Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, HR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
40 Politikwissenschaftler über 50 Jahre Bundesrepublik: Das rein Deskriptive steht im Vordergrund
Thomas Ellwein, Eberhard Holtmann (Herausgeber): 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Rahmenbedingungen - Entwicklung - Perspektiven. Sonderheft 30/1999 der "Politischen Vierteljahresschrift". Westdeutscher Verlag, Opladen 1999. 665 Seiten, 98,-- Mark.
Als die Bundesrepublik im Jahre 1989 vierzig Jahre alt wurde, waren politische wie wissenschaftliche Kommentare voll des Lobes ob der Erfolgsgeschichte dieses deutschen Teilstaates. In der jahrzehntelangen Konfrontation mit seinem sowjetisierten ostdeutschen Zwilling hatte er sich in nahezu allen Belangen als überlegen erwiesen. Die nach dem Zusammenbruch der DDR überraschend schnell vollzogene Vereinigung beider Staaten erfolgte auf der Grundlage der Übertragung seiner bewährten politischen und wirtschaftlichen Institutionen.
Den 50. Jahrestag der westdeutschen Staatsgründung nahmen Politikwissenschaftler erneut zum Anlaß, eine Geschichte des nun erweiterten Staatswesens schreiben zu wollen. In einem Sonderheft der "Politischen Vierteljahresschrift", des Zentralorgans standesbewußter Politikwissenschaftler, wird Bilanz gezogen. In vierzig Beiträgen geht es vor allem um die institutionellen Grundlagen des politischen Systems, verschiedene Politikfelder sowie um den Grad der Akzeptanz und den notwendigen Wandel dieses Systems. Als verbindende Klammer benennt Herausgeber Holtmann die Absicht, "Bedingungszusammenhänge zwischen Politik-Strukturen, Politik-Prozessen und Politik-Inhalten zu erhellen". Doch schon die einleitenden Beiträge zu den Entwicklungsphasen der Bundesrepublik und der DDR offenbaren die Schwächen des Buches, die in vielerlei Hinsicht auch typisch für den Zustand der Politikwissenschaft zu sein scheinen.
Axel Schildt kommt über eine oberflächliche Skizzierung der bundesdeutschen Geschichte nicht hinaus und läßt die von ihm eingangs gestellte Frage nach den Erfolgsfaktoren unbeantwortet. Der nachfolgende Beitrag zur DDR-Geschichte von Gert-Joachim Glaeßner hat es dagegen einfacher, indem er angesichts des Verschwindens dieses Staates schlicht konstatiert: "Das politische System der DDR hat nie über einen längeren Zeitraum hinweg zu Stabilität und Kontinuität finden können." Die DDR-Geschichte wird als eine Geschichte vergeblicher Modernisierungsversuche, fehlgeschlagener Liberalisierungen und permanenter Krisen beschrieben. Da stört es nicht, daß der gleiche Autor elf Jahre zuvor noch formuliert hatte: "Mit Recht kann die SED, wie auf dem XI. Parteitag 1986 geschehen, eine Erfolgsbilanz vorlegen." Die Maxime "Was stört mich mein Geschwätz von gestern" scheint sich nicht nur bei Politikern großer Beliebtheit zu erfreuen.
Die Vernachlässigung innerdeutscher Wechselbeziehungen und Einflußnahmen in den Eingangsartikeln wäre zu verschmerzen gewesen, wenn in dem Artikel von Andreas Eisen und Uta Stitz über das "Nebeneinander der beiden deutschen Staaten" wenigstens in Ansätzen die jeweiligen inneren Folgen der konkurrierenden und kooperierenden Existenz zweier deutscher Staaten thematisiert worden wären. Die Autoren beschränken sich aber auf eine historisch-institutionalistische Darstellung der innerdeutschen Beziehungen und den wiederholten Hinweis auf den Kalten Krieg als den vermeintlich entscheidenden Faktor für die "konkurrierende Entwicklung der jeweiligen politischen Institutionen".
Die nachfolgenden Beiträge zu "Verfassung und Verfassungswandel", zu "Kontinuität und Veränderung der öffentlichen Aufgaben", zu den "Gebietskörperschaften und ihrer Verflechtung" sowie zu "Institutionen und Verfahren der Politik" zeichnen überwiegend ein eher strukturkonservatives Bild von der Bundesrepublik und ihren politischen Institutionen. Viele Autoren sehen das Bewährte durch die Globalisierung und den daraus erwachsenden Modernisierungsdruck in Frage gestellt.
Der Staat in seinen jeweiligen Funktionen als Verfassungsstaat, Sozialstaat, Kulturstaat erscheint geradezu als Rettungsanker vor den stürmischen Winden des ökonomisch-technischen Wandels. Roland Sturm behauptet gar, in der öffentlichen Diskussion gelte "ungebremste Gewinnmaximierung als Naturgesetz" und das "Gemeinwohlargument" stehe unter Begründungszwang. Tatsächlich dürfte eher das Gegenteil der Fall sein; jedenfalls zeugen die Diskussionen etwa über die Steuer- und Rentenreform nicht gerade von der Bereitschaft zu einem grundsätzlichen Wandel.
Analoge Argumentationsmuster finden sich bei Nicolai Dose, der einen "Abbau des Rechtsstaates" nach der Vereinigung feststellt und dabei auf die Beschleunigung rechtlicher Verfahren und den "Großen Lauschangriff" verweist. Arthur Benz lobt den deutschen Föderalismus und zeigt sich distanziert gegenüber dem Modell eines "Konkurrenzföderalismus". Lutz Leisering sieht Furchtbares auf den Sozialstaat zukommen, spricht gar von einer "Epochenschwelle", wiewohl er auch ein "Veralten" des tradierten wohlfahrtsstaatlichen Arrangements konstatiert.
