London, Mitte der Siebziger. Die Popkultur wird neu erfunden, in der revolutionären Ursuppe des Punk scheint alles möglich. Aber gilt das auch für Frauen? Gibt es außer Groupie, Elfe oder Rockröhre noch andere Rollen? Besteht vielleicht zum ersten Mal die Chance, mit allen Typical-Girl-Klischees aufzuräumen, statt selber eins zu werden? Viv Albertine wurde zum Riot Girl, lange bevor es diesen Ausdruck gab. Bei den legendären Flowers of Romance kreierte sie neben Sid Vicious (später Sex Pistols) und Keith Levene (später PIL) ihren individuellen Gitarrensound. Um dann mit den Slits, der ersten autonomen Frauenpunkband, die Türen aufzustoßen, durch die später Madonna oder Lady Gaga eigene Wege gehen konnten. Wie die Punkszene entstand, wie sie aus weiblicher Sicht erlebt und feministisch neu erfunden wurde und welche Rückschläge es dabei gab - all das wurde noch nie so plastisch und zugleich so reflektiert, so abgeklärt und zugleich so amüsant geschildert wie von Viv Albertine in ihrem umwerfenden Memoir. Shoes off!
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.05.2016Nie lügen und keine Angst
Viv Albertine war mal Gitarristin der wütenden Mädchen-Punkband The Slits - jetzt hat sie der Welt ein überraschend zartes Memoir geschenkt, das "A Typical Girl" heißt
Es ist vollkommen egal, ob Sie sich für Punkmusik interessieren, es spielt keine Rolle, ob Sie jemals etwas von der englischen Siebziger-Jahre-Mädchen-Band The Slits gehört haben oder von deren Gitarristin Viv Albertine. Albertines jetzt auf Deutsch erscheinende Autobiographie "A Typical Girl" funktioniert auch so. Es ist das außergewöhnliche Buch einer Frau, die sich selbst als ziemlich gewöhnlich beschreibt und von der sich wahnsinnig viel lernen lässt, wenn man will, vor allem über: Haltung.
"Wer seine Autobiografie schreibt, ist entweder bescheuert oder pleite. Bei mir ist es ein bisschen was von beidem." Mit diesem Buch-Auftakt ist der Ton gesetzt: Die Autorin erzählt es, wie es ist. Keinen Mist. Keine Beschönigungen. Der Rhythmus: schnell und schnörkellos. Das Buch ist in kurze Kapitel unterteilt, manche nur eineinhalb Seiten lang. Sie sind im Präsens geschrieben, eine Kindheit im England der späten Fünfziger und der Sechziger fliegt so an einem vorbei. Der Vater ist schwach und verteilt Schläge. Die Mutter, sehr liebevoll geschildert, kann ihre beiden Töchter nicht beschützen. Als Viv Albertine irgendwann zum ersten Mal "You Can't Do That" von den Beatles hört, ist es um sie geschehen: "Dieser Song bohrt sich mir ins Herz, und ich glaube kaum, dass es je wieder heilen wird." Sie wagt den Traum, Popsängerin zu werden. Als sie das ihrem Vater gesteht, winkt der ab: "Du bist nicht schick genug." Und seine Tochter gibt ihm innerlich recht und verachtet sich selbst für ihre hochtrabende Idee.
Vor ein paar Jahren brachte die Rockmusikerin Patti Smith ihr Memoir "Just Kids" heraus, das weltweit so erfolgreich war, dass sie damit insgesamt mehr Geld verdient hat als in ihrer Karriere als Musikerin. Es handelte von ihren Jahren als junge Frau in New York, als sie mit Robert Mapplethorpe befreundet war, und war so elegisch und melancholisch geschrieben, dass man wirklich Mühe hatte, es mit Fotos, die Patti Smith in jener Zeit zeigen, zusammenzubringen. Wer war denn jetzt die wahre Patti Smith? Die, die sich andauernd nackt fotografieren ließ, oder die, die ganz scheu und wund eigentlich immer nur danebenstand und voll Wehmut an Baudelaire dachte?
Viv Albertines Erzählstimme klingt viel stimmiger (auch auf Deutsch, in der wunderbaren Übersetzung von Conny Lösch): Ihr nimmt man die Person ab, als die sie sich beschreibt. Da klafft nichts merkwürdig auseinander à la "Finden Sie die Fehler im Bild", sondern das Leben wird als Entwicklung beschrieben. Man kann lesend miterleben, wie aus einem unsicheren Mädchen, das für John Lennon schwärmt (vor allem, als der sich in Yoko Ono verliebt!), eine junge Frau wird, die zwar immer noch leicht zu verunsichern ist, aber die erstaunliche Eigenschaft an den Tag legt, immer genau dorthin zu gehen, wo die Angst ist. Negativ auffallen möchte sie eigentlich nicht. Es zieht sie ausgerechnet zur Punkszene, in der es um nichts anderes geht. Einmal drin, ist es nur noch ein kurzer Weg bis in eine Band. Im Prinzip braucht es dazu ja nur ein Instrument. Doch Albertine übt stundenlang, will wirklich Gitarre spielen können und findet heraus, dass sie sich musikalisch anders ausdrücken kann als sonst - freier, angstloser, aggressiver. Ihre erste Band löst sich schnell wieder auf. Was nun? Soll sie es, obwohl nicht schick genug, wirklich als Musikerin riskieren?
"A Typical Girl" ist ein radikal weibliches, entwaffnend ehrliches, unendlich sympathisches Buch. Albertine, heute 61 Jahre alt, erzählt von ihrem Leben, das, weil sie eine Frau ist, ein Frauenleben ist. Dieser Ausdruck klingt despektierlich - das aber beschreibt bereits ein Problem. Es ist ein Buch, das nichts ausklammert, das sonst gerne verschwiegen wird, weil es nur ("nur") Frauen passiert. Das Buch lebt im Gegenteil von den Dingen, die ein Mann niemals erzählen könnte, weil er sie niemals erlebt - und über die auch Frauen sonst gerne schweigen, weil sie mit Scham verbunden sind, Dinge wie Menstruation, Abtreibung, Eifersucht auf Freundinnen, Unsicherheit mit dem eigenen Körper, sich selbst dafür auszulachen, dass man die verwegene Idee hat, Künstlerin sein zu wollen, sich selbst herunterzumachen, solche Sachen.
