Ihr Schreiben kommt aus dem Schweigen. Aus der Präsenz der unerzählten Geschichten, die das Kind von Überlebenden des Holocaust umgab. Zsófia Bán, die sich mit Essays über W. G. Sebald, Imre Kertész und Susan Sontag einen Namen gemacht hat, wählt die Form des Schulbuchs, um ihren enzyklopädischen Lebensstoff Fach für Fach, von Geographie und Chemie bis Französisch durchzuarbeiten. In einer subtil ironischen, von Terézia Móra hinreißend vertonten Sprache erzählt sie vom Verschwinden eines Naturforschers im Dschungel von Laos, von der Reise des jungen Flaubert mit seinem Freund Maxime nach Ägypten oder von einem mitteleuropäisches Frauenleben, das vor Gewehrläufen an der Donau endete. Sie schmuggelt aber auch eine der großartigsten lesbischen Liebeszenen in ihre »Abendschule« hinein, die je geschrieben wurden. Alle Texte eint die Lust, Tabuisiertes, auch Abwegiges zu erkunden, um fürs Leben zu lernen - ein eminent kluges, erzählsüchtiges Buch.
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.03.2012Die
geheimen
Schauer
des Glücks
Eine Souveränitätserklärung der Literatur:
Die „Abendschule“ der Zsófia Bán ist
eine unverschämte „Fibel für Erwachsene“
Von Lothar Müller
Von großem Reiz sind die Spielkarten mit Tierköpfen, Rümpfen und unteren Extremitäten, die man sich vom Zufall in die Hand geben lässt und zu Mischwesen zusammensetzt, bei denen ein Elefantenbauch in ein Flamingobein übergeht, ein Mäuseschnurrbart eine Tigerpranke dementiert oder Schuppen und Gefieder eines Tier, das es nicht gibt, um die Wette glänzen. Es werden dabei die Gattungsgrenzen durchlässig, und weit entfernte Weltgegenden rücken blitzartig zusammen. Vielleicht liegt es an der Biographie der ungarischen Autorin Zsófia Bán, dass in ihrem literarischen Debüt „Abendschule. Fibel für Erwachsene“, das nun auch auf Deutsch erschienen ist, die Kontinente nicht ganz fest verankert sind, die Schüler hin und wieder unter der Bank Zoo spielen und ihr selbst, wenn sie in das Meer ihrer Kindheit hinabtaucht, Kiemen wachsen. Bán ist 1957 in Rio de Janeiro geboren, in Brasilien und in Ungarn aufgewachsen, lehrt Amerikanistik in Budapest und schreibt Essays über die Fotografien im Werk des deutschen Autors W. G. Sebald, über Mode und Populärkultur in Amerika, über ungarische Ursprungsmythen, die sie nicht der politischen Rechten überlassen mag, etwa den Raubvogel Turul.
Auf Abendschulen gehen Leute, die Umwege gemacht haben und keine Kinder mehr sind. So ist das auch in dieser Fibel für Erwachsene, in der, wenn in Französisch die Reise von Gustave Flaubert und Maxime du Camp nach Ägypten durchgenommen wird, die Bordellbesuche nicht ausgespart sind. Man zögert aber, die Erzählerin den Erwachsenen zuzurechnen oder sie gar als Lehrerin aufzufassen. Sie geht selber in die Schule, deren Fächerkanon sie lässig aufblättert.
Am Schnittpunkt der Fächer „Gesundheitsunterricht“ und „Heimatkunde“ verwandelt das Kapitel „Die zwei Fridas“ das Bild der Malerin Frida Kahlo, dessen Titel es trägt, in ein Stück surreale Prosa. Debütantinnen müssen nicht jung sein. Zsófia Bán ist alt genug, um noch Schuldirektoren aus der Kádár-Ära erlebt zu haben und diesen Erfahrungsstoff in den beiden Fridas, die ihre Herzen miteinander vernähen, zum lebenden Bild werden zu lassen.