Während in vielen Artikeln die Folgen der Vereinigung für die Entwicklung der Bundesrepublik erstaunlicherweise ausgeklammert bleiben und damit ein veraltetes Bild von der Bundesrepublik gezeichnet wird, beziehen Edeltraut Roller in ihrer Darstellung des sozialkulturellen Wertwandels, Helga Haftendorn in ihrer Skizze von Kontinuität und Wandel des außenpolitischen Entscheidungsprozesses und Wilfried von Bredow bei der Analyse der gesellschaftlichen Herausforderungen der Bundeswehr diese zentral mit ein. Dabei wird in Kontrast zu den anderen Beiträgen deutlich, daß trotz weitgehender institutioneller Kontinuität auch die alte bundesrepublikanische Gesellschaft unter vereinigungsbedingtem Anpassungsdruck steht.
Nur wenige Beiträge schaffen es, über die reine Deskription hinaus Verwerfungen und Perspektiven des seit zehn Jahren vereinten Deutschlands aufzuzeigen. Werner Jann stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Verwaltung und fordert gegen die weitere Verselbständigung des Beamtenapparates neue politische und administrative Strukturen, die gleichermaßen demokratische Kontrolle und Effizienz mit einschließen.
Bettina Westle zieht eine lesenswerte Linie von der in den sechziger Jahren erhobenen Forderung des Philosophen Karl Jaspers nach Selbstanerkennung der Bundesrepublik, der sich im Laufe der beiden nachfolgenden Jahrzehnte nahezu alle linken und liberalen Intellektuellen anschlossen, bis zu den nicht zu übersehenden Schwierigkeiten bei der Entwicklung der kollektiven Identität der Deutschen nach der Vereinigung.
Eckhard Jesse bescheinigt der streitbaren Demokratie eine insgesamt gelungene Auseinandersetzung mit dem politischen Extremismus, bemängelt aber zugleich eine seit den siebziger Jahren nachlassende Abgrenzung gegenüber dem linken Extremismus. Die Sicherung der Freiheit im Kampf gegen die Feinde der Freiheit sieht er innerhalb des "Panzers der Verfassung" weiterhin gut aufgehoben. Ob sich indes die bewährte Mischung von Integrationsbereitschaft und Härte als ein geeignetes Instrument bei der Bekämpfung des Rechtsextremismus erweisen wird, bleibt derzeit unbeantwortet. Wie das Beispiel der ostdeutschen Länder zeigt, fehlte es in den letzten zehn Jahren auch in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus und der alltäglichen Gewalt gegen Fremde an der notwendigen Distanzierung und staatlichen Härte.
Michael Greven und Joachim Hesse diskutieren in ihren Beiträgen, wie die Demokratie angesichts des globalen Modernisierungsdrucks gesichert und weiterentwickelt werden kann. Während Hesse die Notwendigkeit des Staates als Ordnungsfaktor betont und einen Mangel an Erneuerungswillen bei staatlichen Akteuren beobachtet, vermutet Greven eine Traditionalisierung der Demokratie und bemängelt das Ausbleiben einer neuen Demokratiebewegung. Leider geht er auf die Erfahrungen mit direkter oder informeller Demokratie und ihren offenkundigen Schwächen nicht ein, auch wird bei ihm nicht deutlich, wie und in welche Richtung sich die pluralistische Demokratie erneuern kann.
Hierzu wäre es notwendig, die gerade von linken Politikwissenschaftlern mystifizierte Brandtsche Formel "Mehr Demokratie wagen" auf ihre Auswirkungen zu untersuchen und darüber hinaus die Erfahrungen der 68er Revolte und ihrer Nachfolgebewegungen zu durchleuchten. Die Herausforderung der bundesdeutschen Demokratie durch den Linksradikalismus wird (obschon nicht wenige Autoren dieses Bandes hierdurch geprägt sind) nur von Gesine Schwan herausgehoben, wenn auch in einer verkürzenden Perspektive. Sie kritisiert gleichermaßen 68er-Renegaten und ihre konservativen Gegner von ehedem und wirft beiden vor, "nicht nach einer gemeinsamen Basis im Gespräch" suchen zu wollen. Diese Behauptung bleibt ebenso unbelegt wie ihre Polemik gegen das Konzept der "Deregulierung". Ob die Gesellschaft tatsächlich - wie Schwan fordert - gleich einen "neuen lebendigen Grundkonsens" benötigt, legen jedenfalls die anderen 39 Beiträge des Bandes nicht unbedingt nahe.
So informativ einige Überblicksdarstellungen zu verschiedenen Politikfeldern in diesem Band auch sein mögen, in der Breite überzeugen die Ausführungen angesichts mangelnder Tiefenschärfe nicht. Die Stärke der Politikwissenschaft, interdisziplinär und historisch vergleichend argumentieren zu können, kommt in diesem Band nicht zum Tragen. Im Gegenteil: Die Auflösung in Bindestrich-Politologien läßt das Fach schwächer erscheinen, als es tatsächlich ist. Zehn Jahre nach der Vereinigung sollte über fünfzig Jahre Bundesrepublik Deutschland kontroverser und offener debattiert werden. Ansonsten veralten nicht nur Politik und Gesellschaft, sondern zuerst ihre professionellen Beobachter.
KLAUS SCHROEDER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH