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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Tarnung hinter der Imkerzeitung: Georgi Gospodinovs fesselnder Erzählband "8 Minuten und 19 Sekunden"
Ein Blick in den Himmel ist immer auch eine Reise in die Vergangenheit. Denn das Licht braucht Zeit, um das Weltall zu durchqueren, von der Sonne bis zur Erde sind es mehr als acht Minuten. Es könnte also sein, wie Georgi Gospodinov in der Titelgeschichte seines neuen Erzählbandes annimmt, dass die Sonne zum jetzigen Zeitpunkt bereits erloschen ist, wir dies jedoch nicht wissen. Weil das Licht noch unterwegs ist. "Dir bleiben noch 8 Minuten und 19 Sekunden, bis dich die Nachricht von ihrem Tod erreicht." Was wäre nun aber zu tun in diesen Minuten, ehe es dunkel wird? Die wichtigsten Dinge zusammenpacken? Ein letztes Mal von der Lieblingsspeise naschen? Mit Freunden und der Familie telefonieren? Sie zu treffen, dafür wäre es zu spät. Aber dann sind acht Minuten vergangen, und es ist noch immer hell. Wir sind mit Gospodinov noch einmal um die Apokalypse herumgekommen und können seine Geschichte getrost zu Ende lesen, was, wie der Autor verspricht, nicht länger als acht Minuten und neunzehn Sekunden dauert.
Die unter diesem Titel versammelten neunzehn Geschichten des 1968 im bulgarischen Jambol geborenen Schriftstellers schauen mal mit Verzweiflung, mal mit leichtfüßigem Humor in eine düstere Zukunft. Und wie jener Experte für Sonnenuntergänge aus der Titelgeschichte, der sich in dieser herunterkommenen Welt auf den letzten kosmischen Vorhang vorbereitet, machen sich alle darin ihre je eigenen Gedanken über den Untergang. Wobei es sich nicht zwangsläufig um eine globale Katastrophe mit Reitern und Engelsposaunen handeln muss. Wie schon in Gospodinovs Theaterstück "Die Apokalypse kommt um 6 Uhr abends" kann das Ende der Welt auch "etwas sehr Persönliches" sein.
Sein ganz privates Erdbeben etwa hat in "Treffen mit einem Floralier" ein Vater schon hinter sich. Es ereignete sich acht Jahre zuvor, als die sechzehnjährige Tochter verschwand. Seither sucht er sie, und da in seiner Gegenwart Verkehrsmittel nicht mehr existieren, wandert er zu Fuß durch eine Welt, die aus den Fugen geraten ist. In einer anderen, preisgekrönten Erzählung Gospodinovs versucht ein sterbender Vater von seinem Sohn Abschied zu nehmen. Auch hier wird ein zeitliches Vakuum zum Dilemma, denn die väterliche Videobotschaft wird den Sohn, der auf einem fernen Planeten lebt, erst Wochen später erreichen, zu einem Zeitpunkt, da der Vater längst beerdigt ist - auf dem Mond. In "Die Gesichter der letzten Tage" wiederum sieht ein Akkordeonspieler dem Treiben um sich herum zu und begreift wie der Geschichtensammler, den er beobachtet: Im Erzählen liegt die Chance.
Das ist nicht weniger als der Nukleus der Literatur von Georgi Gospodinov. Denn so experimentierfreudig sich das Werk dieses Autors zeigt, das Lyrik, Romane, Theaterstücke, Drehbücher und Opernlibretti umfasst, so ist Gospodinov doch vor allem eines: ein grandioser Geschichtenerzähler und -sammler. Die wichtigste Regel beim Anlocken von Geschichten sei, "dass man keinesfalls wie ein Jäger wirken darf", erläutert er in einer Geschichte mit dem vielsagenden Titel "O, Henry", einer Verbeugung vor dem gleichnamigen großen amerikanischen Kurzgeschichtenautor. Darin tarnt sich der Erzähler mit der "greisenhaft gutmütigen" Imkerzeitung "Biene und Schwarm", während er im Café sitzt und wartet. Auf keinen Fall dürfe man als Schriftsteller erscheinen: "Die Geschichten wittern die Falle sofort." Hier geht es gut aus. Prompt geht ihm ein Fang ins Netz.