Zu den Erinnerungen an Südamerika, die diese Abendschule durchziehen, gehört neben dem Duft des Weihrauchs in barocken Kirchen und dem „Dschungelgeruch des Sechsbindengürteltiers“ der „Geruch der zwischen geriffelte Paperback-Seiten gepressten sonderbaren Satzkonstruktionen sonderbarer Literatur“. Es gibt zur südamerikanischen literarischen Genealogie dieser Schule, in der nicht immer durchgenommen wird, was auf dem Stundenplan steht, ein ungarisches Gegenstück: den Roman „Die Schule an der Grenze“ von Géza Ottlik (1912-1990).
In diesem großen, 1959 erschienenen Roman durchdringen die Erinnerungen von Absolventen des Jahrgangs 1923 einer Militär-Unterrealschule und die Atmosphäre nach 1956 einander, ohne dass von der gescheiterten Revolution je erzählt würde. Hier findet man ein Loblied auf „die geheimen kleinen Schauer des Glücks“, auf ein Ungebundensein, das aus nichts anderem besteht als der „Möglichkeit, durch freies Wahrnehmen die Welt in Besitz zu nehmen“. Die „Schule an der Grenze“ wurde zu einer freien Schule der neueren ungarischen Literatur, für Péter Esterházy, der diesen Roman Anfang der 1980er Jahre auf einem Zeichenblatt mit Filzstift abschrieb, bis er zum schwarzen Bild geworden war, wie für Péter Nádas, der zu Beginn seiner Laufbahn für die Schublade schrieb.
In der unscheinbaren Formel „freies Wahrnehmen“ steckte die Souveränitätserklärung einer literarischen Sprache, mit der kein Staat zu machen war. Nicht nur in dem Kapitel, in dem Zsófia Bán ihre Ahnengalerie ungarischer Autoren und Motive aus ihren Werken aufruft und mit eigenen Erfahrungen verknüpft, gibt sie sich als Schülerin von Géza Ottlik zu erkennen. Für ihre gesamte Abendschule gilt die Einsicht, aus der die „Schule an der Grenze“ hervorgegangen ist: dass der tiefe Ernst und der frivole Unernst in der Literatur nicht Gegensätze sind, sondern unzertrennliche Geschwister. „Die wunderbare Wiederkehr des Lachens“ feiert das letzte Kapitel. Es findet in der Pause statt.
Über die Seitenlinien der Albernheit und Obszönität wird in der Doppelstunde „Chemie – Leibesübungen“ das Update von Goethes „Wahlverwandtschaften“ auf dem Tennisplatz getrieben, der schwarze Humor entführt Madame de Merteuil und den Vicomte de Valmont den „Liaisons dangereuses“, verwickelt sie in ein Zeugungsgeschäft, verwandelt die Briefschreiber in E-Mail-Korrespondenten („hotmail.com“) und schickt sie zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt nach New York.
Das Zeugen und das Verschwinden haben aber nicht nur frivole Züge. Mantegnas Bild der Madonna, die ihre Hand schützend auf das eingewickelte Kind mit den seltsam alten Gesichtszügen legt, ist, während es von der Wand stürzt, Teil eines Wortspiels, wird aber zugleich durch sorgfältige Beschreibung zu einer Ikone der Angst vor der Kinderlosigkeit.
Schon in der ersten Geschichte, einer Dorfgeschichte, trägt zwar die Hauptfigur „Woist Mama“ einen resolut kalauernden Namen („Wo ist Mama?“), zugleich aber erinnert hier das Verschwinden an die Deportationen der ungarischen Juden 1944. Zum irritierenden modischen Accessoire verfremdet, geistert der gelbe Stern durch die Abendschule. Zu ihrem Hinterland gehört die Welt von Imre Kertész’ „Roman eines Schicksallosen“. Sie ist hier so vertrackt anwesend und abwesend zugleich wie in Géza Ottliks „Schule an der Grenze“ die niedergeschlagene Revolution von 1956.