Um Punk geht es auch. Albertine beschreibt es überraschend als langsame Lebenshaltung, wo eigentlich alle ständig auf irgendeinen Bus warteten, um dann, um etwa eine neue Bandprobe auszumachen, mehrere Stunden zu irgendjemandem am anderen Ende Londons unterwegs zu sein, der kein Telefon hatte und nicht zu Hause war. Es passierte offenbar nicht viel, jedenfalls nichts Schnelles. Noch nicht mal Sex spielte eine große Rolle, da es als uncool galt, jedenfalls beschreibt Albertine es so - Gefühle igitt, man machte es eher als Pflicht und mit Licht aus. Vorbild seien dafür die Modemacherin Vivienne Westwood und ihr Freund Malcolm McLaren gewesen, die sich nie angefasst hätten, nie zärtlich miteinander gewesen seien, jedenfalls niemals vor anderen. Die beiden besaßen einen stilprägenden Modeladen namens Sex, in dem es nach Latex roch und nur wenige, ausgesuchte Kleidungsstücke hingen, die alle sehr teuer waren, aber offenbar von guter Qualität: ein Paar knöchelhohe rote Stiefeletten, dort Mitte der siebziger Jahre gekauft, trägt Viv Albertine heute noch oft.
Wer sich für Punk interessiert, kann in "A Typical Girl" bestimmt viele Sachen erfahren, die er noch nicht wusste; oft geht es um Mick Jones von The Clash, mit dem Albertine eine On-and-off-Beziehung verband, oder um Sid Vicious, den Albertine kannte, bevor er mit den Sex Pistols berühmt wurde und dem Heroin verfiel. Sie schildert ihn als scheuen und etwas nervigen Zeitgenossen (wann immer er sie besucht, rennt er ganz schnell ins Bad und guckt, ob er irgendwo ein Schamhaar entdeckt, um sie zu ärgern). Albertine versucht nur ein einziges Mal Heroin, sie beschreibt es nicht ohne Poesie: "Eine Tür knallt. Jemand schreit. Ich trete von der Bordsteinkante und falle in Zeitlupe in den Rinnstein (. . .). Ein Blatt fällt. Gebäude neigen sich vornüber. Alles geschieht gleichzeitig . . ."
Es ist müßig, hier nachzuerzählen, wie Viv Albertine Mitglied bei der Mädchenband The Slits wurde, deren Motto - keine Klischees oder Lügen - auch gut als Untertitel für Albertines Buch passen würde. Irgendwann löst sich auch diese Band auf, aber hier endet die Geschichte nicht, sondern es kommt Teil zwei, das Leben nach dem Punk, in dem Viv Albertine alle möglichen bürgerlichen Sachen macht wie Aerobic-Kurse leiten oder als Regisseurin Musikvideos drehen. Man hat sie inzwischen schon so lieb gewonnen, dass man ihr nichts mehr wünscht, als dass sie nach jahrelangem Singledasein irgendwann einen Mann trifft, den sie gut findet. Sie sehnt sich danach, hat selbst die Hoffnung aber längst aufgegeben. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir noch mal einer gefällt. Schwierig, jemanden zu mögen, wenn man sich selbst nicht leiden kann."
Irgendwann passiert es doch, und es ist wirklich erstaunlich, wie sehr man sich, ohne Viv Albertine persönlich zu kennen, mit ihr freut. Er ist nett, sieht gut aus, liebt sie zurück, alles scheint gut, sie wird schwanger. Sie verliert das Baby. Sie heiraten. Sie wünscht sich ein Baby. Ihr Kinderwunsch erfüllt und erfüllt sich nicht, wird immer größer, bis er alles andere auffrisst und die Traurigkeit so überwältigend ist, dass Albertine im Grunde nicht mehr leben will. Insgesamt 11 Mal versuchen sie, mit Hilfe künstlicher Befruchtung schwanger zu werden, 13 Mal wird sie unter Vollnarkose operiert, hat zwei Fehlgeburten, wegen Überstimulation durch die Medikamente muss die Gallenblase entfernt werden. "Scheitern ist inzwischen mein zweiter Vorname geworden. Klingt das selbstmitleidig? Verdammt, ja. Wieso gebe ich es nicht auf? Weil ich mir mehr als alles andere auf der Welt ein Baby wünsche. 36 Jahre lang wollte ich keines haben, aber jetzt habe ich einen Mann, den ich liebe, und ich will ein Baby. So einfach ist das."
Dann passiert ein Wunder: Beim allerletzten Versuch wird sie schwanger. Sie bringt eine Tochter zur Welt.
Nächstes Kapitel: Gebärmutterhalskrebs.
Depression.
Umzug aufs Land.
Die Ehe geht den Bach runter - sie ist nur noch Hausfrau und Mutter, die einzige Plattform, sich kreativ auszudrücken, ist ein Töpferkurs. Beim Lesen dieser Kapitel hat man das Gefühl, einer einst wild lebenden Pflanze beim Vertrocknen auf einem Fensterbrett zuzusehen. So, und jetzt kommt es zu einem erstaunlichen Auftritt: Vincent Gallo, dieser sehr kompliziert aussehende amerikanische Schauspieler (was macht er eigentlich?), rettet sie vor der totalen Auflösung: Er kontaktiert sie als Fan der Musikerin Viv Albertine, früher mal Gitarristin bei den Slits; sie telefonieren dann öfter, abgekürzt: Er sieht sie. Sie fühlt sich wieder lebendig, als Frau, als Künstlerin.
Sie kauft sich eine Gitarre (die alte war längst ausgemistet) und schreibt neue Songs, die von ihrem Leben als Hausfrau und Mutter in der englischen Provinz handeln. Trotz Riesenängsten zwingt sie sich, auf kleinen Bühnen aufzutreten, solo, bei Open-Mike-Abenden, vor Fernfahrer-Publikum. Eine Frau mittleren Alters, die vor schweren Jungs punkig Gitarre spielt, das muss man sich mal vorstellen. Wie viel Mut es wohl kostet, das zu tun.
