Philipp Sarasin untersucht in seinem gefeierten Buch die Linien, Muster und Ähnlichkeiten, die die Ereignisse des Jahres 1977 miteinander verbinden – und er erzählt davon, wie der Glaube an ein gemeinsames Allgemeines, der die Moderne formte, zu zerbröckeln begann. 1977 führt uns ein Jahr vor Augen, in dem nur die Unsicherheit gewiss und die Ahnung verbreitet war, dass die alten Koordinaten der industriellen Gesellschaft in Zukunft keine Orientierung mehr bieten würden. Eine phänomenale Zeitreise in die Geschichte unserer Gegenwart.
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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensent Ulrich Gutmair hält Philipp Sarasins Studie für klug gemacht. Wie der Autor sich den Wendeereignissen des Jahres 1977 widmet, deren Auswirkungen noch heute spürbar sind, findet er trotz aller Willkür der Jahreswahl einleuchtend. Der Kniff, sich über den Tod je einer öffentlichen Figur im Jahr 1977, Anais Nin, Ernst Bloch oder Fanny Lou Hamer, sowie den Zeitgenossen bekannte Ereignisse den historischen Brüchen zu nähern, findet Gutmair schlau, weil zu erkennen ist, wie wirkmächtig der Einzelne in unserer Zeit ist, und weil der Autor so "Rückwärtsprojektionen" vermeidet.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.07.2021Die tiefere Botschaft des Langstreckenlaufs
Auf dem Weg zur Ich-AG: Philipp Sarasin untersucht die Bedeutung des Jahres 1977 für unsere Gegenwart
In der Zeitgeschichtsschreibung wird die politische Epochenschwelle der Jahre 1989/1990 seit einiger Zeit von jener der späten siebziger Jahre verdrängt. So unterschiedliche Autoren wie Lutz Raphael, Frank Bösch und Grégoire Chamayou haben zuletzt in vielbeachteten Arbeiten argumentiert, dass sich vor allem in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre jene sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Umbrüche im Maschinenraum moderner Gesellschaften vollzogen haben, die zehn Jahre später als schnelle Bewegung in den alten Formen und Fassaden der Herrschaft und Herrschaftslegitimation sichtbar wurden.
War es die ökonomische Transformation der alten Industriegesellschaften, der Aufstieg der Dienstleistungs- und Finanzmärkte und die beginnende Digitalisierung? Oder die Erschöpfung des utopischen Denkens der Revolutionen? Oder eine kulturelle Krise des Universellen in den sich formierenden "Singularitäten", die Jean Baudrillard 1977 ausrief und deren Gesellschaft Andreas Reckwitz in jener Zeit beginnen lässt.
Der Schweizer Historiker Philipp Sarasin charakterisiert diese Epochenschwelle zur Gegenwart in seinem neuen Buch gerade damit, dass es all dies zugleich war, und zwar ohne dass sich das eine noch systematisch auf das andere beziehen oder aus dem anderen erklären ließe. Er bedient sich dafür der inzwischen populären Form des Jahresbuches und konzentriert seine fulminante "Kurze Geschichte der Gegenwart" auf 1977, das Jahr, in dem der Deutsche Herbst endete, in dem die Hegemonie des "Neoliberalismus" und der Punk begannen, in dem die erste menschliche In-Vitro-Fertilisation erfolgreich durchgeführt wurde und in dem auch Donald Trump seinen ersten Auftritt als windiger Geschäftemacher bei einem dubiosen Immobiliendeal mit der New York State Urban Development Corporation hatte.
Und nicht zuletzt schuf das Jahr 1977 mit dem ersten Personal Computer, dem Apple II, langfristig die Voraussetzungen für derartige Jahresbücher. Nur dank digitaler Kataloge, umfassender Zeitungsarchive und vor allem dank Wikipedia weiß man ja überhaupt, was in einem Jahr alles gleichzeitig erschien und passierte, wer siegte, floppte oder starb. So demonstriert das Genre nicht zuletzt, in welchem Maße digitalisierte Quellen den Begriff der Geschichte und die Form ihrer Erzählung verändern.
Sarasin weiß darum und bezieht seine Leser klug in das Spiel ein. So verzichtet er auf jegliche Abbildung. Sein Buch liest man darum mit dem größten Gewinn online: um die Bildwelten nachzuvollziehen, von denen es handelt, und sich durch den im Text mitgeführten Soundtrack zu hören, der einen langen Weg von The Doors bis zu Patti Smith, den Ramones, Talking Heads und The Clash erzählt.
Die Politisierung der Psychologie.
Sarasins hinreißend erzählte und zugleich intellektuell beeindruckende Geschichte des Jahres hat fünf Episoden ohne Rahmenhandlung, die darum nur wechselseitig aufeinander verweisen; keine erzählt ausschließlich den Beginn des Heute. Alles hatte in der klassischen Moderne ja immer schon begonnen, wie Sarasin in fünf geschickt komponierten Nekrologen demonstriert. Da ist einmal das Ende der Revolution als Paradigma der Politik. Sarasin zitiert Baudrillards Ratlosigkeit über eine neue Form einer eigenartig ziellosen politischen Gewalt, von der wir am Ende "nicht mehr wissen, wie wir sie analysieren sollen".
