Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.12.2004Mutter Hummer, Vater Picasso
Clive Barkers reichillustrierter Märchenroman "Abarat"
Die ältere und reichere Welt, deren Abfallprodukt unsere ist, liegt jenseits eines Meeres, das man nicht sehen kann und von dem sich in Menschengegenden nur noch ein paar Küstenreste finden lassen: ein halbverfallener Leuchtturm mitten im Gras, Seefahrtsinstrumente in alten Kommoden und natürlich unsere Ahnungen, die nahelegen: Es müßte mehr geben.
Oft hat man die ältere und reichere Welt zu beschreiben und zu benennen versucht. Bei Clive Barker heißt sie "Abarat", darum hat er auch das Buch so genannt, das er über sie geschrieben, gezeichnet und gemalt hat. Darin wird ein junges Mädchen namens Candy Quackenbush aus einer Stadt, die tief im vergessenen Innern der Vereinigten Staaten von Amerika liegt, nichts als industrielle Hühnerproduktion zu bieten hat und von regionalkundlicher Literatur als "nicht weiter bemerkenswert" bezeichnet wird, von einem Koboldswesen mit zahlreichen Köpfen an einem stattlichen Geweih übers Meer der Nichterinnerung, die ewige "See Izabella", nach Abarat gebracht. Das Land besteht aus fünfundzwanzig Inseln, vierundzwanzig davon sind den Stunden des Tages geweiht, die geheimnisvollste, "Odoms Spitze", wahrt eine "Zeit außerhalb der Zeit".
Candy ist froh, Hühnergestank, Schulterror und Ödnis loszuwerden. In ihrem neuem Wirkungskreis jenseits des Meeres gibt es dafür einen Teufel, dessen Kopf in einem halbvollen Säureglas steckt, einen Hamsterbaum mit "flauschigem Obst" und Geschöpfe, die aussehen, "als wäre ein Hummer ihre Mutter und Picasso ihr Vater".
Clive Barker, der sich als Theater- und Filmschöpfer um das Design der visuellen Seite seiner Visionen wo irgend möglich stets höchstpersönlich und perfektionistisch gekümmert hat, läßt es sich nicht nehmen, die meisten der Tag- und Nachtgeschöpfe Abarats nicht nur zu schildern, sondern auch zu zeigen.
Einige der Bilder, die er gemalt hat, beherrschen die Seiten ganz, auf denen sie zu sehen sind, so daß der Text gleichsam leiser wird, heruntergestimmt bis auf eine Bildunterschrift. Andere, etwa Darstellungen sich eben vorstellender oder sich erklärender Wesen, stehen mit dem Text wie im Comic auf Augenhöhe. Wieder andere sind visuelle Musik, etwa ein schönes Quadrat aus gestricheltem Wasser, das auf die Prosa daneben seinen Meerzauber abstrahlt und sie blau und windig einfärbt. Alle denkbaren Über- , Unter- und Nebeneinander-Ordnungen des hier niemals nur plan illustrativen Text-Bild-Verhältnisses werden ausprobiert; man fragt sich nicht selten, was zuerst da war.
Der unwirtschaftliche Aufwand, den Barker damit treibt - "liebevoll" trifft es nicht ganz, denn einige Bilder sind ordentlich schroff , wenn auch deshalb nicht weniger schön -, ist um so ernster zu nehmen, als er vor allem eine bewußte Differenz zum amerikanischen Comic-Stil und der konturbetonten, naturalistisch und fotorealistisch konzipierten, heute vielfach am Computer erstellten oder nachbearbeiteten Ikonographie des kulturindustriellen Gebrauchs-Surrealismus vom Fantasy-Buchumschlag bis zur Autowerbung setzt. Barker lehnt Spezialeffekte dieser Art nicht prinzipiell ab, wie die beiden Extrempunkte des Qualitätsspektrums seines filmischen Schaffens beweisen, das Meisterwerk "Hellraiser" von 1987 und der bei aller Bilderpracht letztlich flache und schale Fehlschlag "Lord of Illusions" von 2001. In "Abarat" aber wären Effekte auf der Höhe der Zeit einem der diversen Erzählvorhaben abträglich, die er gleichzeitig umsetzt, nämlich der bestens informierten Satire auf die berechnende Verzauberung der Moderne durch die Kulturindustrie. Die wird hier von der Firma "Comexo" vertreten, deren Strippenzieher Rojo Pixler deshalb einen Nachnamen trägt, der an die Pixel des Computerbildschirms wie an den Namen der Trickfilmfirma "Pixar" anklingt. Pixler ist nicht böse, nur geschäftstüchtig, und das ist kraft der Dialektik von Fortschritt und Verheerung, die sein Wirken auf den Inseln freisetzt, gefährlicher, als wenn er ein Schurke wäre. Wieder einmal zeigt sich an den Details, die Barker dazu einfallen, daß die klügste, schärfste, aber eben nicht bornierte Kritik am allgemeinen Medienquatsch oft direkt aus dessen Mitte kommt und Urheber hat, die anders als moralisierende Jugendschützer und Tugendwächter älterer Bauart genau wissen, wovon sie schimpfen.
