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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Bericht aus einer Todesfabrik nach sowjetischem Plan: Die litauische Ärztin Dalia Grinkeviciute dokumentiert, wie sie ein Straflager im Polarwinter überlebte
Dalia Grinkeviciute ist vierzehn Jahre alt, als sie gemeinsam mit den Eltern verhaftet und zum Bahnhof ihrer Heimatstadt Kaunas gebracht wird. Es ist der 14. Juni 1941, im Sommer davor war die Rote Armee in Litauen einmarschiert; wenige Tage nach der Verhaftung überfällt Deutschland die Sowjetunion, zu der nun auch Litauen gehört. Doch diesen Krieg nimmt das Mädchen nur als fernes Grollen wahr, als Gerücht, das durch die Viehwaggons geistert, in denen sie mit Tausenden Litauern in den hohen Norden deportiert wird.
Die Aktion ist der Enthauptungsschlag gegen die nationale Intelligenz, gegen Professoren, Künstler, Juristen, Politiker, Lehrer, Ärzte und deren Familien. Die Elite des Landes, die als Hort des Widerstandes gegen die Okkupation gilt, soll vernichtet werden - ein Muster, das sich in allen sowjetisch okkupierten Ländern wiederholt. Dalia Grinkeviciute schreibt Jahre später im Untergrund ihre Erinnerungen an die Zeit der Verbannung auf, vergräbt die Aufzeichnungen im Garten und wird wenig später wieder verhaftet und noch einmal vier Jahre nach Sibirien deportiert.
Dass sie überlebt, ist ein Wunder, dass sie danach studieren darf, eines der irrationalen Rätsel sowjetischer Prägung. Sie wird Ärztin, lässt jedoch Demut und Gehorsam vermissen, was zum Berufsverbot führt. Weil das Manuskript verschwunden ist (es wird erst 1991 wiedergefunden), schreibt sie es noch einmal. Diese Version wird im Samisdat verbreitet, gelangt so auch in die Vereinigten Staaten, wo sie 1976 unter dem Titel "Frozen Inferno" erscheint. Grinkeviciutes sprachmächtiger Bericht aus der eisigen tödlichen Lagerwelt hinter dem Polarkreis befindet sich heute im Nationalmuseum von Vilnius, er gehört zu den kanonischen Texten der litauischen Literatur.
Anfangs noch ungläubig beschreibt sie eine Höllenfahrt, die Wochen dauert. Auf den Bahnhöfen unterwegs stehen sie zuweilen neben langen Zügen mit Deportierten aus Riga, aus Tallinn, aus dem ganzen von Stalins Armee besetzten Baltikum. Nach wenigen, qualvollen Wochen in den überfüllten Viehwaggons ist aus Dalia Grinkeviciute "Nr. 17 aus dem Waggon Nr. 19" geworden; eine Sklavin, wie sie ahnt, obwohl sie sich nicht vorstellen kann, was sie und die anderen Deportierten, sofern sie die Reise überleben, noch erwartet. Lakonisch porträtiert sie ihre verzweifelten Gefährten.
Jene, die sich vergangener Bedeutung zuweilen mit tragikomischen Ritualen zu vergewissern versuchen, immer in bester, korrekter Kleidung; sie beschreibt die Stolzen, die sich der Unterwerfung verweigern, und Mütter, die den Verstand verlieren, wenn sie ihre Kinder sterben sehen. Sie trifft höfliche Finnen, freundliche Ukrainer und harte Kosaken - Letztere selbst am eisigen Endpunkt der Reise noch wohlgenährt. Immer wieder kommen Gerüchte auf, es gehe in Wahrheit an die Küste, wo schon amerikanische Dampfboote warteten, um sie ins gelobte Land der Freiheit zu bringen. Das Mädchen glaubt es nicht, erzählt mit trockenem Witz von diesen Phantasien, die, wie sie erstaunlich lebensklug erkennt, zumindest die letzten Reserven von Optimismus mobilisieren. "Die jungen Leute fühlen sich wie auf einem Ausflug, wie in den Ferien."
Am Ufer der Lena wartet schließlich nur das Dampfschiff "Nadeschda Krupskaja", das einen Monat den gewaltigen Fluss hinauf bis ins Delta fährt. Gehalten wird nur, wenn Leichen ans Ufer gebracht werden müssen. Die Reise endet kurz vor dem Polarmeer, man setzt vierhundertfünfzig Menschen auf einer Insel im Delta aus, in der Tundra, im Nichts. Den ersten Polarwinter überleben die wenigsten. Man befiehlt ihnen, mit ein paar Ziegeln und Holz, das sie aus dem eisigen Fluss bergen müssen, ein Lager zu errichten, die "Todesfabrik von Trofimowsk".
Der Polarwinter, die ewige Nacht beginnt. Die ersten Toten bringt man noch auf einen Hügel hinter den provisorischen Baracken, beerdigt sie irgendwie. "Damals waren es noch wenige Tote, zwei, drei am Tag." Es werden immer mehr, und die Schneemassen und grauenhaften Stürme erlauben es nur noch, sie vor die Tür zu schaffen: "Leichenstapel wie Holzhaufen." Sie verrichten mörderische, dabei völlig nutzlose Arbeit, leiden Hunger, auch weil sich Aufseher und Opportunisten bereichern. Es sind apokalyptische Szenen der Erniedrigung, der Verzweiflung und Einsamkeit, die Grinkeviciute in ihrem Bericht kühl und präzise notiert. Wenn sie aufatmet, das Bezeugen unterbricht, schildert sie die erhabene, grenzenlose Landschaft, in der das geschieht, "grausam und weit wie der Ozean".
"In unserer Eishöhle bin ich mit Wesen zusammen, die früher einmal Menschen waren (...), sie wurden am 14. Juni vernichtet und liegen jetzt als halbtote Gestalten in Baracke Nr. 13." Dalia Grinkeviciute entwickelt für ihren Bericht von der Auslöschung der Menschlichkeit nach sowjetischem Plan eine ungeheure Sprachkraft, der man sich nicht entziehen kann.
Sie stemmt sich gegen diesen Plan mit List, Ironie und Subversion, was eine neue Solidarität entstehen lässt, die unvorstellbare Überlebenskräfte freizusetzen vermag. Es ist keine pathetische Heldengeschichte, eher eine der fortwährenden Empörung und Selbstbehauptung, ein literarisches Dokument, wie es nur wenige gibt. Und ein Zeugnis für Europas immer noch geteilte Erinnerung an Staatsterror und Krieg, die sich auch im heutigen Verhältnis vieler zu Russland zeigt.
REGINA MÖNCH.
Dalia Grinkeviciute: "Aber der Himmel - grandios". Aus dem Litauischen von Vytene Muschick.
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2014. 206 S., geb., 19,90 [Euro].
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