Da ist zum anderen die politische Idee der Menschenrechte und die Politik der Differenz, die sich vor allem im Feminismus als radikale Politik an die freigewordene Stelle der Großideologien schob. Eine dritte Episode handelt von introvertierten Drogentrips und extrovertiertem Sex, die inmitten der Politisierung der Psychologie von halbkriminellen sozialen Praktiken zu öffentlichen Ausdrucksformen wurden. Parallel dazu vollzog sich dank der schnellen Entwicklung der Chiptechnologie der epochale Schritt zur privaten Nutzung digitaler Medien. Die bewegten Bilder begannen allmählich mit den Alltagsgegenständen zu verschwimmen.
Und schließlich verfolgt Sarasin die Herausbildung jener Art ökonomischen Denkens, in dessen Zentrum Hayek, Reagan und Thatcher, freie Märkte und individuelle Selbstkontrolle stehen und das man in der Regel als Neoliberalismus bezeichnet. Dessen Ideengeschichte haben andere Autoren gewiss gründlicher aufgearbeitet, doch auch hier weiß Sarasin überraschende Akzente zu setzen. So reagierten die westlichen Gesellschaften 1977 auf den heraufziehenden Imperativ der Privatisierung von Daseinsvorsorge und Wohlfahrtsstaat überraschend plötzlich und explizit mit der Sorge um das Selbst der kommenden Ich-AGs. Die definitive Psychoreligion der Siebziger, die Sexhype, Neoliberalismus und Individualisierung in sich vereinte, war, so gesehen, der Langstreckenlauf. Jim Fixx landete 1977 mit dem "Complete Book of Running" einen Weltbestseller - just als Michel Foucault, in vieler Hinsicht der Vordenker hinter Sarasins Geschichte der Gegenwart, während eines Forschungssemesters seine bisherige Machttheorie zu revidieren und eine Analyse neoliberaler Regierungstechnik zu entwickeln begann.
Gewinn an Freiheit und Inklusion.
Um die damit eingetretene Veränderung des Politischen kreist in gewisser Weise das ganze Buch. Seit es sich nicht mehr ungebrochen modern auf das Allgemeine ideologischer Systeme beziehen kann - so lassen sich seine Überlegungen zusammenfassen -, ist frei verantwortetes politisches Handeln, wie es Max Weber für die klassische Moderne formulierte, immer doppelt verdächtig: beargwöhnt von der neoklassischen Ökonomie mit ihren Naturalismen ebenso wie von der radikalen Repräsentationskritik des Feminismus und dem, was man - wiederum seit 1977 - Identitätspolitik nennt.
Der Schlüsselbegriff dieser anderen Politik lautet deswegen "Menschenrechte". Sie existierten zwar schon seit der Allgemeinen Erklärung von 1946 und den UN-Menschenrechtspakten von 1966 als Rechtstexte, wurden aber erst mit der Inaugural Address von Jimmy Carter im Januar 1977 zum Teil weltpolitischer Agenden. Sarasin erklärt das als Vorgriff auf die postideologische Konstellation, weil die Politik der Menschenrechte zwei neue Figuren erst hervorbringt: einerseits die individuellen, unschuldigen, traumatisierten Opfer der Herrschaft, die inhaftierten Dissidenten und gefolterten Menschen; andererseits die ihnen beistehenden organisierten Aktivisten, die ihre Feinde nicht mehr ideologisch bezeichnen.
Sarasin besteht darauf, dass diese politische Zuwendung zum Einzelnen und zum Besonderen nicht zu trennen ist von den Politikformen der Identität und der Verschiebung der Wahrheitsregeln; dass in der historischen Konstellation von "1977" das eine nicht ohne das andere zu haben war. Damit tritt er der gängigen Legende entgegen, die Anfälligkeit der Gegenwart für alternative Fakten könnte zwei anderen Leitphänomenen jenes Jahres anzulasten sein: dem Poststrukturalismus oder der Auflösung eines heteronormativen Konsenses.
Das Buch beginnt und endet ausgesprochen akademisch: Moderne, reflexive Moderne oder Postmoderne? Autopoiesis, Ende der Natur oder Regeln für den Menschenpark? Offenbar gehört es zu den Folgen gerade dieser Epoche, dass sich das nicht mehr mit großer Geste geschichtsphilosophisch entscheiden, sondern nur noch mit der Pathosformel der Ambivalenz besichtigen lässt. "Das Erbe von 1977", schließt Sarasin, "ist in diesem Sinne von tiefer Ambivalenz geprägt: Der Gewinn an Freiheit, Diversität und Inklusion, die nicht zuletzt durch die digitale Revolution freigesetzte Pluralität der Stimmen und die im Netz sichtbare Vielfalt der Perspektiven können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Doch für den Preis, den wir dafür bezahlen, gilt das auch."
Doch trüge Sarasins unbedingt lesenswerte Universalgeschichte nicht eigentlich eine viel weitreichendere Schlussfolgerung? Das Erbe von 1977 ist nicht von Ambivalenz geprägt, das Erbe von 1977 ist die Ambivalenz selbst. Es geht mithin um die in sich zerrissene Haltung zu einer Welt, deren innere Widersprüche keinen historischen Bewegungsgesetzen mehr unterliegen, und die darum auch keine vermittelnden politischen Lösungen mehr kennt, sondern nur noch verschiedene Auswege zum Selbst, zum Eigenen anbietet.
