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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
aus St. Pauli
Die Sozialistin Larissa Reissner hat die Weimarer
Republik so modern beschrieben wie nur wenige. Einige
ihrer Reportagen liegen nun auf Deutsch vor.
VON HILMAR KLUTE
Die Weimarer Republik mit ihrer stets wankenden politischen Stabilität, ihrer gesellschaftlichen Modernität und angeblichen kulturellen Diversität ist seit einer guten Weile ein Referenzgebilde unserer verunsicherten 2020er Jahre. Opulente Serien und Biopics, Neuverfilmungen damaliger Romanerfolge wie Kästners „Fabian“ sowie die kontinuierliche Wiederentdeckung von Autorinnen und Journalistinnen jener Jahre nähren den Mythos oft auch auf Kosten der historischen Authentizität. Mitunter erwiesen sich die Wiedererweckungen als mäßig erfolgreich, wie im Fall der Reporterin Maria Leitner. Geglückt und anhaltend dagegen ist bis heute die Renaissance der heute noch gut lesbaren Feuilletons der klugen Journalistin und – eher mäßigen – Romanautorin Gabriele Tergit, die mit immer neuen Editionen und Auskoppelungen in Gang gehalten wird.
Nun ist bei Rowohlt eine Auswahl von Reportagen der aus Deutschland stammenden sowjetrussischen Autorin Larissa Reissner erschienen, ausgewählt und mit einem sehr ausführlichen biografischen Abriss versehen von Steffen Kopetzky. Der Schriftsteller hatte zuletzt einen Roman („Damenopfer“, 2023) über das zwischen russischer Revolution und Berliner Gesellschaftsleben rasch verglühende Leben der Journalistin geschrieben, die, folgt man Kopetzkys emphatischem Vorwort zur aktuellen Textauswahl, eine Art Revolutions-Amazone gewesen ist, deren weiblicher Heroismus von Zeitzeugen beschrieben, schon schwer angekitscht in die biografischen Überlieferungen einzieht.
Befreundet war sie mit den linken Granden ihrer Zeit, liiert mit dem später im Gulag untergegangenen Karl Radek, der mit Trotzki von den „Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa“ träumte. Als in Hamburg die Werftarbeiter einen bewaffneten Aufstand riskierten, stellten sie rasch fest, dass es mit der Solidarität der Genossen aus St. Pauli und Altona nicht sehr weit bestellt war. Larissa Reissner widmete der gescheiterten Revolution ein Stück expressionistischer Komintern-Prosa, deren Pathos die Lektüre befremdlich macht.
Die Fanfaren der Sowjetkommunistin sind deutlich vernehmbar in manchen ihrer Reportagen. Zugleich aber mischt sie einen eigenen, oft mit überraschend schöner Alltagspoesie angereicherten Ton, der die oft tristen, dem Sound der anklagenden Sozialstudien verpflichteten Schilderungen des Elends auf eine frische Ebene hebt. „Wie ein großer, eben gefangener, noch zuckender Fisch liegt Hamburg an der Nordsee.“ Geografisch etwas gewagt ist es doch von erfrischender Anschaulichkeit.
Es gibt unter den Texten Reissners auch solche von genauer Milieukenntnis, wie die Studien über die Armut Berliner Arbeiterfamilien, in denen sie die Sprache der Hoffnungslosen protokolliert: „Ich möchte zu Hause sterben, Herr Doktor. Ich möchte, dass mein Mann das Kind sieht und selbst in die Windeln wickelt.“ Es sind krass konturierte Milieubilder, die Larissa Reissner zeichnet.
Ihre Botschaft ist klar: Die marode Weimarer Republik ist in einen Zustand eingetreten, den nur noch eine kommunistische Revolution zum Guten kehren kann. Man liest diese Skizzen, wie man heute Kohlezeichnungen von Käthe Kollwitz anschaut: ein bisschen bedrückt von der Intensität der Anschauung, zugleich aber erleichtert über ihre zeitliche Entrücktheit. Etwas sarkastisch könnte man sagen, Reissners Sozialreportagen sind ein guter Beleg dafür, dass die Bundesrepublik von heute nicht Weimar ist.
