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Nora Bossongs kluger Roman "36,9°" über den marxistischen Philosophen Antonio Gramsci illustriert die Konflikte zwischen Liebe, Klassenkampf und utopischem Denken
"Jetzt, nachdem ich ein Leben lang neben Gramsci hergetrottet war, er mich verdeckt hatte, getreten, in die kleine Form gezwungen, jetzt war es an ihm, dass er mir einmal, ein einziges Mal zumindest beistand": Dieser Herzenswunsch des Gramsci-Forschers Anton Stöver, des zweiten Helden in Nora Bossongs neuem Roman, ihrem vierten, wird nicht in Erfüllung gehen. Denn Antonio Gramsci, der legendäre Chefideologe der Kommunistischen Partei Italiens, den Mussolini von allen seinen politischen Gegnern am meisten fürchtete und den er im November 1926 als Parlamentsabgeordneten verhaften und zehn Jahre im Gefängnis dahinsiechen ließ, konnte sich selbst nicht helfen. Kurz zuvor hatte sich das erste Mal eine Frau in ihn verliebt, was ihn fassungslos glücklich machte, denn er hielt sich für abstoßend hässlich. Sein Glück war kurz, ihm folgte das kleine Glück auf der Gefängnisinsel Ustica, wo seine Mitgefangenen für ihn kochen, dann bleibt, in Turi im Gefängnis, nur noch die Freude an der Theoriearbeit.
So ernsthaft und streng mit sich selbst Gramsci war, so flatterhaft und eitel ist Stöver: ein qualvoll mittelmäßiger Mensch, der sich notorisch überschätzt. In diesem reizvollen, vom Tragischen ins Komische changierenden Kontrast liegt der momentweise auch bittere Humor des Romans - wobei leider nicht alle Stöver-Szenen gelungen sind. So nah dessen heimische Ehestreitigkeiten oft an der Kolportage entlangschrammen, so überzeugend und eindringlich sind dagegen alle Gramsci-Szenen des Romans.
"36,9°", so der Titel, bezeichnet die menschliche Normaltemperatur, nur ein Zehntelgrad vom Fieber entfernt. Und diese prekäre Temperatur, die Gramsci Anfang der dreißiger Jahre notiert, ist gleichzeitig die Betriebstemperatur dieses verstörenden, elegant gebauten und in einer kunstvoll kühlen Sprache erzählten Buchs. Sie habe Gramsci, dem Intellektuellen, der sich vor allen Emotionen fürchtete, bis in den Diktion hinein nahekommen wollen, erklärte die Autorin bei der Buchpremiere im Literarischen Colloquium in Berlin, deshalb habe sie alles nur Greifbare von ihm und über ihn gelesen. Die Gefängnishefte natürlich, vor allem aber den qualvollen Briefwechsel mit seiner depressiven Frau Julia in Moskau und die theoretisch-leidenschaftlichen Briefe an deren Schwester Tatjana, die ihn oft im Gefängnis besuchte. Dem Leser kommt dieser schillernde, innerlich tief zerrissene, verkrüppelte Mensch sehr nahe, der mit der eigenen Sinnlichkeit kämpft und noch über den Tod hinaus ein Spielball der Politik bleibt - Stalin misstraute Gramsci, dem eigensinnig-charismatischen Dissidenten im Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationalen, zutiefst.
Weit ausgreifende Themen und Stoffe prägen das umfangreiche Werk der 1982 in Bremen geborenen Nora Bossong, die parallel Lyrik, Prosa und Essays schreibt und für ihren Gedichtband "Sommer vor den Mauern" (2011) mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet wurde. Sie hat in Berlin und Rom Komparatistik und Philosophie studiert und anschließend am Leipziger Literaturinstitut - dem sie heute eher kritisch gegenübersteht. Die Frage, warum Antonio Gramsci sie interessiert, beantwortet sich nur zum Teil aus ihrem Studienort Rom. Zwar ist Gramsci dort bis heute präsent, wird sogar in Schulen gelesen. Doch sie hat auch eine persönliche Verbindung zu dem sozialistischen Libertin, der in ihrer Familie als Held und Hoffnungsgestalt galt. Schon als Kind stand sie an Gramscis Grab in Rom, und sie beneidet ihre Eltern bis heute um diesen Glauben an eine Utopie.
Das politische Genie Gramsci ist das leuchtende erzählerische Zentrum ihres Romans. Seinem politisch-philosophischen Hauptwerk, den neunundzwanzig (bekannten) Heften mit Aufzeichnungen und vier mit Übersetzungen, gebührt ein Platz neben Walter Benjamins "Passagenwerk" und Peter Weiss' "Notizbüchern". Möglicherweise, so Bossongs These, die von Gramsci-Forschern vertreten wird, haben Moskauer Archivare ein Heft verschwinden lassen. Könnte es eine vernichtende Stalin-Kritik enthalten, die 1937, als die Hefte nach Gramscis Tod in Moskau ankamen, seine dort lebende Familie gefährdet hätte? Oder das genaue Gegenteil, das die Partei nach der Entstalinisierung auslöschen wollte?
Wahrscheinlich hat die Autorin dem Gramsci-Kind wider Willen Stöver, der zur Einschulung 1967 eine italienische Auswahl von dessen Schriften geschenkt bekam, einige autobiographische Details geliehen. Die Lebensschuld seiner Mutter, einer Polit-Hetäre, die ihr Kind vernachlässigte um der Rettung der Menschheit willen, bildet als bitterböse Provinzposse einen zentralen Gedankenkonflikt Gramscis ab: "Ich habe früher einmal die Frage gestellt, wie es möglich sein kann, eine Masse von Menschen zu lieben, für den, der nie einen einzigen Menschen geliebt hat."
Bei seinen Recherchen im wunderbar mumienhaft geschilderten Istituto Gramsci in Rom, der heutigen Erzählebene des Romans, betrachtet Stöver ratlos den buckligen, kranken, an der Liebe gescheiterten Philosophen, vergisst das geheimnisvolle Heft und versinkt in einem erotischen Traum von der vollkommenen Frau - die er in Gramscis Vertrauter Tatjana findet: seiner aufopferungsvollen, eifersüchtigen Schwägerin und einzigen Gesprächspartnerin. Er beschimpft und quält sie und hätte doch ohne sie nicht schreiben können. Die Szenen seines täglichen Schreibkampfes in der Zelle gehören zu den anrührendsten des Buches.
Ein Wissenschafts- und Politkrimi, zwei tragische, über ein halbes Jahrhundert hinweg verschlungene Liebesgeschichten und das eindringliche, präzise Porträt eines Philosophen, dessen Konzept einer für alles Fremde offenen Zivilgesellschaft bestürzend aktuell ist: Gramsci, der mögliche Hoffnungsträger der heutigen europäischen Linken, dessen Schriften erst 1991 in einer verlässlichen Ausgabe auf Deutsch erschienen, ist hier neu zu entdecken.
NICOLE HENNEBERG
Nora Bossong: "36,9°".
Roman.
Hanser Verlag, München 2015. 318 S., geb., 19,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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