Die einzelnen Episoden dieses im besten Sinne elektischen Bandes erzählen von einer Stadt, die Generationen von Schriftstellern, Künstlern, Musikern - und Lesern - fasziniert hat. Einer Stadt, wo aus jedem Kanaldeckel die Geschichte hervorzuquellen und jede Mauer von einer frischen Patina überzogen scheint. Doch trotz dieser alles überlagernden Pracht des Vergänglichen, das nie vergeht - oder gerade ihretwegen -, eignet sich 'Piter' vorzüglich als Projektionsfläche für Schulzes literarische Phantasien. Als Fremder hat er genau hingesehen und oftmals ein kleines Detail aus dem Alltag aufgegriffen, das sich in seiner geradezu überbordenden dichterischen Vorstellungskraft zu einer komischen, grotesken, manchmal auch tragischen Geschichte auswächst. Ein ausgeklügeltes Vexierspiel, das mit erzählerischer Verve die große Tradition der Petersburger Literatur aufgreift und zugleich eine ganz eigene, ganz unverwechselbare Stimme der deutschen Gegenwartsliteratur präsentiert.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.05.2007Dem Kapitalismus ins Auge blinzeln
Ingo Schulze: „33 Augenblicke des Glücks”
Ingo Schulze ist wie kein zweiter deutscher Autor der Schriftsteller der Zeitenwende von 1989. Sein Buch „Simple Storys”, das ihn 1998 schlagartig berühmt machte, erzählt vom verwirrenden Taumel, mit dem die Weltgeschichte die Menschen des thüringischen Städtchens Altenburg erfasst, sie aus den gewohnten Lebensbahnen reißt und sie einer neuen, noch offenen Zukunft übergibt. Aber schon Schulzes Debüt, die hinreißenden „33 Augenblicke des Glücks”, erzählen von dieser Zeitenwende – sie greifen dafür aber viel weiter nach Osten aus: St. Petersburg ist die Stadt, vor deren Kulisse Schulzes Protagonisten den homo sovieticus hinter sich lassen und dem wild-neuen Kapitalismus ins Auge blinzeln.
Auf universitärem Terrain nennt sich das Fach, dessen Thema der Systemwechsel in Osteuropa ist, Transformationswissenschaft. Das klingt ziemlich kalt, technisch und ungemütlich für ein Ereignis, das Europa sich selbst zurückgegeben hat. Von den Seelen- und Verhaltenstransformationen erzählt auch Ingo Schulze. Aber auch davon, wie sich die Topographie unseres kulturellen Gedächtnisses seit 1989 neu ordnet. Denn mit dem Ende des Eisernen Vorhangs sind nicht nur geographisch, sondern auch historisch neue, oder muss man sagen: alte Räume wieder zugänglich geworden. Tiefere Schichten der Überlieferung. Nicht ohne Grund spielen die „33 Augenblicke des Glücks” nicht in Moskau, sondern in Sankt Petersburg, der Stadt, deren Namenswechsel schon die Schleifen der Geschichte in sich aufgenommen hat. Dabei ist dieses „Piter”, wie ihre Bewohner es vertraulich nennen, bei Schulze eher eine Phantasmagorie als eine realistische Stadtlandschaft – trotz aller handfesten Lebensschicksale, die sich darin abspielen. Denn das neue Russland, von dem Schulze erzählt, ist vor allem auch dadurch geprägt, dass es sehr viel Altes, Mythisches und Literarisches wieder ins Kraut schießen lässt.