„An den Wassern Borneos saßen wir. Wir saßen da und saßen, und auf einmal fanden wir einen Text im Wasser.“ So beginnt unter dem Titel „Nachtzoo“ im Spiel mit den „Rivers of Babylon“ ein Höhepunkt des Buches, die Schilderung eine verbotenen Liebesbegegnung zwischen zwei Frauen: „Am meisten sehnte ich mich danach, hinter deinem Ohr, an der Halsbeuge zu riechen. Was ich dort fand, gab mir das Gefühl, ich könnte mit Leichtigkeit das Genick einer Wildkatze mit bloßen Händen brechen.“
In Schlingpflanzensätzen oder Litaneien ziehen Tiere, Gedanken und Schreckensträume durch die von Agnes Ejerpesi sparsam bebilderte und mit einem wunderschönen Umschlag versehene Fibel, oft sprunghaft, von einem Wortklang oder Einfall vom Weg abgeführt, unterbrochen von englischen Formeln, Bibelzitaten oder Lehrerfragen in Klammern, auf absurde Hausaufgaben zulaufend, der unberechenbaren „Strömungstechnik“ folgend, von der Péter Nádas im Nachwort spricht. Terézia Mora, die ungarischer Herkunft ist und ihre Romane auf Deutsch schreibt, hat das Ganze in ein quecksilbrig glänzendes, nie angestrengt wirkendes Deutsch übertragen.
Derzeit setzt in Ungarn die Regierung auf das Selbstbewusstsein der Volksgemeinschaft, verpflichtet die nationalen Mythen zum Staatsdienst und pocht auf ihre Souveränität. Da ist es gut, wenn, wie hier, die ungarische Literatur die Kontinente zusammenrückt, Géza Ottlik treu bleibt – und die Souveränität der Sprache entfaltet.
„Was ich dort fand, gab mir das
Gefühl, ich könnte das Genick
einer Wildkatze zerbrechen“
Zsófia Bán
Abendschule.
Fibel für Erwachsene
Mit einem Nachwort von Péter Nádas und Illustrationen von Agnes Ejerpesi. Aus dem Ungarischen von Terézia
Mora. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
239 Seiten, 22,95 Euro.
Aus dem ungarischen Abc der ästhetischen Moderne: „CH X“ (1939) von László Moholy-Nagy Foto: Private Collection, Annely Juda Fine Art, London, VG-Bildkunst, Bonn, 2012
„Wenn du wählen könntest, welchen deiner Lieblingsautoren würdest du gerne nicht treffen?“ Eine Aufgabe von Zsófia Bán Foto: Miklós Szüts
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geheimen
Schauer
des Glücks
Eine Souveränitätserklärung der Literatur:
Die „Abendschule“ der Zsófia Bán ist
eine unverschämte „Fibel für Erwachsene“
Von Lothar Müller
Von großem Reiz sind die Spielkarten mit Tierköpfen, Rümpfen und unteren Extremitäten, die man sich vom Zufall in die Hand geben lässt und zu Mischwesen zusammensetzt, bei denen ein Elefantenbauch in ein Flamingobein übergeht, ein Mäuseschnurrbart eine Tigerpranke dementiert oder Schuppen und Gefieder eines Tier, das es nicht gibt, um die Wette glänzen. Es werden dabei die Gattungsgrenzen durchlässig, und weit entfernte Weltgegenden rücken blitzartig zusammen. Vielleicht liegt es an der Biographie der ungarischen Autorin Zsófia Bán, dass in ihrem literarischen Debüt „Abendschule. Fibel für Erwachsene“, das nun auch auf Deutsch erschienen ist, die Kontinente nicht ganz fest verankert sind, die Schüler hin und wieder unter der Bank Zoo spielen und ihr selbst, wenn sie in das Meer ihrer Kindheit hinabtaucht, Kiemen wachsen. Bán ist 1957 in Rio de Janeiro geboren, in Brasilien und in Ungarn aufgewachsen, lehrt Amerikanistik in Budapest und schreibt Essays über die Fotografien im Werk des deutschen Autors W. G. Sebald, über Mode und Populärkultur in Amerika, über ungarische Ursprungsmythen, die sie nicht der politischen Rechten überlassen mag, etwa den Raubvogel Turul.