FLORIAN MEINEL.
Philipp Sarasin: "1977". Eine kurze Geschichte der Gegenwart.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 502 S., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf dem Weg zur Ich-AG: Philipp Sarasin untersucht die Bedeutung des Jahres 1977 für unsere Gegenwart
In der Zeitgeschichtsschreibung wird die politische Epochenschwelle der Jahre 1989/1990 seit einiger Zeit von jener der späten siebziger Jahre verdrängt. So unterschiedliche Autoren wie Lutz Raphael, Frank Bösch und Grégoire Chamayou haben zuletzt in vielbeachteten Arbeiten argumentiert, dass sich vor allem in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre jene sozialen, politischen, kulturellen und ökonomischen Umbrüche im Maschinenraum moderner Gesellschaften vollzogen haben, die zehn Jahre später als schnelle Bewegung in den alten Formen und Fassaden der Herrschaft und Herrschaftslegitimation sichtbar wurden.
War es die ökonomische Transformation der alten Industriegesellschaften, der Aufstieg der Dienstleistungs- und Finanzmärkte und die beginnende Digitalisierung? Oder die Erschöpfung des utopischen Denkens der Revolutionen? Oder eine kulturelle Krise des Universellen in den sich formierenden "Singularitäten", die Jean Baudrillard 1977 ausrief und deren Gesellschaft Andreas Reckwitz in jener Zeit beginnen lässt.
Der Schweizer Historiker Philipp Sarasin charakterisiert diese Epochenschwelle zur Gegenwart in seinem neuen Buch gerade damit, dass es all dies zugleich war, und zwar ohne dass sich das eine noch systematisch auf das andere beziehen oder aus dem anderen erklären ließe. Er bedient sich dafür der inzwischen populären Form des Jahresbuches und konzentriert seine fulminante "Kurze Geschichte der Gegenwart" auf 1977, das Jahr, in dem der Deutsche Herbst endete, in dem die Hegemonie des "Neoliberalismus" und der Punk begannen, in dem die erste menschliche In-Vitro-Fertilisation erfolgreich durchgeführt wurde und in dem auch Donald Trump seinen ersten Auftritt als windiger Geschäftemacher bei einem dubiosen Immobiliendeal mit der New York State Urban Development Corporation hatte.
Und nicht zuletzt schuf das Jahr 1977 mit dem ersten Personal Computer, dem Apple II, langfristig die Voraussetzungen für derartige Jahresbücher. Nur dank digitaler Kataloge, umfassender Zeitungsarchive und vor allem dank Wikipedia weiß man ja überhaupt, was in einem Jahr alles gleichzeitig erschien und passierte, wer siegte, floppte oder starb. So demonstriert das Genre nicht zuletzt, in welchem Maße digitalisierte Quellen den Begriff der Geschichte und die Form ihrer Erzählung verändern.
Sarasin weiß darum und bezieht seine Leser klug in das Spiel ein. So verzichtet er auf jegliche Abbildung. Sein Buch liest man darum mit dem größten Gewinn online: um die Bildwelten nachzuvollziehen, von denen es handelt, und sich durch den im Text mitgeführten Soundtrack zu hören, der einen langen Weg von The Doors bis zu Patti Smith, den Ramones, Talking Heads und The Clash erzählt.
Die Politisierung der Psychologie.
Sarasins hinreißend erzählte und zugleich intellektuell beeindruckende Geschichte des Jahres hat fünf Episoden ohne Rahmenhandlung, die darum nur wechselseitig aufeinander verweisen; keine erzählt ausschließlich den Beginn des Heute. Alles hatte in der klassischen Moderne ja immer schon begonnen, wie Sarasin in fünf geschickt komponierten Nekrologen demonstriert. Da ist einmal das Ende der Revolution als Paradigma der Politik. Sarasin zitiert Baudrillards Ratlosigkeit über eine neue Form einer eigenartig ziellosen politischen Gewalt, von der wir am Ende "nicht mehr wissen, wie wir sie analysieren sollen".
Da ist zum anderen die politische Idee der Menschenrechte und die Politik der Differenz, die sich vor allem im Feminismus als radikale Politik an die freigewordene Stelle der Großideologien schob. Eine dritte Episode handelt von introvertierten Drogentrips und extrovertiertem Sex, die inmitten der Politisierung der Psychologie von halbkriminellen sozialen Praktiken zu öffentlichen Ausdrucksformen wurden. Parallel dazu vollzog sich dank der schnellen Entwicklung der Chiptechnologie der epochale Schritt zur privaten Nutzung digitaler Medien. Die bewegten Bilder begannen allmählich mit den Alltagsgegenständen zu verschwimmen.