"Eines Abends stehe ich vor einer Gruppe brüllender Rocker und schreie: ,Hat sich hier schon mal jemand einen Schuss gesetzt? Oder eine Platte aufgenommen?' Erstauntes Schweigen. ,Ich aber, also haltet verdammt noch mal die Klappe oder geht nach Hause (. . .).' Allmählich genieße ich die Spannung zwischen dem, was ein Publikum von einer adrett aussehenden Frau erwartet, und dem, was es bekommt - wütende Worte und eine ausgefallene, schräge Gitarre."
Sie ist wieder da.
"A Typical Girl" beschreibt den Siegeszug einer Frau, der Selbsthass nicht fremd ist, wie so vielen Frauen, die streng und hart zu sich selbst ist, wie so viele Frauen, deren schärfste Kritikerin sie selbst ist, weshalb sie ihr nie entkommen kann: die sich aber davon nicht unterkriegen lässt, sondern, sooft es halt sein muss, all ihren Mut zusammennimmt - und springt.
Es gibt doch dieses bekannte Beckett-Zitat: "Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better." - "Jemals versucht? Jemals gescheitert? Macht nichts. Versuch's noch mal. Scheitere wieder. Scheitere besser."
Genau davon erzählt auf wunderschöne Weise Viv Albertines berührendes Buch.
JOHANNA ADORJÁN
Viv Albertine: "A Typical Girl". Aus dem Englischen von Conny Lösch. Suhrkamp Nova, 478 Seiten, 18 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Viv Albertine war mal Gitarristin der wütenden Mädchen-Punkband The Slits - jetzt hat sie der Welt ein überraschend zartes Memoir geschenkt, das "A Typical Girl" heißt
Es ist vollkommen egal, ob Sie sich für Punkmusik interessieren, es spielt keine Rolle, ob Sie jemals etwas von der englischen Siebziger-Jahre-Mädchen-Band The Slits gehört haben oder von deren Gitarristin Viv Albertine. Albertines jetzt auf Deutsch erscheinende Autobiographie "A Typical Girl" funktioniert auch so. Es ist das außergewöhnliche Buch einer Frau, die sich selbst als ziemlich gewöhnlich beschreibt und von der sich wahnsinnig viel lernen lässt, wenn man will, vor allem über: Haltung.
"Wer seine Autobiografie schreibt, ist entweder bescheuert oder pleite. Bei mir ist es ein bisschen was von beidem." Mit diesem Buch-Auftakt ist der Ton gesetzt: Die Autorin erzählt es, wie es ist. Keinen Mist. Keine Beschönigungen. Der Rhythmus: schnell und schnörkellos. Das Buch ist in kurze Kapitel unterteilt, manche nur eineinhalb Seiten lang. Sie sind im Präsens geschrieben, eine Kindheit im England der späten Fünfziger und der Sechziger fliegt so an einem vorbei. Der Vater ist schwach und verteilt Schläge. Die Mutter, sehr liebevoll geschildert, kann ihre beiden Töchter nicht beschützen. Als Viv Albertine irgendwann zum ersten Mal "You Can't Do That" von den Beatles hört, ist es um sie geschehen: "Dieser Song bohrt sich mir ins Herz, und ich glaube kaum, dass es je wieder heilen wird." Sie wagt den Traum, Popsängerin zu werden. Als sie das ihrem Vater gesteht, winkt der ab: "Du bist nicht schick genug." Und seine Tochter gibt ihm innerlich recht und verachtet sich selbst für ihre hochtrabende Idee.
Vor ein paar Jahren brachte die Rockmusikerin Patti Smith ihr Memoir "Just Kids" heraus, das weltweit so erfolgreich war, dass sie damit insgesamt mehr Geld verdient hat als in ihrer Karriere als Musikerin. Es handelte von ihren Jahren als junge Frau in New York, als sie mit Robert Mapplethorpe befreundet war, und war so elegisch und melancholisch geschrieben, dass man wirklich Mühe hatte, es mit Fotos, die Patti Smith in jener Zeit zeigen, zusammenzubringen. Wer war denn jetzt die wahre Patti Smith? Die, die sich andauernd nackt fotografieren ließ, oder die, die ganz scheu und wund eigentlich immer nur danebenstand und voll Wehmut an Baudelaire dachte?
Viv Albertines Erzählstimme klingt viel stimmiger (auch auf Deutsch, in der wunderbaren Übersetzung von Conny Lösch): Ihr nimmt man die Person ab, als die sie sich beschreibt. Da klafft nichts merkwürdig auseinander à la "Finden Sie die Fehler im Bild", sondern das Leben wird als Entwicklung beschrieben. Man kann lesend miterleben, wie aus einem unsicheren Mädchen, das für John Lennon schwärmt (vor allem, als der sich in Yoko Ono verliebt!), eine junge Frau wird, die zwar immer noch leicht zu verunsichern ist, aber die erstaunliche Eigenschaft an den Tag legt, immer genau dorthin zu gehen, wo die Angst ist. Negativ auffallen möchte sie eigentlich nicht. Es zieht sie ausgerechnet zur Punkszene, in der es um nichts anderes geht. Einmal drin, ist es nur noch ein kurzer Weg bis in eine Band. Im Prinzip braucht es dazu ja nur ein Instrument. Doch Albertine übt stundenlang, will wirklich Gitarre spielen können und findet heraus, dass sie sich musikalisch anders ausdrücken kann als sonst - freier, angstloser, aggressiver. Ihre erste Band löst sich schnell wieder auf. Was nun? Soll sie es, obwohl nicht schick genug, wirklich als Musikerin riskieren?
"A Typical Girl" ist ein radikal weibliches, entwaffnend ehrliches, unendlich sympathisches Buch. Albertine, heute 61 Jahre alt, erzählt von ihrem Leben, das, weil sie eine Frau ist, ein Frauenleben ist. Dieser Ausdruck klingt despektierlich - das aber beschreibt bereits ein Problem. Es ist ein Buch, das nichts ausklammert, das sonst gerne verschwiegen wird, weil es nur ("nur") Frauen passiert. Das Buch lebt im Gegenteil von den Dingen, die ein Mann niemals erzählen könnte, weil er sie niemals erlebt - und über die auch Frauen sonst gerne schweigen, weil sie mit Scham verbunden sind, Dinge wie Menstruation, Abtreibung, Eifersucht auf Freundinnen, Unsicherheit mit dem eigenen Körper, sich selbst dafür auszulachen, dass man die verwegene Idee hat, Künstlerin sein zu wollen, sich selbst herunterzumachen, solche Sachen.