Seit seinem auf Anhieb international erfolgreichen Debüt "Natürlicher Roman", das aus der Perspektive eines Fliegenauges geschrieben wurde und im Jahr 2007 auf Deutsch erschien, zählt Georgi Gospodinov mit Übersetzungen in mehr als zwanzig Sprachen zu einem der meistrezipierten Vertreter der zeitgenössischen bulgarischen Literatur. Auch sein letzter Roman, "Physik der Schwermut" von 2011, ist gespickt mit Bildern, Dokumenten und erzählerischen Miniaturen, die nicht anders als die Erzählungen dazu einladen, sich in den Gängen und Fluchten der Gospodinov'schen Gedankenwelt zu bewegen.
Hier wie dort springt er zwischen den Zeiten hin und her, so dass sich neben den dystopischen Skizzen Geschichten finden, die weit zurückreichen in die kommunistische Vergangenheit Bulgariens. Alltag und Abenteuer stehen in diesen wundersamen Fabeln ganz nah beieinander. Da wartet ein Mann vor einem Hotel in Sofia auf seine erste große Liebe, mit der er einst eine Nacht im "Bulgaria" verbrachte. Damals verabredeten sie, ehe sie auseinandergingen, sich am selben Ort vierzig Jahre später wiederzutreffen. Doch dann tritt vor dem Hotel nicht etwa eine ältere Dame auf ihn zu, sondern ein fremder Mann, der dem Wartenden einen folgenreichen Brief übergibt.
Auch in der Fado-Geschichte "Auf der Suche nach Carla in Lissabon" fahndet der Erzähler nach einer Frau. Er sucht sie in der ganzen Stadt, obwohl er weiß, dass er sie niemals treffen darf, um nicht Gefahr zu laufen, die Erinnerung durch eine andere Wirklichkeit zu überschreiben. Auf der Suche ist auch ein kleiner Junge, der während der Stalin-Zeit in einem Kinderheim untergebracht ist und weiß, dass er niemals von neuen Eltern abgeholt werden wird. Doch erst als er gegen sein Schicksal aufbegehrt, in dem er sich den Vater, den er nicht hat, adoptiert, erfährt er, was Verlust bedeutet.
Manche der Erzählungen sind auf Anregungen von außen entstanden, "Tee aus Kirschen" etwa ist eine Fortschreibung von Tagebuchnotizen Tschechows. Auf eine Begegnung Gospodinovs mit einem Fotografen geht die Erzählung "Fotografie" zurück. Dieser hatte Gospodiniv eingeladen, für eine Porträtsitzung auf einen kleinen Friedhof im Südosten Bulgariens zu gehen, den der Autor das letzte Mal mit seiner Großmutter als Neunjähriger besucht hatte. Als er Jahrzehnte später wieder auf dem ausgebleichten Gras zwischen den steinernen Kreuzen steht und das Grabmal seiner Großmutter entdeckt, schiebt sich mit einem Mal die Vergangenheit einer ganzen untergegangenen Epoche vor sein inneres Auge.
Es sind Geschichten wie diese, die zurück in die bulgarische Geschichte führen und die Erfahrung von Auf- und Zusammenbrüchen, Melancholien und Absurditäten jener Jahre aufgreifen, die faszinieren. Weil die Erzählungen wie geöffnete Zeitkaspeln auf uns kommen. Sie verhandeln die Zeit - und beobachten sie beim Vergehen.
SANDRA KEGEL
Georgi Gospodinov: "8 Minuten und 19 Sekunden". Erzählungen.
Aus dem Bulgarischen von Alexander Sitzmann. Droschl Verlag, Graz 2016. 144 S., geb., 19,- [Euro].
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