Und schließlich verfolgt Sarasin die Herausbildung jener Art ökonomischen Denkens, in dessen Zentrum Hayek, Reagan und Thatcher, freie Märkte und individuelle Selbstkontrolle stehen und das man in der Regel als Neoliberalismus bezeichnet. Dessen Ideengeschichte haben andere Autoren gewiss gründlicher aufgearbeitet, doch auch hier weiß Sarasin überraschende Akzente zu setzen. So reagierten die westlichen Gesellschaften 1977 auf den heraufziehenden Imperativ der Privatisierung von Daseinsvorsorge und Wohlfahrtsstaat überraschend plötzlich und explizit mit der Sorge um das Selbst der kommenden Ich-AGs. Die definitive Psychoreligion der Siebziger, die Sexhype, Neoliberalismus und Individualisierung in sich vereinte, war, so gesehen, der Langstreckenlauf. Jim Fixx landete 1977 mit dem "Complete Book of Running" einen Weltbestseller - just als Michel Foucault, in vieler Hinsicht der Vordenker hinter Sarasins Geschichte der Gegenwart, während eines Forschungssemesters seine bisherige Machttheorie zu revidieren und eine Analyse neoliberaler Regierungstechnik zu entwickeln begann.
Gewinn an Freiheit und Inklusion.
Um die damit eingetretene Veränderung des Politischen kreist in gewisser Weise das ganze Buch. Seit es sich nicht mehr ungebrochen modern auf das Allgemeine ideologischer Systeme beziehen kann - so lassen sich seine Überlegungen zusammenfassen -, ist frei verantwortetes politisches Handeln, wie es Max Weber für die klassische Moderne formulierte, immer doppelt verdächtig: beargwöhnt von der neoklassischen Ökonomie mit ihren Naturalismen ebenso wie von der radikalen Repräsentationskritik des Feminismus und dem, was man - wiederum seit 1977 - Identitätspolitik nennt.
Der Schlüsselbegriff dieser anderen Politik lautet deswegen "Menschenrechte". Sie existierten zwar schon seit der Allgemeinen Erklärung von 1946 und den UN-Menschenrechtspakten von 1966 als Rechtstexte, wurden aber erst mit der Inaugural Address von Jimmy Carter im Januar 1977 zum Teil weltpolitischer Agenden. Sarasin erklärt das als Vorgriff auf die postideologische Konstellation, weil die Politik der Menschenrechte zwei neue Figuren erst hervorbringt: einerseits die individuellen, unschuldigen, traumatisierten Opfer der Herrschaft, die inhaftierten Dissidenten und gefolterten Menschen; andererseits die ihnen beistehenden organisierten Aktivisten, die ihre Feinde nicht mehr ideologisch bezeichnen.
Sarasin besteht darauf, dass diese politische Zuwendung zum Einzelnen und zum Besonderen nicht zu trennen ist von den Politikformen der Identität und der Verschiebung der Wahrheitsregeln; dass in der historischen Konstellation von "1977" das eine nicht ohne das andere zu haben war. Damit tritt er der gängigen Legende entgegen, die Anfälligkeit der Gegenwart für alternative Fakten könnte zwei anderen Leitphänomenen jenes Jahres anzulasten sein: dem Poststrukturalismus oder der Auflösung eines heteronormativen Konsenses.
Das Buch beginnt und endet ausgesprochen akademisch: Moderne, reflexive Moderne oder Postmoderne? Autopoiesis, Ende der Natur oder Regeln für den Menschenpark? Offenbar gehört es zu den Folgen gerade dieser Epoche, dass sich das nicht mehr mit großer Geste geschichtsphilosophisch entscheiden, sondern nur noch mit der Pathosformel der Ambivalenz besichtigen lässt. "Das Erbe von 1977", schließt Sarasin, "ist in diesem Sinne von tiefer Ambivalenz geprägt: Der Gewinn an Freiheit, Diversität und Inklusion, die nicht zuletzt durch die digitale Revolution freigesetzte Pluralität der Stimmen und die im Netz sichtbare Vielfalt der Perspektiven können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Doch für den Preis, den wir dafür bezahlen, gilt das auch."
Doch trüge Sarasins unbedingt lesenswerte Universalgeschichte nicht eigentlich eine viel weitreichendere Schlussfolgerung? Das Erbe von 1977 ist nicht von Ambivalenz geprägt, das Erbe von 1977 ist die Ambivalenz selbst. Es geht mithin um die in sich zerrissene Haltung zu einer Welt, deren innere Widersprüche keinen historischen Bewegungsgesetzen mehr unterliegen, und die darum auch keine vermittelnden politischen Lösungen mehr kennt, sondern nur noch verschiedene Auswege zum Selbst, zum Eigenen anbietet.
FLORIAN MEINEL.
Philipp Sarasin: "1977". Eine kurze Geschichte der Gegenwart.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 502 S., geb., 32,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.09.2021Kampf dem
Bhagwahn
Warum sind die Bücher über die Kulturgeschichte
der Siebziger oft so kulturpessimistisch?
VON DIEDRICH DIEDERICHSEN
Marcus Garvey, Panafrikanist, Politiker, Organisator einer Reederei, deren Schiffe die afroamerikanische Bevölkerung nach Afrika zurückbringen sollten, Charismatiker und dubioser Geschäftsmann, hatte vor hundert Jahren eine Vision: Wenn sich die Siebenen begegnen („when the sevens clash“), wird es ein großes Chaos geben. Am 7.7. 1977 blieben daher in Jamaika, wo der ein wenig vergessene Garvey sich vor allem bei den Rastafaris nach wie vor großer Beliebtheit erfreute, viele Geschäfte und Institutionen geschlossen. Die Gruppe Culture veröffentlichte daraufhin 1977 das Album „Two Sevens Clash“, eines der einflussreichsten Reggae-Alben, das auch für die Konvergenz von Reggae und Punk in Großbritannien wichtig wurde. Es ist einer der ganz wenigen großen Auftritte der Jahreszahl 1977, die sich Philipp Sarasin in seiner enzyklopädischen Studie zu Wirkung und Nachwirkung des Jahres entgehen lässt.