Zu den stärkeren Stücken gehört die titelgebende Reportagenreihe über die „nationalen Heiligtümer“ des ersten Nachkriegsdeutschlands, gemeint sind die gigantisch erfolgreichen Zeitungen und Magazine des Ullstein-Verlags. In diesen kurzen Snapshots beschreibt Larissa Reissner modern, ironisch und analytisch eine Medienrevolution, die Nachrichten zur schnell konsumierten Ware macht und Redakteure zu termingetriebenen Aufzugfahrern – die Türen der Fahrstühle hat man vorsorglich ausgebaut, damit das Kommen und Gehen durchlässiger wird: „Heute bringt Ullstein eine Menge Zeitungen auf die Straße, die alle verschieden gekleidet sind, verschiedene Mundarten sprechen, stets zu anderer Zeit herauskommen und einander nicht stören.“
Dann folgen kleine Porträts der wichtigsten Blätter, originelle Schnellzeichnungen mit fantasievollen Bildern; die B.Z. am Mittag ist eine „kleine Pfütze, in der sich die Welt spiegelt“. Die Medienkritik, die Larissa Reissner an ihre Beobachtungen knüpft, findet ihre Bezugsgröße in der immer noch anvisierten großen Revolution der deutschen Arbeiter, die ihre Delegierten nach Russland schickten, während der Kleinbürger sich als versklavter Ullstein-Leser in die Besinnungslosigkeit unterhalten lässt: „Millionen von Menschen haben sich unter Einwirkung dieser literarischen Narkotika niedermetzeln lassen.“ Schweres Geschütz gegen leichte Kost.
Als klug und weitsichtig erweisen sich Reissners Industriereportagen über die Dessauer Junkerwerke und die Umtriebe der Krupp-Dynastie. Hugo Junkers ursprünglich der zivilen Luftfahrt verschriebenen Forschungsarbeit widmet Reissner eine penible Recherche. Aus der Kenntnis, wie sich die Rohstoffe zu einer Tragfläche, einem Flugkörper zusammensetzen, entfaltet Reissner eine Parabel der Ambivalenz von technischem Fortschritt und den niederen Interessen der Rüstungsindustrie. Aus den Junkerschen Betrieben wurde in den Folgejahren eine Waffenfabrik. Und Krupp ist den Bund mit dem Teufel des Krieges eingegangen, so eng ist dieser Bund, dass die Friedenszeiten nach Versailles den Betrieb zu ruinieren drohten.
Reissner hat einen guten Sinn für die verschiedenen Tonarten ihrer Kapitalismuskritik, für Überblendungen sowie die Fallhöhe vom obszönen Verdienst der Stahlgiganten an Krieg und Unterdrückung hinab zur Almosenbewirtschaftung der unteren Arbeiterschichten. Gegen die Erzählung vom skrupellosen Großunternehmer schneidet Larissa Reissner stille Porträts von Arbeiterinnen wie der Pantoffelmacherin Frau Kremer, die nicht in die Gewerkschaft eintreten will, weil den Funktionären das Malochen für den Hungerlohn, den sie für ihre Arbeit am warmen Fuß des Bürgertums bekommt, verbieten würde.
Die journalistischen Texte von Larissa Reissner lassen sich als textliche Illustrationen zum historischen Kontext der in krassen sozialen Schieflagen und unter den Angriffen der alten, vom Versailles-Frieden gedemütigten Militärs taumelnden ersten deutschen Demokratie lesen. Eine Solokarriere als wiederentdeckte Schriftstellerin nach dem Vorbild Gabriele Tergits und Vicki Baums wird Larissa Reissner nicht mehr hinlegen. Zu befremdlich ist ihre Sowjetschwärmerei, zu schablonenhaft – trotz gelegentlicher sprachlicher Funkenschlägerei – ist ihre Literatur. Larissa Reissner ist als Figur in Steffen Kopetzkys klugem und atmosphärischen Roman „Damenopfer“ so gut aufgehoben wie in den sentimentalen Erinnerungen Joseph Roths, die den Band beschließen: „Diese Frau scheint da zu sein, um in Legenden weiterzuleben.“ So mag es stimmen, denn in ihren Texten wird sie es eher nicht tun.
„Diese Frau scheint
da zu sein, um in Legenden
weiterzuleben.“
Larissa Reissner:
1924 – Eine Reise
durch die deutsche
Republik. Mit
einem Vorwort von
Steffen Kopetzky.
Rowohlt Berlin 2024,
270 Seiten, 24 Euro.
Die Fanfaren der Sowjetkommunistin sind deutlich vernehmbar
in manchen ihrer Reportagen: Larissa Reisner (1895 – 1926) war begeistert von
der russischen Revolution. Foto: picture alliance / Heritage Images
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