Auf Abendschulen gehen Leute, die Umwege gemacht haben und keine Kinder mehr sind. So ist das auch in dieser Fibel für Erwachsene, in der, wenn in Französisch die Reise von Gustave Flaubert und Maxime du Camp nach Ägypten durchgenommen wird, die Bordellbesuche nicht ausgespart sind. Man zögert aber, die Erzählerin den Erwachsenen zuzurechnen oder sie gar als Lehrerin aufzufassen. Sie geht selber in die Schule, deren Fächerkanon sie lässig aufblättert.
Am Schnittpunkt der Fächer „Gesundheitsunterricht“ und „Heimatkunde“ verwandelt das Kapitel „Die zwei Fridas“ das Bild der Malerin Frida Kahlo, dessen Titel es trägt, in ein Stück surreale Prosa. Debütantinnen müssen nicht jung sein. Zsófia Bán ist alt genug, um noch Schuldirektoren aus der Kádár-Ära erlebt zu haben und diesen Erfahrungsstoff in den beiden Fridas, die ihre Herzen miteinander vernähen, zum lebenden Bild werden zu lassen.
Zu den Erinnerungen an Südamerika, die diese Abendschule durchziehen, gehört neben dem Duft des Weihrauchs in barocken Kirchen und dem „Dschungelgeruch des Sechsbindengürteltiers“ der „Geruch der zwischen geriffelte Paperback-Seiten gepressten sonderbaren Satzkonstruktionen sonderbarer Literatur“. Es gibt zur südamerikanischen literarischen Genealogie dieser Schule, in der nicht immer durchgenommen wird, was auf dem Stundenplan steht, ein ungarisches Gegenstück: den Roman „Die Schule an der Grenze“ von Géza Ottlik (1912-1990).
In diesem großen, 1959 erschienenen Roman durchdringen die Erinnerungen von Absolventen des Jahrgangs 1923 einer Militär-Unterrealschule und die Atmosphäre nach 1956 einander, ohne dass von der gescheiterten Revolution je erzählt würde. Hier findet man ein Loblied auf „die geheimen kleinen Schauer des Glücks“, auf ein Ungebundensein, das aus nichts anderem besteht als der „Möglichkeit, durch freies Wahrnehmen die Welt in Besitz zu nehmen“. Die „Schule an der Grenze“ wurde zu einer freien Schule der neueren ungarischen Literatur, für Péter Esterházy, der diesen Roman Anfang der 1980er Jahre auf einem Zeichenblatt mit Filzstift abschrieb, bis er zum schwarzen Bild geworden war, wie für Péter Nádas, der zu Beginn seiner Laufbahn für die Schublade schrieb.
In der unscheinbaren Formel „freies Wahrnehmen“ steckte die Souveränitätserklärung einer literarischen Sprache, mit der kein Staat zu machen war. Nicht nur in dem Kapitel, in dem Zsófia Bán ihre Ahnengalerie ungarischer Autoren und Motive aus ihren Werken aufruft und mit eigenen Erfahrungen verknüpft, gibt sie sich als Schülerin von Géza Ottlik zu erkennen. Für ihre gesamte Abendschule gilt die Einsicht, aus der die „Schule an der Grenze“ hervorgegangen ist: dass der tiefe Ernst und der frivole Unernst in der Literatur nicht Gegensätze sind, sondern unzertrennliche Geschwister. „Die wunderbare Wiederkehr des Lachens“ feiert das letzte Kapitel. Es findet in der Pause statt.