John Dos Passos, Roger Martin du Gard und Alfred Döblin, also Säulenheilige modernistischer Prosa, haben Romane um Jahreszahlen gebaut, um Jahre wie 1914, 1918 und 1919, die von der Geschichtsschreibung längst als bedeutsam ratifiziert worden waren. Die zahlreichen Essayisten und Wissenschaftler hingegen, die es seit ein paar Jahren unternehmen, von einem einzelnen Jahr aus, Umwälzungen und Einschnitte zu kartografieren, die weit über dieses hinausgehen, suchen sich lieber exzentrische Einschnitte: 1913 (Florian Illies) oder 1926 (Hans-Ulrich Gumbrecht) sollen uns mehr zu sagen haben als die offensichtlichen Daten 1914 (Beginn des Ersten Weltkriegs) oder 1929 (Weltwirtschaftskrise). In dem für mich bisher überzeugendsten dieser Jahrbücher – „1967 – Pop, Grammatologie und Politik“ von Robert Stockhammer – erklärt der Autor, mehr über 1968 im Jahre 1967 finden zu können, einem Jahr, das nicht „Mythos“ geworden sei, ein Jahr, in dem noch am Leben war, was im nächsten Jahr begradigt und mythifizierbar gemacht worden war.
Bei Sarasin kann eine solche Methode nicht am Werk gewesen sein. Die Entscheidung für 1977 muss nicht gegen Verdacht auf Originalitätszwang verteidigt werden. Das Jahr, in dem Punk auf allen Ebenen die kulturell dominierende Linke und ihre esoterischen Geschwister in der Hippiekultur entweder nihilistisch zurückweisen oder radikal überbieten wollte, zudem in Deutschland das Jahr von Stammheim, bietet sich fast zu sehr an, auch wenn man noch nie von der Prophezeiung Marcus Garveys gehört hat, sondern bisher nur das Album „Talking Heads 77“ den Soundtrack zu dieser Umwälzung gespielt hat.
Doch Sarasin geht es nicht um einen Einschnitt. Er beginnt jedes Kapitel mit einem Nachruf auf eine 1977 gestorbene Persönlichkeit, von Anaïs Nin bis Ludwig Erhard. Sie stehen jeweils für Bereiche, die 1977 oft schon ein langes Leben haben, sei es die sexuelle Selbstverwirklichung oder die kapitalistische Wirtschaftspolitik. Damit scheint er die Lesart vom Wendejahr 77 selbst zu entkräften: Das alles gab es schon viel länger. Und tatsächlich macht er kein Hehl daraus, dass seine Entscheidung für das Jahr ziemlich beliebig war.
Es geht um alle möglichen kulturellen, medientechnischen, ökonomischen und politischen Entwicklungen, die nicht nur über eine lange Dauer verfügen, sondern in entscheidender Weise die Physiognomie der globalen Gegenwart prägen. Kalifornische Hippie-Esoterik beginnt ihren Erfolgszug spätestens mit der Gründung des Esalen-Instituts um 1960, das Internet entsteht je nachdem viel früher oder später als 77; um Hip-Hop schon 77 beginnen zu lassen, muss man einen Embryo von einer klandestinen Szene gewaltig aufblasen. Schwarze „Identitätspolitik“ fängt dafür spätestens bei W.E.B. Du Bois im frühen 20. Jahrhundert an – und so fort. Aber jedes im Buch freigelegte Flöz hat eben auch dramatische Momente im Jahr 1977. Von diesen berichtet der Schweizer Historiker und Foucaultianer dicht, engagiert – obwohl man nie genau weiß für was, und dieses Nichtwissen ist durchaus einer der Sogkräfte der Lektüre – und voller Pointen. Dabei besitzt er die Großzügigkeit, auch das Material auszubreiten, das seinen Behauptungen eher widerspricht. Das trägt aber auch zu einer gewissen Bröseligkeit der Erzählung bei, was sich andererseits ganz gut damit verträgt, dass die Zerbröselung der „großen Erzählungen“ seine übergeordnete Idee besser trifft als Einschnitt, Ende oder Untergang.
Ein Problem dieser vergnüglichen Bohrungen ist aber, dass die jeweils entdeckten Bewegungen und Verschiebungen auch eher geologisch konstatiert werden, als dass handelnde Subjekte auftreten, die das, was sie tun, für und gegen etwas unternehmen. Der mit viel Gespür zu Recht als symptomatisch hervorgehobene Song „No Compassion“ von der erwähnten LP „Talking Heads 77“ bleibt unvollständig erzählt, wenn man dessen kalte Absage an Psycho- und Selbsterfahrungsgelaber als ernst gemeinten Sozialdarwinismus liest und nicht ganz konkret als Angriff auf eine Kultur, die gerade hegemonial zu werden droht und die Sarasin ein paar Seiten weiter ebenfalls freilegt – die Therapie und Meditationswelt zwischen Buddha und Bhagwan. Sähe er aus Gründen geführte Kämpfe und nicht nur das Auseinanderdriften des alten Allgemeinen, käme nicht immer wieder eine Nähe zum Kulturpessimismus auf, die ihm selbst allerdings erkennbar unangenehm ist.
