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An der Grenzlinie zwischen Leben und Tod: H. Christof Müller-Busch hat ein empfehlenswertes Buch über Palliativmedizin und die Ethik des Sterbens geschrieben
Das deutsche Gesundheitswesen nimmt international schon lange keine führende Rolle mehr ein. Der frühere Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), H. Christof Müller-Busch, erläutert in seinem Buch "Abschied braucht Zeit", dass Deutschland auf dem Gebiet der Palliativmedizin sogar ein Entwicklungsland ist. Es ist aber dennoch mehr als ein Sterberatgeber für Laien und Angehörige. Es stellt auf knapp dreihundert Seiten die gesamte Erfahrung eines durch und durch humanistisch geprägten Arztes dar, immer wieder unterfüttert mit einer Vielzahl von Verweisen auf seine Leitfiguren aus medizinischer und philosophischer Literatur. Es ist die Bilanz eines sowohl schulmedizinisch als auch anthroposophisch geprägten Pioniers der noch jungen deutschen Palliativmedizin.
Müller-Busch versteht es, in komprimierter Form faktenreich auch dem Laien die ernste Thematik näherzubringen. Warum begann in Deutschland die Entwicklung einer Palliativversorgung mit erheblicher Verzögerung? 1967 gründet Cicely Saunders das St. Christopher's Hospice in London. Die Versuche in Deutschland, etwas Ähnliches aufzubauen, stießen damals, erklärt Müller-Busch, auf rigorose Ablehnung durch die großen christlichen Kirchen mit dem Argument, dass durch spezielle Sterbehäuser das Sterben nicht menschlicher, sondern unmenschlicher gemacht würde.
Hospizarbeit und Palliative Care sind Begriffe, die mittlerweile aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken sind. Nach den Schwierigkeiten der Anfangsjahre hat sich bis heute dank des Bürgerengagements für die hospizliche und palliative Versorgung ein grundlegender Strukturwandel vollzogen. Achtzigtausend ehrenamtliche Mitglieder im Deutschen Hospiz- und Palliativ-Verband (DHPV) und siebentausend Ärzte mit der Zusatzqualifikation Palliativmedizin sind in der wissenschaftlichen Fachgesellschaft DGP organisiert.
Es geht um die Verbesserung der Lebensqualität von Betroffenen und deren Angehörigen mit der Vorbeugung und der Linderung von Leiden körperlicher, psychischer, sozialer und spiritueller Art. Zitate von Cicely Saunders werden von Müller-Busch gern eingestreut: "Es gibt Zeiten, in denen es im Interesse der Gesundheit liegt zu sterben. Es ist nicht gesund, das Sterben hinauszuziehen. Du zählst, weil Du bist. Und Du wirst bis zum letzten Augenblick Deines Lebens eine Bedeutung haben." Der Autor veranschaulicht die Widersprüche zwischen der Intensivmedizin und der palliativen Versorgung. Etwa fünftausend Patienten werden in Deutschland künstlich und andauernd intensivmedizinisch und intensivpflegerisch betreut. Müller-Busch konstatiert dabei ein abnehmendes Interesse am Leichnam - jedoch erlange der Sterbende eine funktionelle und ökonomische Bedeutung, wenn zum Beispiel Organe gebraucht werden. Dies auch als Antwort der Kliniken auf das politisch gewollte und angestrebte Sterben von noch Hunderten Krankenhäusern.
Eine gute, ethisch begründbare Medizin beginnt stets mit der bestmöglichen Diagnostik. Die Selbstverständlichkeit, mit der Tötung als eine ärztliche Aufgabe angesehen wird, erstaunt Müller-Busch. Nicht zuletzt hat der Deutsche Ärztetag 2011 beschlossen, dass Ärzte keine Hilfe zur Selbsttötung leisten dürfen. Freilich gesteht der Autor ein, dass es schwierig ist, die Dauer des Sterbens und besonders beim Hirntod den Zeitpunkt des Sterbens zu prognostizieren. Er zitiert Hans Jonas: "Die Grenzlinie zwischen Leben und Tod ist nicht mit Sicherheit bekannt und eine Definition kann Wissen nicht ersetzen." Mit der Einführung der Patientenverfügung erlangen ärztliche Indikation und Prognose eine weitergehende Bedeutung. Erinnert sei daran, dass die ärztliche Indikation kein fachliches Urteil, sondern ein auf Fachwissen basierendes Werturteil darstellt und ethisch zu begründen ist. Patientenverfügungen sollten nicht zu Sprachlosigkeit oder gar kompletter Vernachlässigung von Patienten führen.
Müller-Busch erinnert an die Triebkraft nach Selbsterhaltung, die der biologischen Tendenz zur Selbstelimination entgegenwirkt: ein Grund für Heimleitungen, ihre Bewohner über eine Magensonde (PEG) zu ernähren. Ökonomische Interessen von Heimen, verunsicherte Angehörige, Patientenverfügungen oder der mutmaßliche Wille des Betroffenen können im Streitfall zur Anrufung des Betreuungsgerichtes führen.
Bei der Schmerzbehandlung sieht der Autor gesellschaftliche Defizite. Die Opiatdosierung auch in hohen Dosen wegen Schmerzen und zur Linderung quälender Atemnot mit einer Verkürzung des Sterbeprozesses als Nebenfolge könne moralisch in Kauf genommen werden. Müller-Busch betont, dass dies jedoch bei angemessener Behandlung eher nicht erforderlich ist. Ausführlich widmet er sich der Scham am Lebensende, wenn Normen, die die eigene Identität und Integrität schützen, verletzt werden. Das Angewiesensein auf Hilfe mit Preisgabe von Intimität äußert sich dann in Angst, Aggression, Verzweiflung und Wut. Suizidgedanken auch auf Palliativstationen sind zu neunzig Prozent Ausdruck einer Depression. Bei antizipierender Trauer freut sich der Patient über Kleinigkeiten. Bei Depressiven hat Freude keinen Platz. Medikamente und Psychotherapie sollten das Selbstwertgefühl stärken.
Im Bühnenstück "Die Befristeten" von Elias Canetti geht es um den Tod nicht nur als biologisches, sondern als soziales Phänomen. Die Abwehr des Todes ist eine Lebensaufgabe, eine "beständige Obsession". Fragt der Patient in der Bedrohungssituation nach dem Sinn des Lebens, antwortet ihm Müller-Busch mit dem Arzt und Philosophen Linus Geisler: "Der Mensch sollte nicht danach fragen, sondern begreifen, dass er es ist, der gefragt wird. Dem Leben kann er nur antworten, indem er sich verantwortlich verhält."
ULRICH BONK
H. Christof Müller-Busch: "Abschied braucht Zeit - Palliativmedizin und Ethik des Sterbens".
Hrsg. von Bernd Hontschick. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012. 295 S., br., 10,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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