Um Punk geht es auch. Albertine beschreibt es überraschend als langsame Lebenshaltung, wo eigentlich alle ständig auf irgendeinen Bus warteten, um dann, um etwa eine neue Bandprobe auszumachen, mehrere Stunden zu irgendjemandem am anderen Ende Londons unterwegs zu sein, der kein Telefon hatte und nicht zu Hause war. Es passierte offenbar nicht viel, jedenfalls nichts Schnelles. Noch nicht mal Sex spielte eine große Rolle, da es als uncool galt, jedenfalls beschreibt Albertine es so - Gefühle igitt, man machte es eher als Pflicht und mit Licht aus. Vorbild seien dafür die Modemacherin Vivienne Westwood und ihr Freund Malcolm McLaren gewesen, die sich nie angefasst hätten, nie zärtlich miteinander gewesen seien, jedenfalls niemals vor anderen. Die beiden besaßen einen stilprägenden Modeladen namens Sex, in dem es nach Latex roch und nur wenige, ausgesuchte Kleidungsstücke hingen, die alle sehr teuer waren, aber offenbar von guter Qualität: ein Paar knöchelhohe rote Stiefeletten, dort Mitte der siebziger Jahre gekauft, trägt Viv Albertine heute noch oft.
Wer sich für Punk interessiert, kann in "A Typical Girl" bestimmt viele Sachen erfahren, die er noch nicht wusste; oft geht es um Mick Jones von The Clash, mit dem Albertine eine On-and-off-Beziehung verband, oder um Sid Vicious, den Albertine kannte, bevor er mit den Sex Pistols berühmt wurde und dem Heroin verfiel. Sie schildert ihn als scheuen und etwas nervigen Zeitgenossen (wann immer er sie besucht, rennt er ganz schnell ins Bad und guckt, ob er irgendwo ein Schamhaar entdeckt, um sie zu ärgern). Albertine versucht nur ein einziges Mal Heroin, sie beschreibt es nicht ohne Poesie: "Eine Tür knallt. Jemand schreit. Ich trete von der Bordsteinkante und falle in Zeitlupe in den Rinnstein (. . .). Ein Blatt fällt. Gebäude neigen sich vornüber. Alles geschieht gleichzeitig . . ."
Es ist müßig, hier nachzuerzählen, wie Viv Albertine Mitglied bei der Mädchenband The Slits wurde, deren Motto - keine Klischees oder Lügen - auch gut als Untertitel für Albertines Buch passen würde. Irgendwann löst sich auch diese Band auf, aber hier endet die Geschichte nicht, sondern es kommt Teil zwei, das Leben nach dem Punk, in dem Viv Albertine alle möglichen bürgerlichen Sachen macht wie Aerobic-Kurse leiten oder als Regisseurin Musikvideos drehen. Man hat sie inzwischen schon so lieb gewonnen, dass man ihr nichts mehr wünscht, als dass sie nach jahrelangem Singledasein irgendwann einen Mann trifft, den sie gut findet. Sie sehnt sich danach, hat selbst die Hoffnung aber längst aufgegeben. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass mir noch mal einer gefällt. Schwierig, jemanden zu mögen, wenn man sich selbst nicht leiden kann."
Irgendwann passiert es doch, und es ist wirklich erstaunlich, wie sehr man sich, ohne Viv Albertine persönlich zu kennen, mit ihr freut. Er ist nett, sieht gut aus, liebt sie zurück, alles scheint gut, sie wird schwanger. Sie verliert das Baby. Sie heiraten. Sie wünscht sich ein Baby. Ihr Kinderwunsch erfüllt und erfüllt sich nicht, wird immer größer, bis er alles andere auffrisst und die Traurigkeit so überwältigend ist, dass Albertine im Grunde nicht mehr leben will. Insgesamt 11 Mal versuchen sie, mit Hilfe künstlicher Befruchtung schwanger zu werden, 13 Mal wird sie unter Vollnarkose operiert, hat zwei Fehlgeburten, wegen Überstimulation durch die Medikamente muss die Gallenblase entfernt werden. "Scheitern ist inzwischen mein zweiter Vorname geworden. Klingt das selbstmitleidig? Verdammt, ja. Wieso gebe ich es nicht auf? Weil ich mir mehr als alles andere auf der Welt ein Baby wünsche. 36 Jahre lang wollte ich keines haben, aber jetzt habe ich einen Mann, den ich liebe, und ich will ein Baby. So einfach ist das."
Dann passiert ein Wunder: Beim allerletzten Versuch wird sie schwanger. Sie bringt eine Tochter zur Welt.
Nächstes Kapitel: Gebärmutterhalskrebs.
Depression.
Umzug aufs Land.
Die Ehe geht den Bach runter - sie ist nur noch Hausfrau und Mutter, die einzige Plattform, sich kreativ auszudrücken, ist ein Töpferkurs. Beim Lesen dieser Kapitel hat man das Gefühl, einer einst wild lebenden Pflanze beim Vertrocknen auf einem Fensterbrett zuzusehen. So, und jetzt kommt es zu einem erstaunlichen Auftritt: Vincent Gallo, dieser sehr kompliziert aussehende amerikanische Schauspieler (was macht er eigentlich?), rettet sie vor der totalen Auflösung: Er kontaktiert sie als Fan der Musikerin Viv Albertine, früher mal Gitarristin bei den Slits; sie telefonieren dann öfter, abgekürzt: Er sieht sie. Sie fühlt sich wieder lebendig, als Frau, als Künstlerin.
Sie kauft sich eine Gitarre (die alte war längst ausgemistet) und schreibt neue Songs, die von ihrem Leben als Hausfrau und Mutter in der englischen Provinz handeln. Trotz Riesenängsten zwingt sie sich, auf kleinen Bühnen aufzutreten, solo, bei Open-Mike-Abenden, vor Fernfahrer-Publikum. Eine Frau mittleren Alters, die vor schweren Jungs punkig Gitarre spielt, das muss man sich mal vorstellen. Wie viel Mut es wohl kostet, das zu tun.