So referiert er durchaus zweifelnd Baudrillards Graffiti-Theorie, die Tags als Aufstände der Zeichen gegen jeden Sinn liest, die sich nicht auf reale Personen und Verhältnisse beziehen ließen. So stehen bei Sarasin dieser Aufstand und seine Unverständlichkeit in die Welt setzenden Separierungen und die Relativierung von Baudrillards Darstellung nebeneinander: Wollten die, die sich per bizarre Tag-Pseudonyme auf U-Bahn-Wagen eintrugen, nicht vielleicht doch ganz klassisch von sich und ihrer Existenz reden? Müsste man aber nicht viel weiter gehen? Baudrillard hat nicht nur übertrieben und zugespitzt, er liegt grundfalsch. Solche Graffiti-Writer sind eben gerade nicht auf dem von Sarasin immer wieder beschriebenen Exodus aus dem Allgemeinen, sondern definieren als immer schon Ausgeschlossene ihre Beitrittsbegründungen: Erst mal brauchen wir eine neue Orthografie. Sie machen sich lesbar, aber zu ihren Bedingungen, die nicht das Wissen des weißen französischen Soziologen sein können.
Sich die Teilhabe am Allgemeinen zu eigenen Bedingungen zu erkämpfen ist nicht nur nicht dasselbe wie Essenzialismus und eine Politik des Identitären: Es ist das Gegenteil. Sarasin unterscheidet zwar afroamerikanische „Identitätspolitik“ sorgfältig von rechtem Ethnopluralismus, sortiert jene aber dennoch bei Politik der Differenz ein. Dabei sind Bezugnahmen auf eigene (individuelle oder kollektive) Ausschluss- oder Benachteiligungserfahrungen seit Jahrhunderten das täglich Brot emanzipativer und damit aufs Allgemeine bezogener Bewegungen – nur dass sie nicht vom universalistischen Ideal ausgehen, sondern von dessen Misslingen unter den konkreten Machtverhältnissen.
Sarasin macht es sich jedoch im Einzelfall nie leicht und ist immer bereit, Differenzierungen aufzunehmen. In diesem rundum spannenden Buch werden keine Großmütter für die Knackigkeit von Thesen verkauft. Im Hintergrund rumoren allerdings eher monolithische Grunddiagnosen. Über weite Strecken unterscheiden die sich nicht so sehr von dem, was man schon 1990 oder 2002 über die Zeit nach der Moderne, über Neoliberalismus, Gig-Ökonomie, Sub- und Nischenkulturen (die Vorläufer der Filterblasen) dachte. Eher unverbunden treten später Problemhorizonte hinzu, die man als jüngere Reaktionen auf die rechten Machtübernahmen (Bolsonaro, Duterte, Trump, Putin, Erdoğan, Orbán) und die Pandemie deuten kann: dass die Gleichwertigkeit von wissenschaftliche Fakten und (religiösen oder verschwörungstheoretischen) Glauben mittlerweile durchgesetzt sei und dass selbst große Mächte von Personen und Institutionen gesteuert werden, die in einem epistemologischen Niemandsland leben. Doch kann man das nicht mehr dem Jahr 1977 in die Schuhe schieben, da müsste dann noch ein anderes Schwellenjahr her. Gegen die heute vorherrschende schlechte Alternative aus Neotraditionalismen (Evangelikalen, Trumpisten, Islamisten etc.) und neoliberalem, aufgeklärtem Zynismus könnte helfen, dass aus dem unter Wert als „Identitätspolitik“ verkauften dekolonialen Denken eben kein Tribalismus und kein Ethnozentrismus geworden ist, sondern von Sylvia Wynter bis zu Saidiya Hartman ein neues Denken des Allgemeinen.
Die „Talking Heads“ servierten
die kalte Absage an das
Selbsterfahrungsgelaber
Die Graffiti-Künstler
machen sich lesbar, aber zu
ihren Bedingungen
Philipp Sarasin:
1977 – Eine kurze
Geschichte der Gegenwart. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2021.
502 Seiten, 32 Euro.
Die kulturell dominierende Linke und ihre esoterischen Geschwister in
der Hippiekultur entweder nihilistisch zurückweisen oder radikal überbieten: Sänger Johnny Rotten (Zweiter v. re.) und die Sex Pistols 1977 in London. Foto: AFP
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Bhagwahn
Warum sind die Bücher über die Kulturgeschichte
der Siebziger oft so kulturpessimistisch?
