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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Tom Kristensens Roman "Absturz"
Wie geht es zu in einer richtig großen Literaturredaktion einer richtig großen Tageszeitung? Welche Einflüsse können den Chef dieser Redaktion stürzen lassen, und was passiert, wenn die bürgerliche Wohnung dieses Chefs in einem nicht allerersten Viertel Kopenhagens im Namen der Freundschaft von dem Redakteur (und auch der Polizei!) lose bekannten Kommunisten besetzt wird, die weder vor Bier- noch vor Whisky- oder Portweinvorräten halt- und der Frau des Hauses etwas dümmlich-schöne Augen machen?
Der Protagonist dieser Geschichte ist Ole Jastrau, ist bei der erwähnten Tageszeitung beschäftigt und im seinerzeit - wir schreiben die Zwanzigerjahre - besonders branchenüblichen Spagat zwischen Schriftsteller-sein-Wollen und Redakteur-sein-Müssen gut ausgewiesen. Es geht weiterhin um übliche Intrigen: Wessen Gedichte werden gedruckt, wer hat den kürzesten Draht zum Chefredakteur, welche Zeitungsschreiber können sich durchsetzen?
Der 1974 gestorbene dänische Autor Tom Kristensen hat mit "Absturz" einen Großstadtroman geschrieben, in dem man vermutlich viel Autobiographisches entdecken könnte. Aber wer will sich schon mit den Figuren im Umfeld der Kulturredaktion der heute noch maßgeblichen Tageszeitung "Politiken" in den Zwanzigerjahren der nordeuropäischen Metropole Kopenhagen beschäftigen? Und dann Bezüge zu einem dortigen Literaturredakteur namens Tom Kristensen herstellen?
Dieser Roman, nun zum zweiten Mal ins Deutsche übersetzt, ist die großartige Wiederentdeckung einer nordeuropäischen Milieustudie. Die erste Übersetzung schuf Gisela Perlet 1990; das Buch erschien in der noch gerade so eben DDR im Verlag Volk und Welt unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit. Über das Bürgertum, das in den Zwanzigern des vorigen Jahrhunderts endgültig den Boden unter den Füßen weggezogen bekam, ist schon zu viel geschrieben worden, als dass es noch Kenntnisnachschub mit fiktionalen Mitteln bedürfte. Doch ist die Milieustudie vor allem eines: die Anatomie eines umfassenden Besäufnisses.
Jastrau landet so ganz allmählich in dem Rinnstein, deren in ihm liegende Figuren er zu Beginn des Romans noch mitleidvoll grüßte, ihnen teilweise half. Der Roman nimmt ziemliches Tempo auf, um die Wanderungen und Promenaden zwischen Jastraus Wohnung, der Redaktion, der Bar mit dem schwedischen Barkeeper Lundbom, den Quartieren Kopenhagens (einschließlich der Ausnüchterungszelle der Polizei) mit einer ebenso minutiösen wie vollendet lässigen Sprachbeherrschung abzubilden.
Alkohol ist in der erzählten Zeit noch ein richtig großes Thema in den nordischen Ländern. Kein Vergleich mit dem heute durch die EU bewirkten und inzwischen fast sanktionsfreien Umgang mit alkoholischen Getränken. Wobei Dänemark immer schon als diesbezüglich leichtlebiger galt.
Eigentlich geht es im Roman um alle Facetten final gemeinten Saufens. Selbsterniedrigung ist ebenso stetiges Thema wie Hochstimmungsanwandlungen aller Art; die Zerstörung sozialer Strukturen wie Jastraus Ehe mit Johanne macht die Sache nicht besser. Doch wird man so schnell keinen anderen Roman finden, der das Funktionieren solchen Alkoholismus in einer (noch) bürgerlichen Gesellschaft derart fiktional bewältigt. Die mit einer solchen Übung verbundenen sprachlichen Anforderungen sind hoch; die Übersetzung von Ulrich Sonnenberg wird allen Sprach- und Sprechvarianten, die mit diesem Anspruch des Autors an sein Werk verbunden sind, im höchstmöglichen Maße gerecht.
Kein Geringerer als Knut Hamsun sprach über Kristensens "Hærværk" (so der Originaltitel) in sehr hohem Ton. Es handele sich um ein "Riesenwerk" und um einen "Geniestreich". Er wird bei der Lektüre an seinen Roman "Hunger" von 1890 vielleicht gedacht haben, mit dem der spätere Nobelpreisträger (und, Gott sei's geklagt, Hitler-Bewunderer) seinen literarischen Durchbruch schaffte. Jedenfalls gäbe es genug Parallelstrukturen zwischen diesen beiden Büchern zu bestaunen. Gut, dass diese Ausgabe von "Absturz" jetzt vorliegt. STEPHAN OPITZ
Tom Kristensen: "Absturz". Roman.
Aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg. Nachwort von Sebastian Guggolz. Guggolz Verlag, Berlin 2023. 655 S., geb., 28,- Euro.
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