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Archivarisch, aber ohne erkennbare Ordnung: Philipp Rödings Prosabuch "20XX" maskiert sich als Roman
"Zum Abendessen wurde an diesem Tag zur Vorspeise erst frischer Vogerlsalat mit Speckwürfeln, Eierspalten und Sauerrahmdressing sowie Pastinaken-Schaumsuppe mit Pesto gereicht, als Zwischengang ein rotes Johannisbeer-Sorbet mit Winzersekt und zum Hauptgang ein im Ganzen gebratenes Rinderfilet mit Kartoffelgratin und buntem Frühlingsgemüse." So geht es zwar nicht immer weiter, aber solche absatzlangen Aufzählungen, meist von Speisefolgen, bisweilen auch von Medikamenten oder Weinsorten, haben einen durchaus erklecklichen Anteil an Philipp Rödings jüngstem Werk "20XX". Im Gegensatz dazu fehlt es in diesem wohl aus Ratlosigkeit vom Verlag als "Roman" bezeichneten Buch allerdings an einer erkennbaren durchgängigen Geschichte.
"Kurzgeschichtensammlung" wäre wohl treffender gewählt, stehen doch auch die Protagonisten nur vage in Beziehung zueinander. Wahrscheinlich ist etwa "Nora", nach der auch eine der Erzählsequenzen betitelt ist, die Halbschwester von "Julius" (so immerhin zwei Zwischentitel). Aber letztlich ist das nicht von Belang. Oft wechselt die Erzählperspektive, und die Chronologie ist gleichfalls leicht wirr. Ein Abschnitt ist mit "2001" überschrieben und beginnt dann auch mit den Anschlägen auf das New Yorker World Trade Center. Wenige Sätze später sieht man sich aber schon mit dem Irak-Krieg konfrontiert, den der amerikanische Präsident George W. Bush lostrat. Darin eingestreut ist der Bericht von einer Journalistin, die damals als Sexsklavin an einen Milizenführer verkauft wurde und dann eine Art Stockholm-Syndrom entwickelt, von dem sie nicht mehr loskommt. Der Name für dieses psychologische Phänomen, das ja ein emotionales Naheverhältnis des Opfers zu seinem Peiniger bezeichnet, wird von Röding selbst nie verwendet, aber da ein weiteres - das letzte - Kapitel dann in der Hauptstadt Schwedens angesiedelt ist, liegt ein Zusammenhang nahe.
Spätestens in Stockholm angelangt, schreiben wir dann das Jahr 20XX (offenbar irgendwann in der nahen Zukunft um 2040), in dem sich wiederum merkwürdige Dinge ereignen. Unruhen werden vermeldet, möglicherweise liegt ein Bürgerkrieg in der Luft. Am Ende jedenfalls heißt es lapidar: "Ein paar Minuten später fingen die Gläser auf ihrem Tisch leise zu klirren an."
Philipp Röding, der 1990 in Stuttgart geboren wurde, in Wien, Frankfurt am Main und Illinois Filmtheorie studiert hat und jetzt wieder in Frankfurt lebt, versteht es durchaus, kurze Porträts seiner Protagonisten allein durch die Schilderung von deren Gedankengängen anzulegen. Er spart dabei weder an Überzeichnungen depressiver Zustände noch an der beiläufigen Erwähnung auch seltsamerer Sexualpraktiken. Für sein Figurenensemble ist das freilich alles normal oder liegt zumindest im Bereich der Selbstdiagnosen. Was er in "20XX" allerdings nicht schafft, ist, sein Publikum auch für diese merkwürdigen Typen zu interessieren. Zu belanglos sind die einzelnen Handlungsstränge, zu wenig erkennbar die Verbindungen. Bedenkt man Rödings Studium, käme man freilich noch in Versuchung, hier eine Reminiszenz an Sofia Coppolas "Lost in Translation" zu unterstellen. Denn verloren sind seine Charaktere in diesem Buch allemal.
MARTIN LHOTZKY
Philipp Röding: "20XX". Roman.
Luftschachtverlag, Wien 2020. 178 S., geb., 18,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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