"Eines Abends stehe ich vor einer Gruppe brüllender Rocker und schreie: ,Hat sich hier schon mal jemand einen Schuss gesetzt? Oder eine Platte aufgenommen?' Erstauntes Schweigen. ,Ich aber, also haltet verdammt noch mal die Klappe oder geht nach Hause (. . .).' Allmählich genieße ich die Spannung zwischen dem, was ein Publikum von einer adrett aussehenden Frau erwartet, und dem, was es bekommt - wütende Worte und eine ausgefallene, schräge Gitarre."
Sie ist wieder da.
"A Typical Girl" beschreibt den Siegeszug einer Frau, der Selbsthass nicht fremd ist, wie so vielen Frauen, die streng und hart zu sich selbst ist, wie so viele Frauen, deren schärfste Kritikerin sie selbst ist, weshalb sie ihr nie entkommen kann: die sich aber davon nicht unterkriegen lässt, sondern, sooft es halt sein muss, all ihren Mut zusammennimmt - und springt.
Es gibt doch dieses bekannte Beckett-Zitat: "Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better." - "Jemals versucht? Jemals gescheitert? Macht nichts. Versuch's noch mal. Scheitere wieder. Scheitere besser."
Genau davon erzählt auf wunderschöne Weise Viv Albertines berührendes Buch.
JOHANNA ADORJÁN
Viv Albertine: "A Typical Girl". Aus dem Englischen von Conny Lösch. Suhrkamp Nova, 478 Seiten, 18 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Meredith Haaf ist begeistert von Viv Albertines Biografie. Das Buch ist ganz anders als andere Musikerinnenbiografien, versichert Haaf. Jede Frau sollte es lesen, meint sie. Warum? Weil Albertine, die sich irgendwo "zwischen Pippi Langstrumpf und Jugendknast" einordnet, nicht nur (aber auch, und wie) Berühmtheiten trifft und Anekdoten erzählt, sondern auch schön assoziativ und sehr persönlich von ihrem Leben als Punk-Gitarristin berichtet und kluge Gedanken zur Erweckung durch Musik, zum Stardasein als Frau und zur sexuellen Befreiung einflicht. Geschrieben ist das alles laut Haaf mit charmanter Beiläufigkeit und durchaus hämisch. Und wenn der Punk schließlich vorbei und Albertine Hausfrau ist, scheint die Erkenntnis, dass nichts so wichtig im Leben ist wie Bindung und Befreiung der Rezensentin so wahr wie nie.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 10.06.2016Die wilde Tante
In ihrer Autobiografie erzählt die Punk-Gitarristin Viv Albertine
von ihren drei großen Lieben: Musik, Menschen, Stil.
Ihr wunderbares Buch ist die Geschichte einer Befreiung
VON MEREDITH HAAF
Oh, eine Pop-Autobiografie. Zu erwarten ist unter diesem Label eine eher mittelmäßig geghostwritete Anekdotenschleuder, aber Viv Albertine ist offensichtlich die Definition eines Multitalents. „A Typical Girl“ (großartig ins Deutsche übertragen von Conny Lösch) ist schon formal ein ungewöhnliches Buch, es erzählt in knapp siebzig Minikapiteln, generell chronologisch, aber doch ziemlich assoziativ und streng persönlich, ihr Leben in einer poetisch-derben Sprache. Und auch, wenn Albertine, was die Begegnungen mit prominenten Zeitgenossen angeht, eine Art Forrest Gump der britischen Musikgeschichte zu sein scheint – einmal steigt Bowie bei einem Konzert auf sie drauf, es gibt einen gescheiterten Blowjob an Johnnie Rotten, Vivian Westwood berät sie beim Stiefelkauf, sie verbringt eine Nacht mit Nancy (der Freundin von Sid Vicious), die schrecklich schnarcht – so funkelt ihr Buch weniger wegen der Namen, sondern wegen der Gedanken, die sie sich zwischen den Geschichten macht.
Viv Albertine kommt 1954 in Australien zur Welt. Vier Jahre später übersiedelt die Familie nach London, Albertines Kindheit ist geprägt von Armut, den Gewaltausbrüchen der Erwachsenen und einem offensichtlich von Anfang an vorhandenen Freiheitsdrang. Als ihr Vater erst die Kinder mit einem Gürtel verprügelt und danach die Familie zu einem gemeinsamen Abendessen in der Küche nötigt, lernt sie die Macht der Musik kennen: „Das Radio läuft, die Titelmelodie von Sing Something Simple von den Swingle Sisters sickert durch den Raum, die Gesangharmonien – widerlich schmalzig – durchdrängen die Atmosphäre und verdrängen die Stille. Bis heute kann ich diese Fünfziger-Jahre-Harmonien nicht ausstehen – das ist wie mit alkoholischen Getränken, von denen man als Teenager zu viel getrunken hat; allein vom Geruch wird einem ein Leben lang schlecht.“
John Lennon rettet die Musik für die kleine Viv, das erste Mal „Can’t Buy Me Love“ zu hören beschreibt sie als Erweckungserlebnis: „Bis heute dachte ich, das Leben besteht aus traurigen, wütenden Erwachsenen, langweiliger Musik, zähem Fleisch, verkochtem Gemüse, Kirche und Schule. Jetzt ist alles anders: Ich habe den Sinn des Lebens entdeckt, verborgen zwischen den Rillen einer flachen schwarzen Plastikscheibe.“
Vivs Vater verlässt die Familie, das Leben wird leichter und glücklicher. Ihre Mutter unterstützt sie in ihren Interessen, gesteht ihr sämtliche Freiheiten zu, arbeitet Tag und Nacht, um sie zur Kunstschule schicken zu können. Und so ist Viv Albertines Geschichte von Anfang an und ganz selbstverständlich auch eine Geschichte der großen Solidarität und Liebe, die es zwischen Frauen geben kann, und der vielfältigen Wege, auf denen Frauen sich gegenseitig stark machen und inspirieren.
