufrechter Seeleute mit ihrer geheimen U-Boot-Flotte sich auf den Tag vorbereiten, an dem sie Deutschland mit einem Arsenal von Wunderwaffen vom Joch der Unterdrücker befreien kann.
Und es ist auch klar, was dem „Deutschen Reiche“ fehlt: „Der große, der neue Mann! Der imstande war, die Deutschen zusammenzuschweißen. Ihr Nationalgefühl zu wecken. Sie zu nichts anderem als sie sein sollten: zu Deutschen zu machen. Wo bleibt der deutsche Führer?“ Lange ließ er nicht auf sich warten. Wahn und Hybris sind, wie sich erweisen sollte, politisch wunderbar zu verwerten.
Die mehr als 100 Kapitel von Herbert Kapfers Buch machen in ihrer Mischung aus Desillusionierung, Überschwang und Fantastik deutlich, dass vier Jahre Krieg ganze Arbeit geleistet hatten und die Ideologie-Produktion mit dem Ende des Schlachtens keinesfalls zum Erliegen gekommen war. Eher schien sie noch einmal heiß zu laufen. Dass im Jahr 1919 schon ein Vorschein des Jahres 1945 steckt, führt Kapfer mit dem einzigen Text vor, der aus seiner Reihe historischer Zeugnisse herausfällt. Ganz am Ende findet sich ein Ausschnitt aus Heiner Müllers Drama „Germania Tod in Berlin“. Er handelt von einer deutschen Familie, die in Treue zum Führer Selbstmord begeht.
Kapfers Buch ist für die Revolutionsjahre, was Uwe Nettelbecks Montageroman „Der Dolomitenkrieg“ von 1979 für eine unglaubliche Episode im Ersten Weltkrieg war: ein aus Bruchstücken geformter, stringent komponierter, heldenloser Zeitroman. Wie der „Dolomitenkrieg“ in eisiger Prosa den absurden Stellungskampf im Gebirge konserviert hat, so verschmilzt „1919“ die hitzigen Fragmente wahnhafter Illusionen und ungenutzter Möglichkeiten nach Ende des Kriegs. Das Buch mag aber nicht zuletzt auch als Mahnung für unsere von digital-metastasierenden Verschwörungstheorien heimgesuchte Gegenwart taugen.
ULRICH RÜDENAUER
Herbert Kapfer: 1919. Fiktion. Antje Kunstmann Verlag, München 2019. 422 Seiten, 25 Euro.
„Nach Ostland wollen wir reiten!
Vorwärts in das fruchtbare Land
in Kurland und an der Düna!“
Ein Arsenal von Wunderwaffen
befreit im Roman Deutschland
von seinen Unterdrückern
Sektkelche und gute Laune: 1919 war nicht nur ein Jahr der Zäsur, sondern auch der Kontinuität, wie hier im „Foxtrott Club“.
Foto: Archiv Kapfer
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