Über die Seitenlinien der Albernheit und Obszönität wird in der Doppelstunde „Chemie – Leibesübungen“ das Update von Goethes „Wahlverwandtschaften“ auf dem Tennisplatz getrieben, der schwarze Humor entführt Madame de Merteuil und den Vicomte de Valmont den „Liaisons dangereuses“, verwickelt sie in ein Zeugungsgeschäft, verwandelt die Briefschreiber in E-Mail-Korrespondenten („hotmail.com“) und schickt sie zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt nach New York.
Das Zeugen und das Verschwinden haben aber nicht nur frivole Züge. Mantegnas Bild der Madonna, die ihre Hand schützend auf das eingewickelte Kind mit den seltsam alten Gesichtszügen legt, ist, während es von der Wand stürzt, Teil eines Wortspiels, wird aber zugleich durch sorgfältige Beschreibung zu einer Ikone der Angst vor der Kinderlosigkeit.
Schon in der ersten Geschichte, einer Dorfgeschichte, trägt zwar die Hauptfigur „Woist Mama“ einen resolut kalauernden Namen („Wo ist Mama?“), zugleich aber erinnert hier das Verschwinden an die Deportationen der ungarischen Juden 1944. Zum irritierenden modischen Accessoire verfremdet, geistert der gelbe Stern durch die Abendschule. Zu ihrem Hinterland gehört die Welt von Imre Kertész’ „Roman eines Schicksallosen“. Sie ist hier so vertrackt anwesend und abwesend zugleich wie in Géza Ottliks „Schule an der Grenze“ die niedergeschlagene Revolution von 1956.
„An den Wassern Borneos saßen wir. Wir saßen da und saßen, und auf einmal fanden wir einen Text im Wasser.“ So beginnt unter dem Titel „Nachtzoo“ im Spiel mit den „Rivers of Babylon“ ein Höhepunkt des Buches, die Schilderung eine verbotenen Liebesbegegnung zwischen zwei Frauen: „Am meisten sehnte ich mich danach, hinter deinem Ohr, an der Halsbeuge zu riechen. Was ich dort fand, gab mir das Gefühl, ich könnte mit Leichtigkeit das Genick einer Wildkatze mit bloßen Händen brechen.“
In Schlingpflanzensätzen oder Litaneien ziehen Tiere, Gedanken und Schreckensträume durch die von Agnes Ejerpesi sparsam bebilderte und mit einem wunderschönen Umschlag versehene Fibel, oft sprunghaft, von einem Wortklang oder Einfall vom Weg abgeführt, unterbrochen von englischen Formeln, Bibelzitaten oder Lehrerfragen in Klammern, auf absurde Hausaufgaben zulaufend, der unberechenbaren „Strömungstechnik“ folgend, von der Péter Nádas im Nachwort spricht. Terézia Mora, die ungarischer Herkunft ist und ihre Romane auf Deutsch schreibt, hat das Ganze in ein quecksilbrig glänzendes, nie angestrengt wirkendes Deutsch übertragen.
Derzeit setzt in Ungarn die Regierung auf das Selbstbewusstsein der Volksgemeinschaft, verpflichtet die nationalen Mythen zum Staatsdienst und pocht auf ihre Souveränität. Da ist es gut, wenn, wie hier, die ungarische Literatur die Kontinente zusammenrückt, Géza Ottlik treu bleibt – und die Souveränität der Sprache entfaltet.
„Was ich dort fand, gab mir das
Gefühl, ich könnte das Genick
einer Wildkatze zerbrechen“
Zsófia Bán
Abendschule.
Fibel für Erwachsene
Mit einem Nachwort von Péter Nádas und Illustrationen von Agnes Ejerpesi. Aus dem Ungarischen von Terézia
Mora. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012.