Die „33 Augenblicke des Glücks” ist ein ironisches, ein verspieltes, mit dem Leser und der Literaturgeschichte sein Spiel treibendes Buch. Eingebettet ist es in eine Herausgeberfiktion. Ingo Schulze erklärt eingangs, das Textkonvolut sei nur durch Zufall in seine Hände geraten, es stamme eigentlich von einem gewissen Herrn Hofmann, einem deutschen Geschäftsmann in Russland. Der ist naturgemäß weniger Geschäftsmann als Wiedergänger des foppenden Erzromantikers und Geschichten-Kauzes E.T.A. Hoffmann. Und so haben alle diese Prosaminiaturen einen Drall ins Phantastische, Surreale, Übersinnliche, ins, wie man es mit den Frühromantikern sagen könnte: Transzendental-Komische. Der Herausgeber rechtfertigt die Publikation mit dem Hinweis, er hoffe, die Aufzeichnungen trügen dazu bei, „die anhaltende Diskussion um den Stellenwert des Glücks zu beleben”. Wenn das mal kein Thema ist, für das sich das Lesen lohnt.IJOMA MANGOLD
Ingo Schulze Foto: Jürgen Bauer/SV-Bilderdienst
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Ingo Schulze: „33 Augenblicke des Glücks”
Ingo Schulze ist wie kein zweiter deutscher Autor der Schriftsteller der Zeitenwende von 1989. Sein Buch „Simple Storys”, das ihn 1998 schlagartig berühmt machte, erzählt vom verwirrenden Taumel, mit dem die Weltgeschichte die Menschen des thüringischen Städtchens Altenburg erfasst, sie aus den gewohnten Lebensbahnen reißt und sie einer neuen, noch offenen Zukunft übergibt. Aber schon Schulzes Debüt, die hinreißenden „33 Augenblicke des Glücks”, erzählen von dieser Zeitenwende – sie greifen dafür aber viel weiter nach Osten aus: St. Petersburg ist die Stadt, vor deren Kulisse Schulzes Protagonisten den homo sovieticus hinter sich lassen und dem wild-neuen Kapitalismus ins Auge blinzeln.
Auf universitärem Terrain nennt sich das Fach, dessen Thema der Systemwechsel in Osteuropa ist, Transformationswissenschaft. Das klingt ziemlich kalt, technisch und ungemütlich für ein Ereignis, das Europa sich selbst zurückgegeben hat. Von den Seelen- und Verhaltenstransformationen erzählt auch Ingo Schulze. Aber auch davon, wie sich die Topographie unseres kulturellen Gedächtnisses seit 1989 neu ordnet. Denn mit dem Ende des Eisernen Vorhangs sind nicht nur geographisch, sondern auch historisch neue, oder muss man sagen: alte Räume wieder zugänglich geworden. Tiefere Schichten der Überlieferung. Nicht ohne Grund spielen die „33 Augenblicke des Glücks” nicht in Moskau, sondern in Sankt Petersburg, der Stadt, deren Namenswechsel schon die Schleifen der Geschichte in sich aufgenommen hat. Dabei ist dieses „Piter”, wie ihre Bewohner es vertraulich nennen, bei Schulze eher eine Phantasmagorie als eine realistische Stadtlandschaft – trotz aller handfesten Lebensschicksale, die sich darin abspielen. Denn das neue Russland, von dem Schulze erzählt, ist vor allem auch dadurch geprägt, dass es sehr viel Altes, Mythisches und Literarisches wieder ins Kraut schießen lässt.
Die „33 Augenblicke des Glücks” ist ein ironisches, ein verspieltes, mit dem Leser und der Literaturgeschichte sein Spiel treibendes Buch. Eingebettet ist es in eine Herausgeberfiktion. Ingo Schulze erklärt eingangs, das Textkonvolut sei nur durch Zufall in seine Hände geraten, es stamme eigentlich von einem gewissen Herrn Hofmann, einem deutschen Geschäftsmann in Russland. Der ist naturgemäß weniger Geschäftsmann als Wiedergänger des foppenden Erzromantikers und Geschichten-Kauzes E.T.A. Hoffmann. Und so haben alle diese Prosaminiaturen einen Drall ins Phantastische, Surreale, Übersinnliche, ins, wie man es mit den Frühromantikern sagen könnte: Transzendental-Komische. Der Herausgeber rechtfertigt die Publikation mit dem Hinweis, er hoffe, die Aufzeichnungen trügen dazu bei, „die anhaltende Diskussion um den Stellenwert des Glücks zu beleben”. Wenn das mal kein Thema ist, für das sich das Lesen lohnt.IJOMA MANGOLD
Ingo Schulze Foto: Jürgen Bauer/SV-Bilderdienst
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.07.1995Dreiunddreißig Augenblicke des Glücks
St. Petersburger Szenen von Ingo Schulze als Vorabdruck in der F.A.Z.