VON DIEDRICH DIEDERICHSEN
Marcus Garvey, Panafrikanist, Politiker, Organisator einer Reederei, deren Schiffe die afroamerikanische Bevölkerung nach Afrika zurückbringen sollten, Charismatiker und dubioser Geschäftsmann, hatte vor hundert Jahren eine Vision: Wenn sich die Siebenen begegnen („when the sevens clash“), wird es ein großes Chaos geben. Am 7.7. 1977 blieben daher in Jamaika, wo der ein wenig vergessene Garvey sich vor allem bei den Rastafaris nach wie vor großer Beliebtheit erfreute, viele Geschäfte und Institutionen geschlossen. Die Gruppe Culture veröffentlichte daraufhin 1977 das Album „Two Sevens Clash“, eines der einflussreichsten Reggae-Alben, das auch für die Konvergenz von Reggae und Punk in Großbritannien wichtig wurde. Es ist einer der ganz wenigen großen Auftritte der Jahreszahl 1977, die sich Philipp Sarasin in seiner enzyklopädischen Studie zu Wirkung und Nachwirkung des Jahres entgehen lässt.
John Dos Passos, Roger Martin du Gard und Alfred Döblin, also Säulenheilige modernistischer Prosa, haben Romane um Jahreszahlen gebaut, um Jahre wie 1914, 1918 und 1919, die von der Geschichtsschreibung längst als bedeutsam ratifiziert worden waren. Die zahlreichen Essayisten und Wissenschaftler hingegen, die es seit ein paar Jahren unternehmen, von einem einzelnen Jahr aus, Umwälzungen und Einschnitte zu kartografieren, die weit über dieses hinausgehen, suchen sich lieber exzentrische Einschnitte: 1913 (Florian Illies) oder 1926 (Hans-Ulrich Gumbrecht) sollen uns mehr zu sagen haben als die offensichtlichen Daten 1914 (Beginn des Ersten Weltkriegs) oder 1929 (Weltwirtschaftskrise). In dem für mich bisher überzeugendsten dieser Jahrbücher – „1967 – Pop, Grammatologie und Politik“ von Robert Stockhammer – erklärt der Autor, mehr über 1968 im Jahre 1967 finden zu können, einem Jahr, das nicht „Mythos“ geworden sei, ein Jahr, in dem noch am Leben war, was im nächsten Jahr begradigt und mythifizierbar gemacht worden war.
Bei Sarasin kann eine solche Methode nicht am Werk gewesen sein. Die Entscheidung für 1977 muss nicht gegen Verdacht auf Originalitätszwang verteidigt werden. Das Jahr, in dem Punk auf allen Ebenen die kulturell dominierende Linke und ihre esoterischen Geschwister in der Hippiekultur entweder nihilistisch zurückweisen oder radikal überbieten wollte, zudem in Deutschland das Jahr von Stammheim, bietet sich fast zu sehr an, auch wenn man noch nie von der Prophezeiung Marcus Garveys gehört hat, sondern bisher nur das Album „Talking Heads 77“ den Soundtrack zu dieser Umwälzung gespielt hat.
Doch Sarasin geht es nicht um einen Einschnitt. Er beginnt jedes Kapitel mit einem Nachruf auf eine 1977 gestorbene Persönlichkeit, von Anaïs Nin bis Ludwig Erhard. Sie stehen jeweils für Bereiche, die 1977 oft schon ein langes Leben haben, sei es die sexuelle Selbstverwirklichung oder die kapitalistische Wirtschaftspolitik. Damit scheint er die Lesart vom Wendejahr 77 selbst zu entkräften: Das alles gab es schon viel länger. Und tatsächlich macht er kein Hehl daraus, dass seine Entscheidung für das Jahr ziemlich beliebig war.
Es geht um alle möglichen kulturellen, medientechnischen, ökonomischen und politischen Entwicklungen, die nicht nur über eine lange Dauer verfügen, sondern in entscheidender Weise die Physiognomie der globalen Gegenwart prägen. Kalifornische Hippie-Esoterik beginnt ihren Erfolgszug spätestens mit der Gründung des Esalen-Instituts um 1960, das Internet entsteht je nachdem viel früher oder später als 77; um Hip-Hop schon 77 beginnen zu lassen, muss man einen Embryo von einer klandestinen Szene gewaltig aufblasen. Schwarze „Identitätspolitik“ fängt dafür spätestens bei W.E.B. Du Bois im frühen 20. Jahrhundert an – und so fort. Aber jedes im Buch freigelegte Flöz hat eben auch dramatische Momente im Jahr 1977. Von diesen berichtet der Schweizer Historiker und Foucaultianer dicht, engagiert – obwohl man nie genau weiß für was, und dieses Nichtwissen ist durchaus einer der Sogkräfte der Lektüre – und voller Pointen. Dabei besitzt er die Großzügigkeit, auch das Material auszubreiten, das seinen Behauptungen eher widerspricht. Das trägt aber auch zu einer gewissen Bröseligkeit der Erzählung bei, was sich andererseits ganz gut damit verträgt, dass die Zerbröselung der „großen Erzählungen“ seine übergeordnete Idee besser trifft als Einschnitt, Ende oder Untergang.
