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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Adeline Dieudonnés Roman "23 Uhr 12"
Das Treffen der Protagonisten ist so zufällig wie der Ort, an dem sie zusammenkommen: Auf dem nächtlichen Rastplatz begegnen sich eine alte Dame und einige junge Frauen, ein Kassierer und ein Vertreter, ein Pannenhelfer und ein Pferd. Manche schweigen, manche sprechen, zwei schlafen miteinander (oder versuchen es), und eine von ihnen manövriert sich an den Rand des Gewimmels, um das alles klarer zu sehen: "Die Alte betrachtete die nächtliche Prozession der Reisenden und dachte über deren Kämpfe nach, deren Sorgen, die Aneinanderreihung zufälliger Ereignisse, die ein Leben ausmachen, durch die es einzigartig und unersetzlich wird. Sie hätte gern jeden von ihnen nach seiner Geschichte gefragt."
Das übernimmt die Autorin für sie, die belgische Schauspielerin Adeline Dieudonné, die 2018 bereits mit dem blutrünstigen Roman "Das wirkliche Leben" Furore machte. "23 Uhr 12" trägt den Untertitel "Ein Roman in zwölf Geschichten", die Kapitel schildern unmittelbare oder auch länger zurückliegende Erlebnisse von je einem der Rastplatzbesucher, dessen Namen sie tragen, lassen aber auch andere darin aufscheinen - so wird etwa in "Sébastien" vom Vorabend erzählt, den der homosexuelle Kassierer des Rastplatzgeschäfts mit seinem Freund, einem unterbeschäftigten Komponisten, bei seiner Kollegin Juliette und deren Mann Damien verbrachte - die kleinen Kinder des Paares wurden dafür zu den Großeltern gebracht, dafür wälzte sich auf dem Sofa das Schwein Estelle, und Damien, Arbeiter in einem Schlachthof, hatte sie irgendwann schluchzend umarmt, ein scharfes Messer in der Hand.
Während Estelle also - wie sich herausstellt, immer wieder - davonkommt, geht es anderen an den Kragen. Die Tänzerin Chelly etwa hält es mit ihrem Mann, der sich ständig beklagt, nicht mehr aus und ersticht ihn kurzerhand, die Leiche bringt sie dann gut verpackt im Kofferraum zum Rastplatz mit, wo sie einen der Zufallsbekannten, den sensiblen Joseph, zum Sex in ihr Auto bringt, aber die Stimmung ist dahin, als Joseph das frische Blut riecht. Oder Julianne, die gerade ein Massaker überlebt hat, dem ihre ganze Siedlung zum Opfer gefallen ist. Das durch einen Delfin traumatisierte Model Victoire dagegen hat das große Morden noch vor sich: Sie ist auf dem Weg zu den Färöer-Inseln, um am blutigen Walfang teilzunehmen. Und auch das Pferd Red Apple geht an der Hand des halbseitig gelähmten Antoine einem grausigen Schicksal entgegen.
"23 Uhr 12" ist der Moment, an dem an diesem Abend die Geschichte einsetzt, das letzte Kapitel beginnt eine Minute später und endet um 23.14 Uhr. Formal also wird das Vorhaben, aus einem winzigen Moment von hier zwei Minuten ein ausschnitthaftes Kaleidoskop des Lebens zu entwickeln, eingelöst, und die Vorbilder aus Literatur- und Filmgeschichte liegen auf der Hand. Doch die Antworten, die die Erzählerin auf die Frage der alten Frau gibt, sind kaum Abbilder einer gesellschaftlichen Realität. Wer eine Gruppe von Wildfremden beobachtet und jedem von ihnen eine Geschichte andichtet, erzählt von den eigenen Vorstellungen.
Den Kosmos, der hier entsteht, bestimmen schrille Töne und wenig subtile Bilder, und wenn gar ein Pferd seine Geschichte mit ganz viel Menschenwissen erzählt, fragt man sich, ob der Ertrag der Mühe, all das unter einen Hut zu zwingen, nicht allzu karg geraten ist. TILMAN SPRECKELSEN
Adeline Dieudonné: "23 Uhr 12". Roman.
Aus dem Französischen von Sina de Malafosse. Dtv, München 2022. 176 S., geb., 18,- Euro.
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