Zufällig trifft Viv früh am Morgen vor dem Plattenladen Mick Jones, den sie aus der Kunstschule kennt und der später The Clash mit Joe Strummer und Paul Simonon gründen wird. Doch es ist der Tag, an dem das Album „Horses“ von Patti Smith erscheint, und Viv hat keine Zeit für den seltsam gekleideten schlaksigen Vogel: „Mir ist schlecht vor Aufregung (. . .) Ich renne nach Hause und lege die Platte auf. Patti Smith wirbelt durch Bewusstseinsströme, stürzt kopfüber in Poesie und löst sich auf in Sex. (. . .) „Horses“ setzt bei mir eine Idee frei: Mädchen besitzen eine eigene Sexualität, die eigenen Bedingungen gehorcht und dem eigenen Vergnügen oder der kreativen Arbeit dient, keinem anderen Zweck, auch nicht dem, einen Mann abzubekommen.“
Immer wieder gibt es solche Passagen, in denen jene monumentalen Gefühle zum Leben erwachen, die nicht nur Musik, sondern Popkultur überhaupt bei jungen Menschen auslöst. Das sinnliche Erlebnis erhält immer wieder einen politischen Resonanzraum. Für Viv gehört Kleidung unbedingt dazu: „Ich versuche auf allen möglichen Gebieten zu schockieren, besonders mit meinen Zeichnungen und Klamotten (. . .) Eine Mischung aus Pippi Langstrumpf, Barbarella und Jugendknast. Männer sehen mich verwirrt an, wissen nicht, ob sie mich ficken oder umbringen wollen. Meine Aufmachung bringt etwas in ihren Köpfen durcheinander. Gut so.“
Erst mit 21 ringt sich die musikversessene junge Frau dazu durch, eine Gitarre zu kaufen. Obwohl sie nur zwei Griffe kann, steigt sie erst bei Sid Vicious und schließlich bei der neuen Frauen-Punk-Band The Slits ein: „Wir betrachten uns nicht als Entertainerinnen, die wollen, dass das Publikum vierzig Minuten lang seine Sorgen vergisst, sondern als Kriegerinnen. Die meisten im Publikum haben noch nie Mädchen Musik machen hören, schon gar nicht mit so einer Fickt-Euch-Attitüde, wie wir sie an den Tag legen.“ Und viele fühlen sich genau davon provoziert: Die Musikerinnen auf der Bühne werden bespuckt, sie müssen sich mit Zuschauern prügeln und vor Vergewaltigern fliehen, auf offener Straße werden sie wegen ihrer provokanten Kleidung immer wieder belästigt und angegriffen. Zweimal stechen unbekannte Männer auf die exzentrische junge Sängerin Ari Up ein. Es ist eine düstere Erkenntnis dieses Buchs, welch hohen Preis die teilweise sehr jungen Frauen dafür zahlten, eine Ära mitprägen zu dürfen.
The Slits waren von Anfang an geniale Dilettantinnen: Albertine konnte ihre Gitarre nicht mal selbst stimmen, Drummerin Palmolive hatte nie ein Instrument in der Hand gehabt, bis sie die Band gründete. Doch viele ihrer Songs waren kühn, originell und im wahrsten Sinne des Wortes funky – schmutzig, aufregend tanzbar. Die BBC-Legende John Peel bezeichnete seine Radio-Session mit The Slits als eine der zehn besten seiner Karriere: „Ihre Unfähigkeit zu spielen, gepaart mit ihrem unbedingten Willen zu spielen, war einfach grandios.“ Die Slits gehen mit The Clash und anderen Bands auf Tour, und Albertine tischt in ihrer Autobiografie aus dieser Zeit Anekdoten mit einer charmanten Beiläufigkeit und schlecht kaschierten Häme auf, als säße man gerade mit seiner wilden Tante beim vierten Chardonnay: Auf dem Weg zum Hotelfrühstück sieht sie eines morgens „Chrissie Hynde aus Paul Simonons Zimmer kommen. Paul erzählt uns später, Chrissie habe ihre Tätowierung (ein Delphin, glaube ich,) nicht mehr haben wollen und versucht, sie mit einem Bimsstein abzuschmirgeln. Danach habe sie ihm aus der Bibel vorgelesen. Muss wohl ein sehr kultivierter sexy Abend gewesen sein.“ Auf Dauer lässt sich der Lifestyle jedoch nicht aufrechterhalten: Weggefährten begehen Selbstmord, sterben an Überdosen, ziehen sich ins bürgerliche Leben zurück. Nach ihrem zweiten Album trennen sich The Slits, Vivs Welt bricht zusammen.
An dieser Stelle endet der erste Teil – die „A-Seite“ des Buches, und an diesem Punkt denkt man noch: Dieses Buch sollte wirklich jede junge Frau lesen. Man trauert als Nachgeborene, wenn ältere Freundinnen erzählen, ja klar, The Slits, die seien damals halt im Radio gelaufen, während ein Mädchen der Neunzigerjahre sich im Radio mit sogenannter Girl Power abspeisen lassen musste.
Aber dann kommt die B-Seite – und wie das ja bei guten Platten oft der Fall ist, enthält sie die Stücke, die weniger krachen, aber fast noch wichtiger sind. Albertine zieht sich komplett aus der Szene zurück und beginnt mehrere neue Leben: Sie arbeitet als Filmemacherin, heiratet und bekommt – nach einer grausam frustrierenden In-Vitro-Fertilisation endlich ihr langersehntes Kind. Kurz nach der Geburt wird bei ihr Krebs diagnostiziert, sie überlebt nur knapp. Die Familie zieht weg aus London, ans Meer. Aus dem Punkgirl ist eine Hausfrau geworden, zehn Jahre vergehen, über die sie schreibt: „Nichts interessiert mich außer meiner Tochter.“ Ihr Mann hält sie geistig und finanziell klein, beobachtet ihre ersten Versuche, wieder kreativ zu werden, mit Skepsis. Ari Up und Tessa Pollit starten ein Revival der Slits, Albertine lehnt ab – und fährt alleine zum Konzert nach New York. Der Funke springt über. Ohne Musik geht es immer noch nicht. Als sie nach achtzehn Jahren die Gitarre wieder zur Hand nimmt, interessiert sich in ihrem Zuhause nur ihre Tochter dafür. Mit Anfang fünfzig wird Albertine eine zweite Musikerinnenkarriere zuteil.