239 Seiten, 22,95 Euro.
Aus dem ungarischen Abc der ästhetischen Moderne: „CH X“ (1939) von László Moholy-Nagy Foto: Private Collection, Annely Juda Fine Art, London, VG-Bildkunst, Bonn, 2012
„Wenn du wählen könntest, welchen deiner Lieblingsautoren würdest du gerne nicht treffen?“ Eine Aufgabe von Zsófia Bán Foto: Miklós Szüts
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Hoffen wir, dass der in Budapest lebenden Autorin mehr Worte zur Verfügung stehen als der Rezensentin. Denn dass ein Buch "ungewöhnlich", "überraschend" und "blitzgescheit" ist, ist doch das Mindeste. Wozu es sonst aufschlagen. Ilma Rakusa aber steigert sich zur Lobeshymne auf ein so spätes wie "kühnes" Debüt, das Zsofia Ban enzyklopädisch angelegt und dann fantasievoll variiert hat, wie wir erfahren. So wandelt sich etwa Fidelio zur Blog-Oper. Literarischer Mehrwert und Erkenntnis sind das Resultat. Für Rakusa hat zumindest die ungarische Literatur nichts Vergleichbares zu bieten.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.08.2012Im Nachtzoo
Zsófia Bán feiert die Wiederkehr des Lachens
Eine "Fibel für Erwachsene" nennt Zsófia Bán ihr überraschend reifes und atmosphärisch dichtes Debüt, das von Terezia Mora in funkelndes Deutsch übertragen wurde. Der Stoff dieser listigen, tiefsinnigen und kapriolenreichen "Abendschule" reicht von Chemie bis Leibesübungen, von Französisch bis zur Pause - eine Philosophie der Gefühle und Berührungen, des Begehrens und der Hoffnung. Sie führt uns in "tiefe Vergnügungswälder", aus denen wir nicht mehr herausfinden, wie Péter Nádas in seinem liebevollen Nachwort schreibt.
Die Geschichten gleichen Expeditionsberichten, erzählen von Zwischenreichen und Grenzregionen und erkunden deren melancholischen Eigensinn. Sie spielen in New York und Borneo, auf dem Land und in einem Nachtzoo, im Urwald, im Schwimmbad und in einem Straflager (aus dem ein moderner "Fidelio" Spitzelberichte schickt). In der fulminanten Einstiegsgeschichte sucht ein verstörtes Dorf nach seiner Urmutter ("Wo ist Mama"), dann folgen wir dem liebeskranken Insektenforscher Henri Mouhot in den Urwald und beobachten eine sehr schräge, lesbische Liebesszene ("Nachtzoo"). Wie um ihren eigenen Bauchnabel kreisen die Kapitel um jene vor Spannung vibrierende Sekunde, in der Anziehungs- und Abstoßungskräfte zwischen den Körpern ausgeglichen scheinen und das Leben sich nackt zeigt, wie die Erzählerin zufrieden feststellt, die nur in solchen Moment "ich" sagt. Sie gesteht noch, dass sie eine Schwäche für aggressive Sujets hat, die sie immer wieder an der Kehle packen. Dann taucht sie unter und überlässt uns den skurril-bösen Lektionen von Frau Tenkes, die uns im Fach "Werken" immun machen will gegen Tsunamis, unausstehliche Ehemänner und die "Eisenkugel der Verzweiflung".
Mit Schweigen in Wittgensteinscher Manier, so das Credo der Autorin, kommen wir da nicht weiter, außerdem entginge uns das Vergnügen der spielerischen Mimesis. Also erfindet Zsófia Bán, die 1957 in Brasilien geboren, heute in Budapest als Kunstkritikerin und Literaturwissenschaftlerin lebt, nicht nur eine "aleatorische Geographie", sondern erklärt uns auch das Aufwühlende an den nicht stattgefundenen Begegnungen mit Attila József (mit dessen Preis ihr Buch in Ungarn ausgezeichnet wurde), Geza Ottlik und Péter Nádas, taucht in deren Bücher und Leben ein (wie zuvor in die Liebes-Leidensgeschichte von Matisse und der schönen Olympia) und endet mit einer Aufgabe, die von Péter Esterházy gestellt sein könnte: Welchen deiner Lieblingsautoren würdest du gern nicht treffen? Schreibe darüber einen Aufsatz!
