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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
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Selbstbesoffen: Geoffroy de Lagasnerie findet sich und seine Freunde richtig toll
Der Pariser Soziologe Geoffroy de Lagasnerie schläft gern aus. Den Umstand, dass ihm dies nicht immer vergönnt ist, lastet er herrschenden Strukturen an, für die er in seinem Buch "3 - Ein Leben außerhalb" eigens einen Begriff kreiert hat: "Familienmatinalismus". Gemeint ist der "zeitliche Kannibalismus", mit dem junge Eltern ihr kinderloses Umfeld peinigen. In Lagasneries Fall spielt sich dies an der Universität ab. Ständig würden wichtige Seminare und Konferenzen auf den Vormittag gelegt, so die empörte Klage, "weil diejenigen, die Kinder haben, auf jeden Fall früh aufstehen und versuchen, den anderen ihren Rhythmus aufzuzwingen".
Aber was will man auch von Menschen erwarten, die sich zur Familiengründung entschlossen haben und damit für ein Dasein in sozialer Abschottung, intellektueller Verarmung und politischer Rückwärtsgewandtheit. Zur Untermauerung dieser Diagnose zitiert Lagasnerie eine Studie, in der es heißt: "Ein Mann zwischen 18 und 35 Jahren geht durchschnittlich 212 Mal im Jahr mit einer dritten Person aus. Wenn er heiratet, geht er vor dem Alter von 35 Jahren nur noch 58 Mal pro Jahr aus, zwischen 36 und 60 Jahren 36 Mal." Die Lage ist also bitterernst.
Zum Glück gibt es Individuen, die mutig gegen den Strom schwimmen; Menschen, denen es gelungen ist, sich der "existenziellen Enteignung", mit dem der allgegenwärtige Zwang zur traditionellen Familienwerdung einhergeht, zu entziehen. Als leuchtendes Beispiel präsentiert Lagasnerie sich selbst und seine zwei engsten Bezugspersonen: Didier Eribon und Édouard Louis, die in erfolgreichen Büchern ihren jeweiligen Bildungsaufstieg aus einfachen Verhältnissen in einer Welt von klassistischen Widerständen verarbeitet haben. Seit Jahren inszenieren die drei öffentlichkeitswirksam ihre Freundschaft. Lagasnerie verleiht diesem Bund nun die ultimative Weihe und verklärt ihn zum Inbegriff der dissidentischen Lebensform. Eine der Pointen dieses Beziehungsideals scheint zu sein, dass sie mit dem Familienleben ebenso unvereinbar ist wie mit dem Dasein als Paar. Dabei erwähnt Lagasnerie zwar kurz, dass er mit Eribon eine Partnerschaft führt, doch wie sich diese Zweisamkeit nun zum alles überstrahlenden Dreierbund verhält, bleibt ungeklärt.
Dafür erfährt man umso ausführlicher, wie viele Nachrichten sich die modernen Musketiere jeden Tag schreiben, dass sie einander oft zu Lesungen und Vorträgen begleiten, häufig gemeinsam zu Abend essen und spazieren gehen und immer zusammen in den Urlaub fahren. Banales trifft hier so hemmungslos auf Bohème-Kitsch und Revolutionsemphase, dass jeder Besuch des Triumvirats in einer Brasserie zum Akt des Widerstands wird und die gemeinsame Weihnachtsfeier zum Hochamt der Subversion.
Eigentlich wäre dieses eitle, konturlos gedachte, langatmig geschriebene "Lob der Freundschaft" keiner Erwähnung wert, wenn es sich nicht um ein auffallend widersprüchliches Armutszeugnis der französischen Linken handeln würde, an deren äußerstem Rand Lagasnerie sich selbst verortet. Wenn man nämlich einmal von der Gleichsetzung von Privatem und Politischem absieht, ist in dieser Schrift nicht mehr viel Linkes zu finden. So ist Lagasneries Abrechnung mit dem vermeintlich übermächtigen Familialismus ausgerechnet dann besonders unscharf und empathiefrei, wenn es um materielle Aspekte geht. Er verliert keine Silbe über das Armutsrisiko, dem verstärkt kinderreiche Familien und Alleinerziehende ausgesetzt sind. Seltsam schmallippig fallen auch seine Bemerkungen über homosexuelle Paare aus, die sich für Kinder entschieden haben, und die deshalb viel seltener in seinem erweiterten Freundeskreis auftauchen würden als kinderlose Heterosexuelle.
Ferner scheint der Autor eine besondere Art von Minderwertigkeitskomplex zu kultivieren. Denn im Unterschied zu seinen beiden Kompagnons wurde Lagasnerie nicht die Gnade der Geburt in bildungsfernen ärmlichen Verhältnissen zuteil. Er entstammt dem betuchten Milieu des Klassenfeinds. So penetrant, wie er darauf pocht, dass all jene, die nicht im traditionellen Kernfamilienverbund leben, von der Gesellschaft "symbolisch herabgewürdigt" würden, wirkt das in erster Linie wie ein verzweifelter Selbstviktimisierungsversuch. An einer Stelle geht es darum, dass Eribon und Louis belastende Erfahrungen, etwa wenn sie auf Familientreffen von Fremdheitsgefühlen geplagt werden, mit ihrem Milieuwechsel erklären. Lagasnerie will dies nicht gelten lassen. Er selbst leide bei Elternbesuchen doch auch! Diese Empfindung könne ihren Grund also unmöglich in der spezifischen Biographie des Klassenflüchtlings haben. Spricht hier noch der Freund oder nicht doch schon der Narzisst, der anderen sogar negative Erfahrungen neidvoll aberkennt, weil er selbst sie nicht teilt?
Grundsätzlich jedoch herrscht bei der porträtierten Dreifaltigkeit unzerstörbare Harmonie und funkensprühender Gedankenaustausch. Vor allem aber geht es um bedingungslose wechselseitige Affirmation und Anerkennung. Darin liegt für Lagasnerie das eigentliche Geheimnis des Zaubertrios. Weil er, Eribon und Louis einander permanent bestätigen würden, seien sie als "widerspenstige, rebellische Wesen" in der Lage, "ihre radikale Unabhängigkeit von allen Regeln und Institutionen" zu behaupten. Und deswegen würden sie auch so radikale und so gute Bücher schreiben. Als Gegenbeispiel verweist Lagasnerie mit der ihm eigenen Bescheidenheit auf Pierre Bourdieu: Dieser habe nämlich niemals "die Freundschaft als Lebensform, als zentralen Ort der Subjektivität" entdeckt. Folglich sei Bourdieu im Statusdenken und der Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung gefangen geblieben, was ihn davon abgehalten habe, in seinem Buch "Ein soziologischer Selbstversuch" den "Sprung ins Leere" zu wagen. Lagasnerie hingegen ist hier ein regelrechter Salto mortale in ein Nichts aus Selbstbesoffenheit und Revoluzzerpose gelungen. MARIANNA LIEDER
Geoffroy de Lagasnerie: "3 - Ein Leben außerhalb". Lob der Freundschaft.
Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023.
202 S., Abb., geb., 26,- Euro.
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