Auch wenn das Buch, wie es der charmante Originaltitel besagt, diese drei Dinge: „Clothes. Music. Boys“ gebührend feiert – die eigentliche Erkenntnis aus Viv Albertines bewegtem Leben ist: Nichts bedeutet so viel wie Bindung und die Befreiung, die ihr andere Menschen – vor allem Frauen – geschenkt haben. Und spätestens jetzt weiß man: Es geht hier nicht nur um die Girls. Man wünscht jeder Frau, ach was, jedem Menschen, so eine Viv Albertine im Leben. Da das nicht möglich ist, darf man zumindest jedem wünschen, ihr Buch zu lesen.
Viv Albertine: A Typical Girl – Ein Memoir. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Suhrkamp Nova, Berlin 2016. 478 Seiten, 18 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Den Sinn des Lebens entdeckt
die junge Viv zwischen den Rillen
einer schwarzen Plastikscheibe
Wie bei guten Platten gibt es
auch hier eine B-Seite mit Stücken,
die stiller, aber wichtiger sind
Ohne Musik geht es einfach nicht: Nach 18 Jahren Pause hat
Viv Albertine wieder die Gitarre zur Hand genommen und eine zweite Karriere als Musikerin gestartet. Foto: Kevin Cummins / Getty Images
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In ihrer Autobiografie erzählt die Punk-Gitarristin Viv Albertine
von ihren drei großen Lieben: Musik, Menschen, Stil.
Ihr wunderbares Buch ist die Geschichte einer Befreiung
VON MEREDITH HAAF
Oh, eine Pop-Autobiografie. Zu erwarten ist unter diesem Label eine eher mittelmäßig geghostwritete Anekdotenschleuder, aber Viv Albertine ist offensichtlich die Definition eines Multitalents. „A Typical Girl“ (großartig ins Deutsche übertragen von Conny Lösch) ist schon formal ein ungewöhnliches Buch, es erzählt in knapp siebzig Minikapiteln, generell chronologisch, aber doch ziemlich assoziativ und streng persönlich, ihr Leben in einer poetisch-derben Sprache. Und auch, wenn Albertine, was die Begegnungen mit prominenten Zeitgenossen angeht, eine Art Forrest Gump der britischen Musikgeschichte zu sein scheint – einmal steigt Bowie bei einem Konzert auf sie drauf, es gibt einen gescheiterten Blowjob an Johnnie Rotten, Vivian Westwood berät sie beim Stiefelkauf, sie verbringt eine Nacht mit Nancy (der Freundin von Sid Vicious), die schrecklich schnarcht – so funkelt ihr Buch weniger wegen der Namen, sondern wegen der Gedanken, die sie sich zwischen den Geschichten macht.
Viv Albertine kommt 1954 in Australien zur Welt. Vier Jahre später übersiedelt die Familie nach London, Albertines Kindheit ist geprägt von Armut, den Gewaltausbrüchen der Erwachsenen und einem offensichtlich von Anfang an vorhandenen Freiheitsdrang. Als ihr Vater erst die Kinder mit einem Gürtel verprügelt und danach die Familie zu einem gemeinsamen Abendessen in der Küche nötigt, lernt sie die Macht der Musik kennen: „Das Radio läuft, die Titelmelodie von Sing Something Simple von den Swingle Sisters sickert durch den Raum, die Gesangharmonien – widerlich schmalzig – durchdrängen die Atmosphäre und verdrängen die Stille. Bis heute kann ich diese Fünfziger-Jahre-Harmonien nicht ausstehen – das ist wie mit alkoholischen Getränken, von denen man als Teenager zu viel getrunken hat; allein vom Geruch wird einem ein Leben lang schlecht.“
John Lennon rettet die Musik für die kleine Viv, das erste Mal „Can’t Buy Me Love“ zu hören beschreibt sie als Erweckungserlebnis: „Bis heute dachte ich, das Leben besteht aus traurigen, wütenden Erwachsenen, langweiliger Musik, zähem Fleisch, verkochtem Gemüse, Kirche und Schule. Jetzt ist alles anders: Ich habe den Sinn des Lebens entdeckt, verborgen zwischen den Rillen einer flachen schwarzen Plastikscheibe.“
Vivs Vater verlässt die Familie, das Leben wird leichter und glücklicher. Ihre Mutter unterstützt sie in ihren Interessen, gesteht ihr sämtliche Freiheiten zu, arbeitet Tag und Nacht, um sie zur Kunstschule schicken zu können. Und so ist Viv Albertines Geschichte von Anfang an und ganz selbstverständlich auch eine Geschichte der großen Solidarität und Liebe, die es zwischen Frauen geben kann, und der vielfältigen Wege, auf denen Frauen sich gegenseitig stark machen und inspirieren.
Zufällig trifft Viv früh am Morgen vor dem Plattenladen Mick Jones, den sie aus der Kunstschule kennt und der später The Clash mit Joe Strummer und Paul Simonon gründen wird. Doch es ist der Tag, an dem das Album „Horses“ von Patti Smith erscheint, und Viv hat keine Zeit für den seltsam gekleideten schlaksigen Vogel: „Mir ist schlecht vor Aufregung (. . .) Ich renne nach Hause und lege die Platte auf. Patti Smith wirbelt durch Bewusstseinsströme, stürzt kopfüber in Poesie und löst sich auf in Sex. (. . .) „Horses“ setzt bei mir eine Idee frei: Mädchen besitzen eine eigene Sexualität, die eigenen Bedingungen gehorcht und dem eigenen Vergnügen oder der kreativen Arbeit dient, keinem anderen Zweck, auch nicht dem, einen Mann abzubekommen.“
Immer wieder gibt es solche Passagen, in denen jene monumentalen Gefühle zum Leben erwachen, die nicht nur Musik, sondern Popkultur überhaupt bei jungen Menschen auslöst. Das sinnliche Erlebnis erhält immer wieder einen politischen Resonanzraum. Für Viv gehört Kleidung unbedingt dazu: „Ich versuche auf allen möglichen Gebieten zu schockieren, besonders mit meinen Zeichnungen und Klamotten (. . .) Eine Mischung aus Pippi Langstrumpf, Barbarella und Jugendknast. Männer sehen mich verwirrt an, wissen nicht, ob sie mich ficken oder umbringen wollen. Meine Aufmachung bringt etwas in ihren Köpfen durcheinander. Gut so.“
Erst mit 21 ringt sich die musikversessene junge Frau dazu durch, eine Gitarre zu kaufen. Obwohl sie nur zwei Griffe kann, steigt sie erst bei Sid Vicious und schließlich bei der neuen Frauen-Punk-Band The Slits ein: „Wir betrachten uns nicht als Entertainerinnen, die wollen, dass das Publikum vierzig Minuten lang seine Sorgen vergisst, sondern als Kriegerinnen. Die meisten im Publikum haben noch nie Mädchen Musik machen hören, schon gar nicht mit so einer Fickt-Euch-Attitüde, wie wir sie an den Tag legen.“ Und viele fühlen sich genau davon provoziert: Die Musikerinnen auf der Bühne werden bespuckt, sie müssen sich mit Zuschauern prügeln und vor Vergewaltigern fliehen, auf offener Straße werden sie wegen ihrer provokanten Kleidung immer wieder belästigt und angegriffen. Zweimal stechen unbekannte Männer auf die exzentrische junge Sängerin Ari Up ein. Es ist eine düstere Erkenntnis dieses Buchs, welch hohen Preis die teilweise sehr jungen Frauen dafür zahlten, eine Ära mitprägen zu dürfen.