Das einzige, was Hofmann zurückgelassen hatte, war ein Manuskript, von dem keineswegs sicher war, daß es wirklich von Hofmann stammte. Nach einem langen, gemeinsam verbrachten Abend im Speisewagen steckte es am Morgen im Gepäcknetz des Schlafwagens, der die Reisende nach St. Petersburg bringen sollte. Kommentarlos, ein letzter Gruß der charmanten, wennn auch recht undurchsichtigen Reisebekanntschaft, die so kurzweilig aus Rußland zu erzählen verstand und eigenen Worten zufolge die Fiktion für nicht weniger wirklich hielt als den Unfall auf der Straße.
Bei ihrer nächsten Zufallsbegegnung im Zug trifft die Reisende einen jungen Mann mit literarischen Ambitionen. Kurz darauf erhält er das Manuskript per Post, mit der Bitte, für eine Veröffentlichung zu sorgen. Denn durch ein paar kleine Überarbeitungen lasse sich bestimmt eine "recht kurzweilige Unterhaltung" daraus machen. Der junge Literat übernimmt die Aufgabe in der Überzeugung, die ihm anvertrauten Aufzeichnungen seien nicht nur unterhaltsam, sondern womöglich bestimmt, "die anhaltende Diskussion um den Stellenwert des Glücks neu zu beleben".
Mit dieser Rahmenhandlung beginnt Ingo Schulzes chronikalische Erzählung "33 Augenblicke des Glücks. Aus den abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter", die wir von morgen an vorabdrucken. Die literarischen Modelle der Rahmenhandlung und der fingierten Herausgabe eines Textes von fremder Hand und obskurer Herkunft sind dem achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert entliehen, der Tonfall aber, in dem Schulze seine Rahmenhandlung angelegt hat, ist unverkennbar von heute. Und von der Gegenwart handeln denn auch fast alle Stücke des Buches, trotz des historisierenden Untertitels, der von ferne an Goethes "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" denken läßt.
Die Anspielung auf Goethe dürfte kein Zufall sein. Denn so wie Goethe den Untergang des Ancien régime und den Epochenwechsel der Französischen Revolution zum Hintergrund seines Novellenzyklus machte, hat auch der 1962 in Dresden geborene Schulz einen historischen Wendepunkt zum Anlaß seines Prosadebüts genommmen. Die 33 Texte - kurze Szenen, skizzenhafte Erzählungen, Prosaminiaturen, Kunstmärchen und kleine Novellen - ergeben ein Petersburger Panorama, das beispielhaft das Leben in Rußland nach dem Zusammenbruch der Nomenklatura und der Implosion des kommunistischen Systems widerspiegeln soll.
In erstaunlicher stilistischer Vielfalt erzählt Schulze das Märchen vom amerikanischen Generaldirektor, der die drei schönen Töchter einer armen Arbeiterin heiratet, berichtet von unheimlichen Ausflügen aufs Land und davon, wie noch in dem alten Regime der Zauberstab erfunden wurde, aber nur ein einziges Mal benutzt werden konnte. Der Westen, so scheint es, ist in Rußland heute kaum weniger präsent als die alte Sowjetunion. Aber wenn Schulze aus Puschkins berühmtem Postmeister einen Tankwart macht, sonst aber nahezu nichts am Gang der klassischen Novelle ändert, soll dies bedeuten, daß auch in Piter, wie die Einwohner von St. Petersburg ihre Stadt nennen, nicht alles Elend neu und nicht alles Neue elend ist. HUBERT SPIEGEL
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St. Petersburger Szenen von Ingo Schulze als Vorabdruck in der F.A.Z.