Die "Abarat"-Übersetzung bleibt dem lyrischen Tonfall, den das Buch auch außerhalb der darin eingebetteten Gedichte hält, so gewissenhaft treu, daß sie lieber englische Redewendungen wörtlich nimmt als je einen Farbwert verloren zu geben: "You'd be surprised" wäre im Deutschen eigentlich idiomatisch richtig eher mit "Du wirst/würdest dich wundern" wiederzugeben, hier heißt es: "Du wirst überrascht sein", damit das Grundmotiv der übertölpelten Erwartung anklingen kann, das mehrere Figuren im Buch miteinander teilen. Der "Trip" übers Izabella-Meer heißt ganz richtig nicht "Reise", weil die Drogenobertöne zum Gefahrvollen dazugehören, das da beschworen wird. Andererseits hätte man die "halbe Meile", die eine besonders eindrucksvolle Brücke lang ist, ruhig ins Metrische und Deutsche übersetzen dürfen - schließlich ist das eine der Stellen, an denen Barker sich die Perspektive Candys aneignet und die neue alte Welt, die seine Heldin plötzlich betreten darf, mit der prosaischen vergleicht, die sie gewohnt ist.
Für Leute, die keine englischsprachigen Bücher lesen, ist "Abarat" in jedem Fall die bisher wohl beste Gelegenheit, einen der vielseitigsten und interessantesten Künstler der Gegenwartsphantastik kennenzulernen. Für die andern empfiehlt sich außerdem die Lektüre von Douglas E. Winters umfangreicher Barker-Biographie "The Dark Fantastic" (2001), die mindestens so viele Sorten seltsamer Gesichter zeigt wie die Produkte von Barkers inspiriertem Bilderfinderfuror, der sich hoffentlich, wie angekündigt, noch in zwei geplanten "Abarat"-Folgebänden wird entfalten können.
DIETMAR DATH
Clive Barker: "Abarat". Roman. Mit 107 farbigen Illustrationen des Autors. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Karsten Singelmann. Heyne Verlag, München 2004. 477 S., Abb., geb. im Schuber, 68,- [Euro]. Ab 12 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Clive Barkers reichillustrierter Märchenroman "Abarat"
Die ältere und reichere Welt, deren Abfallprodukt unsere ist, liegt jenseits eines Meeres, das man nicht sehen kann und von dem sich in Menschengegenden nur noch ein paar Küstenreste finden lassen: ein halbverfallener Leuchtturm mitten im Gras, Seefahrtsinstrumente in alten Kommoden und natürlich unsere Ahnungen, die nahelegen: Es müßte mehr geben.
Oft hat man die ältere und reichere Welt zu beschreiben und zu benennen versucht. Bei Clive Barker heißt sie "Abarat", darum hat er auch das Buch so genannt, das er über sie geschrieben, gezeichnet und gemalt hat. Darin wird ein junges Mädchen namens Candy Quackenbush aus einer Stadt, die tief im vergessenen Innern der Vereinigten Staaten von Amerika liegt, nichts als industrielle Hühnerproduktion zu bieten hat und von regionalkundlicher Literatur als "nicht weiter bemerkenswert" bezeichnet wird, von einem Koboldswesen mit zahlreichen Köpfen an einem stattlichen Geweih übers Meer der Nichterinnerung, die ewige "See Izabella", nach Abarat gebracht. Das Land besteht aus fünfundzwanzig Inseln, vierundzwanzig davon sind den Stunden des Tages geweiht, die geheimnisvollste, "Odoms Spitze", wahrt eine "Zeit außerhalb der Zeit".
Candy ist froh, Hühnergestank, Schulterror und Ödnis loszuwerden. In ihrem neuem Wirkungskreis jenseits des Meeres gibt es dafür einen Teufel, dessen Kopf in einem halbvollen Säureglas steckt, einen Hamsterbaum mit "flauschigem Obst" und Geschöpfe, die aussehen, "als wäre ein Hummer ihre Mutter und Picasso ihr Vater".
Clive Barker, der sich als Theater- und Filmschöpfer um das Design der visuellen Seite seiner Visionen wo irgend möglich stets höchstpersönlich und perfektionistisch gekümmert hat, läßt es sich nicht nehmen, die meisten der Tag- und Nachtgeschöpfe Abarats nicht nur zu schildern, sondern auch zu zeigen.