The Slits waren von Anfang an geniale Dilettantinnen: Albertine konnte ihre Gitarre nicht mal selbst stimmen, Drummerin Palmolive hatte nie ein Instrument in der Hand gehabt, bis sie die Band gründete. Doch viele ihrer Songs waren kühn, originell und im wahrsten Sinne des Wortes funky – schmutzig, aufregend tanzbar. Die BBC-Legende John Peel bezeichnete seine Radio-Session mit The Slits als eine der zehn besten seiner Karriere: „Ihre Unfähigkeit zu spielen, gepaart mit ihrem unbedingten Willen zu spielen, war einfach grandios.“ Die Slits gehen mit The Clash und anderen Bands auf Tour, und Albertine tischt in ihrer Autobiografie aus dieser Zeit Anekdoten mit einer charmanten Beiläufigkeit und schlecht kaschierten Häme auf, als säße man gerade mit seiner wilden Tante beim vierten Chardonnay: Auf dem Weg zum Hotelfrühstück sieht sie eines morgens „Chrissie Hynde aus Paul Simonons Zimmer kommen. Paul erzählt uns später, Chrissie habe ihre Tätowierung (ein Delphin, glaube ich,) nicht mehr haben wollen und versucht, sie mit einem Bimsstein abzuschmirgeln. Danach habe sie ihm aus der Bibel vorgelesen. Muss wohl ein sehr kultivierter sexy Abend gewesen sein.“ Auf Dauer lässt sich der Lifestyle jedoch nicht aufrechterhalten: Weggefährten begehen Selbstmord, sterben an Überdosen, ziehen sich ins bürgerliche Leben zurück. Nach ihrem zweiten Album trennen sich The Slits, Vivs Welt bricht zusammen.
An dieser Stelle endet der erste Teil – die „A-Seite“ des Buches, und an diesem Punkt denkt man noch: Dieses Buch sollte wirklich jede junge Frau lesen. Man trauert als Nachgeborene, wenn ältere Freundinnen erzählen, ja klar, The Slits, die seien damals halt im Radio gelaufen, während ein Mädchen der Neunzigerjahre sich im Radio mit sogenannter Girl Power abspeisen lassen musste.
Aber dann kommt die B-Seite – und wie das ja bei guten Platten oft der Fall ist, enthält sie die Stücke, die weniger krachen, aber fast noch wichtiger sind. Albertine zieht sich komplett aus der Szene zurück und beginnt mehrere neue Leben: Sie arbeitet als Filmemacherin, heiratet und bekommt – nach einer grausam frustrierenden In-Vitro-Fertilisation endlich ihr langersehntes Kind. Kurz nach der Geburt wird bei ihr Krebs diagnostiziert, sie überlebt nur knapp. Die Familie zieht weg aus London, ans Meer. Aus dem Punkgirl ist eine Hausfrau geworden, zehn Jahre vergehen, über die sie schreibt: „Nichts interessiert mich außer meiner Tochter.“ Ihr Mann hält sie geistig und finanziell klein, beobachtet ihre ersten Versuche, wieder kreativ zu werden, mit Skepsis. Ari Up und Tessa Pollit starten ein Revival der Slits, Albertine lehnt ab – und fährt alleine zum Konzert nach New York. Der Funke springt über. Ohne Musik geht es immer noch nicht. Als sie nach achtzehn Jahren die Gitarre wieder zur Hand nimmt, interessiert sich in ihrem Zuhause nur ihre Tochter dafür. Mit Anfang fünfzig wird Albertine eine zweite Musikerinnenkarriere zuteil.
Auch wenn das Buch, wie es der charmante Originaltitel besagt, diese drei Dinge: „Clothes. Music. Boys“ gebührend feiert – die eigentliche Erkenntnis aus Viv Albertines bewegtem Leben ist: Nichts bedeutet so viel wie Bindung und die Befreiung, die ihr andere Menschen – vor allem Frauen – geschenkt haben. Und spätestens jetzt weiß man: Es geht hier nicht nur um die Girls. Man wünscht jeder Frau, ach was, jedem Menschen, so eine Viv Albertine im Leben. Da das nicht möglich ist, darf man zumindest jedem wünschen, ihr Buch zu lesen.
Viv Albertine: A Typical Girl – Ein Memoir. Aus dem Englischen von Conny Lösch. Suhrkamp Nova, Berlin 2016. 478 Seiten, 18 Euro. E-Book 15,99 Euro.
Den Sinn des Lebens entdeckt
die junge Viv zwischen den Rillen
einer schwarzen Plastikscheibe
Wie bei guten Platten gibt es
auch hier eine B-Seite mit Stücken,
die stiller, aber wichtiger sind
Ohne Musik geht es einfach nicht: Nach 18 Jahren Pause hat
Viv Albertine wieder die Gitarre zur Hand genommen und eine zweite Karriere als Musikerin gestartet. Foto: Kevin Cummins / Getty Images
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»Man wünscht jeder Frau, ach was, jedem Menschen, so eine Viv Albertine im Leben. Da das nicht möglich ist, darf man zumindest jedem wünschen, ihr Buch zu lesen.« Meredith Haaf Süddeutsche Zeitung 20160610