Ein Problem dieser vergnüglichen Bohrungen ist aber, dass die jeweils entdeckten Bewegungen und Verschiebungen auch eher geologisch konstatiert werden, als dass handelnde Subjekte auftreten, die das, was sie tun, für und gegen etwas unternehmen. Der mit viel Gespür zu Recht als symptomatisch hervorgehobene Song „No Compassion“ von der erwähnten LP „Talking Heads 77“ bleibt unvollständig erzählt, wenn man dessen kalte Absage an Psycho- und Selbsterfahrungsgelaber als ernst gemeinten Sozialdarwinismus liest und nicht ganz konkret als Angriff auf eine Kultur, die gerade hegemonial zu werden droht und die Sarasin ein paar Seiten weiter ebenfalls freilegt – die Therapie und Meditationswelt zwischen Buddha und Bhagwan. Sähe er aus Gründen geführte Kämpfe und nicht nur das Auseinanderdriften des alten Allgemeinen, käme nicht immer wieder eine Nähe zum Kulturpessimismus auf, die ihm selbst allerdings erkennbar unangenehm ist.
So referiert er durchaus zweifelnd Baudrillards Graffiti-Theorie, die Tags als Aufstände der Zeichen gegen jeden Sinn liest, die sich nicht auf reale Personen und Verhältnisse beziehen ließen. So stehen bei Sarasin dieser Aufstand und seine Unverständlichkeit in die Welt setzenden Separierungen und die Relativierung von Baudrillards Darstellung nebeneinander: Wollten die, die sich per bizarre Tag-Pseudonyme auf U-Bahn-Wagen eintrugen, nicht vielleicht doch ganz klassisch von sich und ihrer Existenz reden? Müsste man aber nicht viel weiter gehen? Baudrillard hat nicht nur übertrieben und zugespitzt, er liegt grundfalsch. Solche Graffiti-Writer sind eben gerade nicht auf dem von Sarasin immer wieder beschriebenen Exodus aus dem Allgemeinen, sondern definieren als immer schon Ausgeschlossene ihre Beitrittsbegründungen: Erst mal brauchen wir eine neue Orthografie. Sie machen sich lesbar, aber zu ihren Bedingungen, die nicht das Wissen des weißen französischen Soziologen sein können.
Sich die Teilhabe am Allgemeinen zu eigenen Bedingungen zu erkämpfen ist nicht nur nicht dasselbe wie Essenzialismus und eine Politik des Identitären: Es ist das Gegenteil. Sarasin unterscheidet zwar afroamerikanische „Identitätspolitik“ sorgfältig von rechtem Ethnopluralismus, sortiert jene aber dennoch bei Politik der Differenz ein. Dabei sind Bezugnahmen auf eigene (individuelle oder kollektive) Ausschluss- oder Benachteiligungserfahrungen seit Jahrhunderten das täglich Brot emanzipativer und damit aufs Allgemeine bezogener Bewegungen – nur dass sie nicht vom universalistischen Ideal ausgehen, sondern von dessen Misslingen unter den konkreten Machtverhältnissen.
Sarasin macht es sich jedoch im Einzelfall nie leicht und ist immer bereit, Differenzierungen aufzunehmen. In diesem rundum spannenden Buch werden keine Großmütter für die Knackigkeit von Thesen verkauft. Im Hintergrund rumoren allerdings eher monolithische Grunddiagnosen. Über weite Strecken unterscheiden die sich nicht so sehr von dem, was man schon 1990 oder 2002 über die Zeit nach der Moderne, über Neoliberalismus, Gig-Ökonomie, Sub- und Nischenkulturen (die Vorläufer der Filterblasen) dachte. Eher unverbunden treten später Problemhorizonte hinzu, die man als jüngere Reaktionen auf die rechten Machtübernahmen (Bolsonaro, Duterte, Trump, Putin, Erdoğan, Orbán) und die Pandemie deuten kann: dass die Gleichwertigkeit von wissenschaftliche Fakten und (religiösen oder verschwörungstheoretischen) Glauben mittlerweile durchgesetzt sei und dass selbst große Mächte von Personen und Institutionen gesteuert werden, die in einem epistemologischen Niemandsland leben. Doch kann man das nicht mehr dem Jahr 1977 in die Schuhe schieben, da müsste dann noch ein anderes Schwellenjahr her. Gegen die heute vorherrschende schlechte Alternative aus Neotraditionalismen (Evangelikalen, Trumpisten, Islamisten etc.) und neoliberalem, aufgeklärtem Zynismus könnte helfen, dass aus dem unter Wert als „Identitätspolitik“ verkauften dekolonialen Denken eben kein Tribalismus und kein Ethnozentrismus geworden ist, sondern von Sylvia Wynter bis zu Saidiya Hartman ein neues Denken des Allgemeinen.
Die „Talking Heads“ servierten
die kalte Absage an das
Selbsterfahrungsgelaber
Die Graffiti-Künstler
machen sich lesbar, aber zu
ihren Bedingungen
Philipp Sarasin:
1977 – Eine kurze
Geschichte der Gegenwart. Suhrkamp Verlag,
Berlin 2021.
502 Seiten, 32 Euro.
Die kulturell dominierende Linke und ihre esoterischen Geschwister in
der Hippiekultur entweder nihilistisch zurückweisen oder radikal überbieten: Sänger Johnny Rotten (Zweiter v. re.) und die Sex Pistols 1977 in London. Foto: AFP
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»Philipp Sarasins 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart entfaltet eine Sogwirkung. Hineingezogen wird man in den Strudel der Ereignisse dieses Schlüsseljahres, ja der Siebziger insgesamt.« Andreas Reckwitz Süddeutsche Zeitung 20211229