Einige der Bilder, die er gemalt hat, beherrschen die Seiten ganz, auf denen sie zu sehen sind, so daß der Text gleichsam leiser wird, heruntergestimmt bis auf eine Bildunterschrift. Andere, etwa Darstellungen sich eben vorstellender oder sich erklärender Wesen, stehen mit dem Text wie im Comic auf Augenhöhe. Wieder andere sind visuelle Musik, etwa ein schönes Quadrat aus gestricheltem Wasser, das auf die Prosa daneben seinen Meerzauber abstrahlt und sie blau und windig einfärbt. Alle denkbaren Über- , Unter- und Nebeneinander-Ordnungen des hier niemals nur plan illustrativen Text-Bild-Verhältnisses werden ausprobiert; man fragt sich nicht selten, was zuerst da war.
Der unwirtschaftliche Aufwand, den Barker damit treibt - "liebevoll" trifft es nicht ganz, denn einige Bilder sind ordentlich schroff , wenn auch deshalb nicht weniger schön -, ist um so ernster zu nehmen, als er vor allem eine bewußte Differenz zum amerikanischen Comic-Stil und der konturbetonten, naturalistisch und fotorealistisch konzipierten, heute vielfach am Computer erstellten oder nachbearbeiteten Ikonographie des kulturindustriellen Gebrauchs-Surrealismus vom Fantasy-Buchumschlag bis zur Autowerbung setzt. Barker lehnt Spezialeffekte dieser Art nicht prinzipiell ab, wie die beiden Extrempunkte des Qualitätsspektrums seines filmischen Schaffens beweisen, das Meisterwerk "Hellraiser" von 1987 und der bei aller Bilderpracht letztlich flache und schale Fehlschlag "Lord of Illusions" von 2001. In "Abarat" aber wären Effekte auf der Höhe der Zeit einem der diversen Erzählvorhaben abträglich, die er gleichzeitig umsetzt, nämlich der bestens informierten Satire auf die berechnende Verzauberung der Moderne durch die Kulturindustrie. Die wird hier von der Firma "Comexo" vertreten, deren Strippenzieher Rojo Pixler deshalb einen Nachnamen trägt, der an die Pixel des Computerbildschirms wie an den Namen der Trickfilmfirma "Pixar" anklingt. Pixler ist nicht böse, nur geschäftstüchtig, und das ist kraft der Dialektik von Fortschritt und Verheerung, die sein Wirken auf den Inseln freisetzt, gefährlicher, als wenn er ein Schurke wäre. Wieder einmal zeigt sich an den Details, die Barker dazu einfallen, daß die klügste, schärfste, aber eben nicht bornierte Kritik am allgemeinen Medienquatsch oft direkt aus dessen Mitte kommt und Urheber hat, die anders als moralisierende Jugendschützer und Tugendwächter älterer Bauart genau wissen, wovon sie schimpfen.
Die "Abarat"-Übersetzung bleibt dem lyrischen Tonfall, den das Buch auch außerhalb der darin eingebetteten Gedichte hält, so gewissenhaft treu, daß sie lieber englische Redewendungen wörtlich nimmt als je einen Farbwert verloren zu geben: "You'd be surprised" wäre im Deutschen eigentlich idiomatisch richtig eher mit "Du wirst/würdest dich wundern" wiederzugeben, hier heißt es: "Du wirst überrascht sein", damit das Grundmotiv der übertölpelten Erwartung anklingen kann, das mehrere Figuren im Buch miteinander teilen. Der "Trip" übers Izabella-Meer heißt ganz richtig nicht "Reise", weil die Drogenobertöne zum Gefahrvollen dazugehören, das da beschworen wird. Andererseits hätte man die "halbe Meile", die eine besonders eindrucksvolle Brücke lang ist, ruhig ins Metrische und Deutsche übersetzen dürfen - schließlich ist das eine der Stellen, an denen Barker sich die Perspektive Candys aneignet und die neue alte Welt, die seine Heldin plötzlich betreten darf, mit der prosaischen vergleicht, die sie gewohnt ist.
Für Leute, die keine englischsprachigen Bücher lesen, ist "Abarat" in jedem Fall die bisher wohl beste Gelegenheit, einen der vielseitigsten und interessantesten Künstler der Gegenwartsphantastik kennenzulernen. Für die andern empfiehlt sich außerdem die Lektüre von Douglas E. Winters umfangreicher Barker-Biographie "The Dark Fantastic" (2001), die mindestens so viele Sorten seltsamer Gesichter zeigt wie die Produkte von Barkers inspiriertem Bilderfinderfuror, der sich hoffentlich, wie angekündigt, noch in zwei geplanten "Abarat"-Folgebänden wird entfalten können.
DIETMAR DATH
Clive Barker: "Abarat". Roman. Mit 107 farbigen Illustrationen des Autors. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Karsten Singelmann. Heyne Verlag, München 2004. 477 S., Abb., geb. im Schuber, 68,- [Euro]. Ab 12 J.
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