Mit der "wunderbaren Wiederkehr des Lachens" entlässt sie uns aus ihrer märchenhaften und radikalen Abendschule, wir sind jetzt gegen alle Widrigkeiten des Lebens gefeit und haben sogar in die "streng geheime Innentasche der Wüstenspringmaus" schauen dürfen.
NICOLE HENNEBERG
Zsófia Bán: "Abendschule". Fibel für Erwachsene.
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 240 S., geb., 22,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zsófia Bán feiert die Wiederkehr des Lachens
Eine "Fibel für Erwachsene" nennt Zsófia Bán ihr überraschend reifes und atmosphärisch dichtes Debüt, das von Terezia Mora in funkelndes Deutsch übertragen wurde. Der Stoff dieser listigen, tiefsinnigen und kapriolenreichen "Abendschule" reicht von Chemie bis Leibesübungen, von Französisch bis zur Pause - eine Philosophie der Gefühle und Berührungen, des Begehrens und der Hoffnung. Sie führt uns in "tiefe Vergnügungswälder", aus denen wir nicht mehr herausfinden, wie Péter Nádas in seinem liebevollen Nachwort schreibt.
Die Geschichten gleichen Expeditionsberichten, erzählen von Zwischenreichen und Grenzregionen und erkunden deren melancholischen Eigensinn. Sie spielen in New York und Borneo, auf dem Land und in einem Nachtzoo, im Urwald, im Schwimmbad und in einem Straflager (aus dem ein moderner "Fidelio" Spitzelberichte schickt). In der fulminanten Einstiegsgeschichte sucht ein verstörtes Dorf nach seiner Urmutter ("Wo ist Mama"), dann folgen wir dem liebeskranken Insektenforscher Henri Mouhot in den Urwald und beobachten eine sehr schräge, lesbische Liebesszene ("Nachtzoo"). Wie um ihren eigenen Bauchnabel kreisen die Kapitel um jene vor Spannung vibrierende Sekunde, in der Anziehungs- und Abstoßungskräfte zwischen den Körpern ausgeglichen scheinen und das Leben sich nackt zeigt, wie die Erzählerin zufrieden feststellt, die nur in solchen Moment "ich" sagt. Sie gesteht noch, dass sie eine Schwäche für aggressive Sujets hat, die sie immer wieder an der Kehle packen. Dann taucht sie unter und überlässt uns den skurril-bösen Lektionen von Frau Tenkes, die uns im Fach "Werken" immun machen will gegen Tsunamis, unausstehliche Ehemänner und die "Eisenkugel der Verzweiflung".
Mit Schweigen in Wittgensteinscher Manier, so das Credo der Autorin, kommen wir da nicht weiter, außerdem entginge uns das Vergnügen der spielerischen Mimesis. Also erfindet Zsófia Bán, die 1957 in Brasilien geboren, heute in Budapest als Kunstkritikerin und Literaturwissenschaftlerin lebt, nicht nur eine "aleatorische Geographie", sondern erklärt uns auch das Aufwühlende an den nicht stattgefundenen Begegnungen mit Attila József (mit dessen Preis ihr Buch in Ungarn ausgezeichnet wurde), Geza Ottlik und Péter Nádas, taucht in deren Bücher und Leben ein (wie zuvor in die Liebes-Leidensgeschichte von Matisse und der schönen Olympia) und endet mit einer Aufgabe, die von Péter Esterházy gestellt sein könnte: Welchen deiner Lieblingsautoren würdest du gern nicht treffen? Schreibe darüber einen Aufsatz!
Mit der "wunderbaren Wiederkehr des Lachens" entlässt sie uns aus ihrer märchenhaften und radikalen Abendschule, wir sind jetzt gegen alle Widrigkeiten des Lebens gefeit und haben sogar in die "streng geheime Innentasche der Wüstenspringmaus" schauen dürfen.
NICOLE HENNEBERG
Zsófia Bán: "Abendschule". Fibel für Erwachsene.
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 240 S., geb., 22,95 [Euro].
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