Das einzige, was Hofmann zurückgelassen hatte, war ein Manuskript, von dem keineswegs sicher war, daß es wirklich von Hofmann stammte. Nach einem langen, gemeinsam verbrachten Abend im Speisewagen steckte es am Morgen im Gepäcknetz des Schlafwagens, der die Reisende nach St. Petersburg bringen sollte. Kommentarlos, ein letzter Gruß der charmanten, wennn auch recht undurchsichtigen Reisebekanntschaft, die so kurzweilig aus Rußland zu erzählen verstand und eigenen Worten zufolge die Fiktion für nicht weniger wirklich hielt als den Unfall auf der Straße.
Bei ihrer nächsten Zufallsbegegnung im Zug trifft die Reisende einen jungen Mann mit literarischen Ambitionen. Kurz darauf erhält er das Manuskript per Post, mit der Bitte, für eine Veröffentlichung zu sorgen. Denn durch ein paar kleine Überarbeitungen lasse sich bestimmt eine "recht kurzweilige Unterhaltung" daraus machen. Der junge Literat übernimmt die Aufgabe in der Überzeugung, die ihm anvertrauten Aufzeichnungen seien nicht nur unterhaltsam, sondern womöglich bestimmt, "die anhaltende Diskussion um den Stellenwert des Glücks neu zu beleben".
Mit dieser Rahmenhandlung beginnt Ingo Schulzes chronikalische Erzählung "33 Augenblicke des Glücks. Aus den abenteuerlichen Aufzeichnungen der Deutschen in Piter", die wir von morgen an vorabdrucken. Die literarischen Modelle der Rahmenhandlung und der fingierten Herausgabe eines Textes von fremder Hand und obskurer Herkunft sind dem achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhundert entliehen, der Tonfall aber, in dem Schulze seine Rahmenhandlung angelegt hat, ist unverkennbar von heute. Und von der Gegenwart handeln denn auch fast alle Stücke des Buches, trotz des historisierenden Untertitels, der von ferne an Goethes "Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten" denken läßt.
Die Anspielung auf Goethe dürfte kein Zufall sein. Denn so wie Goethe den Untergang des Ancien régime und den Epochenwechsel der Französischen Revolution zum Hintergrund seines Novellenzyklus machte, hat auch der 1962 in Dresden geborene Schulz einen historischen Wendepunkt zum Anlaß seines Prosadebüts genommmen. Die 33 Texte - kurze Szenen, skizzenhafte Erzählungen, Prosaminiaturen, Kunstmärchen und kleine Novellen - ergeben ein Petersburger Panorama, das beispielhaft das Leben in Rußland nach dem Zusammenbruch der Nomenklatura und der Implosion des kommunistischen Systems widerspiegeln soll.
In erstaunlicher stilistischer Vielfalt erzählt Schulze das Märchen vom amerikanischen Generaldirektor, der die drei schönen Töchter einer armen Arbeiterin heiratet, berichtet von unheimlichen Ausflügen aufs Land und davon, wie noch in dem alten Regime der Zauberstab erfunden wurde, aber nur ein einziges Mal benutzt werden konnte. Der Westen, so scheint es, ist in Rußland heute kaum weniger präsent als die alte Sowjetunion. Aber wenn Schulze aus Puschkins berühmtem Postmeister einen Tankwart macht, sonst aber nahezu nichts am Gang der klassischen Novelle ändert, soll dies bedeuten, daß auch in Piter, wie die Einwohner von St. Petersburg ihre Stadt nennen, nicht alles Elend neu und nicht alles Neue elend ist. HUBERT SPIEGEL
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